Von „listigen Handlungen“
bis zu „neuen Strategien“

Rezension des Buches „1982-2012: Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest“

von Anne Seeck

06-2013

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Das Buch gliedert sich in fünf Teile. Es beginnt mit einleitenden Artikeln von Harald Rein und Mag Wompel, bietet dann den Überblick „Erwerbslose und SozialhilfebezieherInnen agieren – die Achtziger Jahre bis heute“, dem folgen „Neue Strategien“ und „Erwerbslosenproteste in der Schweiz und Österreich“. Das Buch endet mit einem Ausblick von Harald Rein.

Wie steht es nun um die Erwerbslosenbewegung? Die wichtigste Ressource subalterner Gruppen sei die „Störung der institutionellen Ordnung“, so Rein. In der Geschichte konnten damit Erfolge erzielt werden, die Möglichkeiten der institutionellen Erschütterung spiele zur Zeit bei der Mehrheit der Erwerbslosen keine Rolle. Nur in Einzelfällen werde der Normalbetrieb der Jobcenter beeinträchtigt. Auch die zentralen Forderungen von Erwerbsloseninitiativen wurden nicht erfüllt. Bei der individuellen Durchsetzung von Rechtsansprüchen konnte einiges erreicht werden. Da in Oldenburg zum Beispiel eine Schulbeihilfe erkämpft wurde, fordern Gewerkschafter im Buch eine „Kommunalisierung von Konflikten“, weil so die Durchsetzungschancen günstiger seien.

In seinem interessanten Artikel „Möglichkeiten des Protestes armer Leute“ schreibt Harald Rein, die zentrale Aufgabe der Behörden sei das „permanente in Bewegung (...) halten der Erwerbslosen durch unsinnige Trainingsmaßnahmen, Weiterbildungen, Coachings, Profilings, Eingliederungsseminaren, Bewerbungstrainees usw. mit dem Ziel in irgendeine Erwerbsarbeit zu vermitteln. Niemand soll über seine Zeit verfügen können, es sollen keine Freiräume entstehen.“

Aber es gäbe die FreiraumschafferInnen, sie nutzen den Freiraum zum Nachdenken und zur Realisierung anderer Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten. Sie seien politisch aktiv oder gingen anderen nützlichen Tätigkeiten nach. Erwerbslose sind in der Tat an vielen Aktivitäten der sozialen Bewegungen beteiligt, sei es bei Occupy, Stuttgart 21 oder gegen die Castortransporte. Das können sie, weil neben dem politischen Bewusstsein auch eine minimale materielle Versorgung und der Zeitfaktor für einen andauernden Kampf vorhanden sind. Hartz IV sei ein Angriff auf die Zeitsouveränität der Erwerbslosen. Aber auch Erwerbslose, die nicht politisch aktiv sind, wehren sich – meistens individuell. Zum Teil mit „listigen Handlungen“. Sie sind individuelle Leistungsverweigerer, die sich selbstbewusst im rechtlichen Kleinkrieg auskennen. Diese sozialen AlltagskämpferInnen tauchen in keinem offiziellen Geschichtsbuch auf.

Für Mag Wompel ist dieser „Alltagswiderstand“ wichtiger als Großdemonstrationen, obwohl die Demo „von unten“ am 1. November 2003 ein Erfolg war. Bestimmte Einstellungen, die bei den Montagsdemos deutlich wurden, sieht sie durchaus kritisch: „Denn die bei vielen Montagsdemos verbreitete Kritik an Hartz IV, nach Jahrzehnten des Buckelns und nach nur 12 bzw. 18 Monaten auf das Sozialhilfeniveau zu fallen, bezeugt ein für Spaltungen und Sozialneid anfälliges Gerechtigkeitsverständnis. (...)Als die größte Klippe für wirksame einheitliche Proteste und den Widerstand gegen die Hartz-Gesetze hat sich die breite Akzeptanz des Leistungsprinzips und der Lohnabhängigkeit als einziger Quelle der Existenzsicherung erwiesen.“

Michael Bättig schreibt über die Geschichte der ALSO in Oldenburg, teilt diese je nach historischem Hintergrund in verschiedene Phasen ein. In seinem Beitrag wird deutlich, warum viele unabhängige Erwerbsloseninitiativen aus den 80er Jahren nicht mehr existieren. Entweder haben sie keine „Staatsknete“ angenommen und sind eingegangen, oder sie haben sich mittels Professionalisierung in Beschäftigungsprojekte umgewandelt. Auch die ALSO hat Landes- und städtische Mittel bekommen, ist aber trotzdem eine politische Initiative geblieben. Ein seltener Fall. Interessant ist auch Bättigs Fazit. Es zeigt auf, warum es gerade im Vergleich zu den 80er Jahren zurzeit keine Erwerbslosenbewegung gibt. Viele Erwerbslose von damals sind heute in Beschäftigung. Das hat zwei Gründe.

Zum einen ist die Parole „Arbeitslosigkeit als Chance“ in den Lebensbiografien brüchiger geworden. „Der Rechtfertigungsdruck auch innerhalb der eigenen Familien, Bekannten- und Verwandtenkreise (…) zusammen mit den regelmäßig wiederkehrenden staatlich inszenierten Hetzkampagnen gegen Erwerbslose als Sozialschmarotzer, die selbst Schuld an ihrem Schicksal hätten, verfehlen nicht ihre Wirkung.“

Zum anderen haben sich die Arbeitsverhältnisse gewandelt. Die Kritik der sozialpolitischen Bewegungen der 1970er und 1980er Jahre zum Beispiel an staatlicher Bürokratie und der Vermassung segelte mit dem Rückenwind der gesellschaftlichen Umstrukturierungen, die für eine neue Phase der Kapitalverwertung notwendig waren. „Individualität, Eigenverantwortung, Kreativität, Zeitsouveränität, Teamgeist und Subsidiarität in den autonomen Zusammenhängen der Sozialbewegungen sind auch die Eigenschaften, die von den neuen Leistungsträgern des Neoliberalismus verlangt werden – freilich noch ergänzt durch Egoismus, Rücksichtslosigkeit und extreme Aufopferungsbereitschaft.(...) Viele der neu entstehenden Arbeitsverhältnisse waren dabei durchaus mit positiven Erwartungen und Erfahrungen besetzt: Flexibilität und Mobilität, eine freiere und den individuellen Bedürfnissen gerechtere Zeiteinteilung, neue Formen der Selbständigkeit und Kreativität, Abwechslung und Herausforderung statt Monotonie und Langeweile. Der Ideologie der Vollbeschäftigung mit ihren lebenslangen Arbeitsplätzen, den starren Zuordnungen, der trügerischen sozialen Sicherheit wurden nicht viele Tränen nachgeweint.“ Der Haken an diesen Arbeitsverhältnissen sei die Prekarisierung, „aber diese eigene soziale Situation, die Prekarisierung des eigenen Lebens ist noch kaum Gegenstand des politischen Eingreifens“.

Dazu passt auch, dass die Gewerkschafter in dem Buch dafür plädieren, das Hartz-IV-System als Prekaritätssystem zu begreifen, denn viele Hartz-BezieherInnen sind erwerbstätig bzw. ehrenamtlich engagiert. „Raus aus dem Ghetto – die Betroffenenperspektive erweitern“, heißt es da.

Schade nur, dass in dem Buch der phantasievolle Protest von Erwerbslosen zu kurz kommt. Es fehlen die autonomen Erwerbslosen- und Jobbergruppen, wie die Schwarze Katze, die Glücklichen Arbeitslosen, die Zahltage, die militante Untersuchung am Jobcenter Neukölln etc. Dafür finden sich in dem Buch einige unkritische Selbstdarstellungstexte. Auch die Textpassagen über die „neuen Strategien“, d.h. das 30-jährige Existenzgeld und die Zusammenarbeit der ALSO mit der Ökologiebewegung, fallen etwas dürftig aus. Trotz dieser Defizite lohnt sich die Lektüre allemal.


 

Harald Rein (Hg.)
1982-2012

Dreißig Jahre Erwerbslosenprotest

AG Spak 2012
262 Seiten I 22,00 €

 

Editorische Hinweise

Wir erhielten die Rezension von der Autorin.