Das
Vertrauen in die französische Atomindustrie macht nicht
eben gigantische Fortschritte. Pünktlich zum dreißigsten
Jahrestags der Tschernobyl-Havarie ergab eine Umfrage
für die Boulevardzeitung 20 minutes vom
25. April d.J., dass sieben von zehn Befragten eine
Reaktorkatastrophe auch in Frankreich für möglich
hielten. Drei Tage später war in der
Unternehmerzeitschrift L’Usine nouvelle
ein Interview mit Jean-Claude Delalonde zu lesen, dem
Vorsitzenden der „Nationalen Vereinigung örtlicher
Informationskomitees und –kommissionen“ ANCCLI, die
sich mit Fragen der Reaktorsicherheit beschäftigt.
Darin stand zu lesen: „Heute kann sich ein
Atomunfall ereignen, und wir können nicht wissen, wie
schwerwiegend er sein wird. Die Politiker von gestern
und von heute werden verantwortlich und schuldig dafür
sein, dass sie nichts unternommen haben.“
Atomkraft war lange Zeit
ein Tabuthema in Frankreich. Zu tief schien das Land in
der Abhängigkeit von einer Energiequelle zu stecken,
die ihm vermeintliche „Unabhängigkeit in der
Versorgung“ sicherte, also von der Ölerzeugerstaaten –
was aber nur auf Kosten Dritter ging. 75 Prozent der in
Frankreich erzeugten Elektrizität kommt heute aus
Atomstrom. Und knapp vierzig Prozent des im Lande
verbrannten Urans kommen aus Niger, das gleichzeitig
eines der drei ärmsten Staaten der Welt bleibt.
Doch
die Zeit des fraglosen Hinnahme dieser Politik ist
vorbei. Nicht nur bei den sozialen
Oppositionsbewegungen, die sich stärker als früher auch
der Kritik an der Atomkraft öffnen – am vorigen
Donnerstag, den 05.05.16 sprach etwa ein Redner aus
Niger auf der besetzten Pariser place de la
République zu den gravierenden Folgen des
Uranabbaus für die dort lebende Einwohnerschaft. Auch
die französische „Normalbevölkerung“ lehnt sich nicht
länger einfach zurück, wird das Thema Nuklearenergie
angesprochen. Erstmals sprachen sich bei einer Umfrage
des Instituts IFOP, die am 23. April 16 publiziert
wurde, knapp die Hälfte – 47 Prozent – der Teilnehmer
„für eine Abschaltung der Atomkraftwerke in Frankreich“
aus, die Frage war ohne präzise Zeitangabe gestellt
worden. Noch vor wenigen Jahren wäre ein solcher Anteil
eher undenkbar gewesen. In den Altersgruppen unter 49
wächst er jedoch auf 57 bis 60 Prozent. Die Anzahl der
Befürworter eines Weiterbetriebs der Anlagen wächst
hingegen in den älteren Generationen und ist bei der
über 66jährigen am höchsten.
Die amtierende Regierung
will dennoch von einem Ausstiegskurs nichts wissen.
Zwar wurde im August 2015 ein „Gesetz für den
energiepolitischen Übergang“ in Kraft gesetzt, das
jedoch lediglich verspricht, bis im Jahr 2025 den
Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung von 75 auf
50 Prozent abzusenken; bei fast gleichbleibendem
Volumen allerdings, denn bis dahin sollen mindestens
zwei neue Reaktoren vom EPR-Typ laufen. Aber nicht
einmal die Weichenstellung, die dafür erforderlich
wäre, um wenigstens einige ältere Atomreaktoren
abzuschalten, will die Regierung derzeit treffen. Wie
RTL am 14. April 16 bekannt gab, verschob
Umweltministerin Ségolène Royal eine solche
Entscheidung soeben auf das Jahr 2019. Lediglich eine
Altanlage, die im elsässischen Fessenheim, soll bis
dahin abgeschaltet werden, und zwar 2018. Damit scheint
sich sogar der Betreiber EDF halbwegs abgefunden zu
haben, er hat begonnen, für „Entschädigungs“zahlungen
zu streiten.
Aber dass die amtierende
Regierung über die Wahlen Frühjahr 2017 hinaus
amtierenden wird, ist unwahrscheinlich. Und die
Rechtsopposition in Gestalt der
konservativ-wirtschaftsliberalen Partei Les
Républicains (LR, vormals UMP) kündigte durch ihren
Vorsitzenden Nicolas Sarkozv in einem Interview vom 30.
April an, bei einer Regierungsübernahme werde sie das
Fünfzig-Prozent-Ziel abschaffen. Mit ihr würde es nicht
einmal Schritte in Richtung Atomausstieg geben. Die
regierende Sozialdemokratie hat sich durch ihre
Koalition mit den Grünen wenigstens dazu verleiten
lassen, so zu tun, als ob sie es wünsche, ist aber auf
diesem Gebiet wie auf allen anderen politisch zu feige,
sich mit irgendwelchen mächtigen Interessen anzulegen.
Zu ihrer Linken hat sich wenigstens etwas getan.
Dadurch, dass die französische KP – lange Zeit eine
beinharte Atomkraftbefürworterin – in einem Bündnis mit
der kleineren Linkspartei (PG) von Jean-Luc Mélenchon
steckt, muss sie sich nunmehr Atomkraftkritik Gefallen
lassen. Denn was immer man sonst von dem
Ex-Sozialdemokarten Mélenchon halten mag, er hat
wenigstens mit dem Atomenergie-Dogma seiner früheren
Parteifreunde und seiner neuen Verbündeten von der
französischen KP gebrochen.
Zwei riesige Steine liegen unterdessen auf dem Weg der
französischen Atomindustrie. Das Eine sind die
Meldungen über manipulierte Tests an zentralen
Bauteilen für das erste AKW vom Typ Europäischer
Druckwasserreaktor (EPR), dessen Bau in Flamanville in
der Normandie im Gange ist. Seine Fertigstellung war
ursprünglich für 2013 vorgesehen und hat sich bis
mindestens 2018 verzögert. In der Osterwoche hatte der
Bauherr EDF nun bekannt gegeben, die wichtigsten
Bauprobleme rund um den Reaktorkern seien behoben.
(Jungle World 13/2016) Ab dem 29. April folgte jedoch
die kalte Dusche.
Nachdem die
Aufsichtsbehörde für nukleare Sicherheit ASN angeordnet
hatte, dass neue Tests vorgenommen werden müsste – weil
im April 2015 gravierende Risse am Reaktordruckbehälter
festgestellt worden waren -, erwies sich, dass in 400
Fällen die Unterlagen von Stresstests für Bauteile des
EPR gefälscht worden waren. Rund 10.000 Bauelemente
waren in der Stahlfabrik von Le Creusot in
Zentralfrankreich, die – nach einer Pleite 1984 und
mehreren Eigentümerwechseln – seit 2006/07 durch den
Atomindustriellen AREVA übernommen worden, auf ihre
chemische, mechanische, thermische und sonstige
Belastbarkeit hin überprüft worden. In bislang
vierhundert Fällen wurde jedoch festgestellt, dass die
Tests wohl manipuliert worden waren, wenn die
Ergebnisse nicht wie gewünscht ausfielen - als handele
es sich etwa um die Abgaswerte von Dieselmotoren bei
VW, aber mit potenziell noch weitaus gravierenderen
Folgen. In der französischen Atomindustrie brach
daraufhin Panik aus. Am vorigen Mittwoch (/ VORGESTERN)
verkündete Umweltministerin Royal nun beruhigend,
vorläufig habe sich erwiesen, dass nur die Tests
Defekte aufwiesen, nicht die Bauteile selbst.
Um das Vertrauen ist es
daraufhin nicht zum besten bestellt. Es wird wohl auch
nicht dadurch aufgebessert, dass Ségolène Royal am
Tschernobyl-Jahrestag verkündet hat, im Falle eines
Reaktorunglücks werde die zu evakuierende Zone von
bislang zehn auf zwanzig Kilometer Radius rund um die
französischen Atomanlagen ausgeweitet. Ungefähr
zeitgleich begannen die Nachbarländer Belgien und
Niederlande mit der Ausgabe von Jodpillen an die
Bevölkerung für den Fall eines Atomunglücks.
Ein
anderes Problem bleibt bislang ungelöst. EDF plante,
mit massivr Rückendeckung des französischen Staates und
im Bund mit einer chinesischen Firme, den Bau eines
EPR-Reaktors im britischen Hinkley Point bis 2023.
Dieses gigantische Projekt soll zwischen 22 und 24
Milliarden Euro kosten. Die konservativ-liberale
Zeitschrift Atlantico sprach in diesem
Zusammenhang am 02. Mai 16 vom „teuersten Objekt des
Planeten“.
Am 06. März dieses Jahres
war der Finanzvorstand von EDF, Thomas Piquemal,
deswegen zurückgetreten. Am 04. Mai 16 schilderte er
nun in einer Anhörung vor den Abgeordneten der
französischen Nationalversammlung seine „Verzweiflung“
bezüglich dessen, was er de facto als Wahnsinnsprojekt
betrachtet und die ihn zur Demission getrieben habe.
Auch die Energiegewerkschaften der Dachverbände CGT und
FO beim Betreiber EDF, beide bei weitem keine
Atomkraftgegner, fordern ebenso wie Piquemal eine
mehrjährige Verschiebung der Entscheidung über das
Projekt. Sie gehen von einer irrationalen Flucht nach
vorne der derzeitigen Unternehmensleitung aus, im
Angesicht auch der massiven Schwierigkeiten für das
bisherige EPR-Bauvorhaben in Flamanville, dessen
Vollendung vorerst ungesichert ist.
Doch
die Direktion hat nach wie vor die Unterstützung der
französischen Staatsspitze. In den ersten Maitagen 2016
erklärte Staatspräsident François Hollande, ein
Ausstieg aus dem Projekt komme nicht in Frage. Und sein
Wirtschaftsminister Emmanuel Macron proklamierte, es
sei für den Erhalt der Arbeitsplätze bei AREVA
erforderlich – an die Anzahl von potenziell sinnvollen
Arbeitsstellen, die für eine Umstellung der
französischen Energieversorgung weg von Atomkraft
erforderlich wären, denkt er dabei natürlich nicht. Vor
wenigen Wochen erst entschied der französische Staat,
EDF vier Milliarden Euro zuzuschießen.
Doch auch dies dürfte ungenügend bleiben, da Experten
mittlerweile von einer strukturellen Schuldenlast –
unter anderem aufgrund desaströser Riesenprojekte – von
über 35 Milliarden ausgehen.
Immerhin hat sich die definitive Entscheidung über
Hinkley Point nun ein wenig nach hinten verschoben.
EDF-Generaldirektor Jan-Bernard Lévy willigte ein,
zumindest die Beschäftigtenvertreter im
Konzernbetriebsrat anzuhören, der dazu am Montag, den
09.05.2016 erstmals zusammentrat. Diese formulierten
Einwände und dürften eine wirtschaftliche Expertise
anfordern, was bis in den Sommer dauern wird. Wollte
Lévy das Projekt ursprünglich bereits im Januar oder
Februar dieses Jahres starten, kann eine Entscheidung
nun frühestens im September fallen. Aber auch auf
britischer Seite wachsen die Bedenken, so will die
dortige Regierung keine finanzielle Garantie mehr
übernehmen. Und die dortigen Stromkunden wissen wohl
noch gar nicht, in welchem Ausmaß
ihre Energie durch das Projekt überteuert werden
dürfte.
|