VWie der Maoismus nach Westberlin kam
Materialien zum Referat

Zwei Texte zur (Selbst-)kritik der maoistischen Organisationen
(1978-1980)
 

06/2016

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onlinezeitung

Heiner Karuscheit / Alfred Schröder (1978)

"Sie (die ml-Bewegung - khs) hat unter "Marxismus-Leninismus" immer nur "Politik" verstanden, ohne zu begreifen, daß wir Politik (ernsthafte Politik) nur machen können, wenn ernsthafte gesellschaftliche Kräfte hinter uns stehen. "Proletarische Politik" ist erst möglich, wenn das Proletariat - bzw mindestens seine fortgeschrittenen Teile - als Klasse zu handeln beginnt. Davon sind wir noch weit entfernt. Trotzdem hat unsere Bewegung so getan, als ob die Millionenmassen hinter ihr stünden, und stets nur den "politischen Kampf (Kampf für die Erweiterung der Rechte des Volkes, d.h. für Demokratie, sowie für die Erweiterung der politischen Macht des Proletariats)" geführt (Lenin, Unser Programm, LW 4, S. 206), wenn wir von ihren Anstrengungen auf dem Feld des ökonomischen Kampfes absehen.

Dadurch erklärt sich die Beschränkung der üblichen Themen auf die Tagespolitik, Fragen des Staates, der Revolution, der Einschätzung der internationalen und nationalen Lage und Entwicklung usw. Von den drei Seiten des Klassenkampfs, die Friedrich Engels in der Vor­bemerkung zum "Deutschen Bauernkrieg" benennt, nämlich der theore­tischen, der politischen und der praktisch-ökonomischen, erkennt sie lediglich die beiden letzteren an. Um es genauer zu sagen: der Klassenkampf reduziert sich für sie auf unmittelbar praktische Tätig keit. Für die Bewegung ist die Theorie eine Hure der Praxis, der man die Ehre gibt, wenn gerade die dringendsten Erfordernisse des ökonomischen und politischen Tageskampfes es erforderlich machen. In dieser unglückseligen Rolle ist die Theorie aber nichts anderes als die direkte, unmittelbare und platte Widerspiegelung der gesellschaftlichen Erscheinungen; sie gibt die ökonomischen und politischen Phänomene wieder, anstatt von ihnen ausgehend in das  Wesen der Dinge einzudringen und aufgrund von gründlichen Unter­suchungen diese Wissenschaft!ich, das heißt tiefer und richtiger wi derzuspiegeln .

Das Verständnis des wissenschaftlichen Sozialismus als einer Welt­anschauung und Theorie, die das ganze Sein - Natur, Gesellschaft und Denken - umfaßt und zur philosophischen Grundlage den dialek­tischen Materialismus hat, der zugleich die wissenschaftliche Methode zur Erforschung dieser Welt darstellt - dieses Verständnis Ist der Bewegung fremd beziehungsweise ein Lippenbekenntnis geblieben. Die chinesischen und albanischen Genossen können zu den Fragen der Politik, mit denen sie sich in ihren Zeitschriften befassen, auf der festen Grundlage des dialektischen und historischen Materia­lismus Stellung nehmen, da diese das unangefochtene, allgemein an­erkannte Fundament der Wissenschaften in ihren Ländern sind. Die westdeutschen Marxisten-Leninisten dagegen haben sich dieses Funda­ment bisher weder in der Auseinandersetzung mit anderen Auffassungen angeeignet (so daß sie sich jetzt beruhigt auf die "politischen" Fragen konzentrieren könnten), noch ist es ausreichend, ein Bekennt-nis zur marxistischen Weltanschauung und Theorie abzulegen, um darin zu Hause zu sein. Friedrich Engels weist darauf hin, "stets im Auge zu behalten, daß der Sozialismus, seitdem er eine Wissen­schaft geworden, auch wie eine Wissenschaft betrieben, das heißt studiert werden will" (Vorbemerkung zu "Der deutsche Bauernkrieg", MEW 18, S. 517). Wer die Bewegung nur ein wenig kennt, wird uns zustimmen, daß sie zwar stets den Klassenfeind im Auge hatte, um ihm "die Faust ins Gesicht" zu schlagen, aber dabei das "wissen­schaftliche Studium" der revolutionären Theorie aus den Augen ver­lor, ohne zu bedenken, daß die Faust des Menschen ohne lenkendes Hirn ein wenig erfolgversprechendes Instrument ist.

Das verkürzte Verständnis der Theorie ist weder Zufall noch Folge der Tätigkeit von bösartigen Opportunisten, sondern seinerseits Produkt der historischen Umstände, unter denen die westdeutsche marxistisch-leninistische Bewegung entstanden ist. Auf eine politische Bewegung wirken sich die aktuellen Verhältnisse, unter denen sie sich formt, bestimmender aus als geschichtlich zurückliegende Erkenntnisse und Erfahrungen, zu denen keine konkrete Beziehung mehr besteht. Die ei genen Erfahrungen, die eine solche Bewegung macht, die lebenden Vorbilder, die sie sich wählt und unter deren
Einfluß sie wirkt, haben für ihren Verlauf und ihren Charakter größe­re Bedeutung als historische Vorbilder und Erfahrungen, auf die man sich beruft, die aber nicht mehr lebendig sind und demgegenüber ver­blassen. Die Lebenden von heute sind meist stärker als die Toten von gestern und vorgestern.

Als die Bewegung Mitte bis Ende der sechziger Jahre entstand, haben sich, grob gesagt, drei Faktoren auf ihr Verständnis der Theorie be­sonders prägend ausgewirkt. Es waren dies 1.) die Praxis der Jugend-und Studentenbewegung, 2.) die Große Proletarische Kulturrevolution und 3.) die "Polemik über die Generallinie". Von dem Verrat und der Entartung der alten KPD abgestoßen, wollte man dagegen mit deren Erfahrungen nichts mehr zu tun haben. Den konsequenten Bruch mit dem Revisionismus verstand und praktizierte man als Bruch auch mit den positiven Ergebnissen und dem Verständnis der Theorie, wie es vor der revisionistischen Entwicklung in der KPD vorhanden war."

Quelle: Unsere nächsten Aufgaben - Zur Einschätzung und zu den nächsten Aufgaben der marxistisch-leninistischen Bewegung, Gelsenkirchen 1978, S.62-65. Diese Schrift war eine der Schlüsseltexte für das Entstehen des Zusammenschlusses  "Neue Hauptseite Theorie", gebildet überwiegend aus Dissidenten maoistischer Organisationen.

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Christian Semler (1980)

Revolutionäre Organisationen von einiger Stabilität und Schubkraft verdanken ihre Entstehung jeweils einer besonderen historischen Konjunktur. So war es auch kein Zufall, daß 1969/71 in den meisten westeuropäischen Ländern Organisationen entstanden, die sich auf den Marxismus-Leninismus beriefen. Der vietnamesische Befreiungskrieg hatte den Zusammenhang zwischen dem Befreiungskampf in den Kolonien und in den Metropolen durch die internationale Solidarität wieder praktisch werden lassen. Die großen Klassenkämpfe in West und Südeuropa zeigten das Ende der von den USA installierten Machtblöcke an und offenbarten, daß die Arbeiterklasse eben nicht in das kapitalistische Herrschaftssystem integriert war. Die chinesische Kulturrevolution setzte die soziale Emanzipation, das Verhältnis von Partei, Staatsmacht und Klasse wieder in einer Weise auf die Tagesordnung, die an die Pariser Commune gemahnte und die den Revolutionären im Westen als praktische Kritik des bürokratische-etatistischen Entwicklungswegs erschien. Diese internationale Konstellation schlug noch einmal mit besonderer Wucht in Westdeutschland und Westberlin durch, wo der Einfluß der prosowjetischen Partei gering war und wo die SPD durch den Abschluß der großen Koalition vorübergehend an Integrationskraft eingebüßt hatte, ja in den konkreten Auseinandersetzungen oft der unmittelbare Gegner war. Da die oppositionelle Bewegung hauptsächlich eine Studentenbewegung war, die aber 1968 auch Einbrüche im Lehrlingsbereich und in Schulen, Krankenhäusern etc. erzielte, war die Bourgeoisie dort betroffen, wo die Erfordernisse des Kapitalismus die Bourgeoisie zu großen Reorganisationsmaßnahmen zwang. Die Konflikte erhielten eine gewaltige Publizität und den Akteuren der studentischen Bewegung mochte es oft scheinen, als hätten sie bereits das Niveau einer gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung erreicht. Tatsächlich aber mobilisierte die APO nur einige hunderttausend Menschen. Als der SDS und die anderen studentischen Vorhutorganisationen sich in zahllose Aktionsbereiche und Projektgruppen auflösten, als ersichtlich war, daß einheitliches Handeln durch Arbeitskonferenzen und Koordination nicht erreichbar war, stellte sich zwingend die Frage nach einer verbindlichen politischen Organisierung. Dies um so mehr, als nach dem Regierungsantritt der SPD/FDP beginnend mit der Generalamnestiee ein umfassendes Integrationsprojekt in die SPD gestartet wurde und die DKP sich als legale, „realistische" — langfristige Arbeit gestattende Organisation anbot. Gegenüber dieser Zangenbewegung gab es nurzwei Antwortend entweder die politische Ebene zu verlassen und gegen sie eine Basisbewegung zu stellen. Oder auf der politischen Ebene zu antworten. Letzteren Weg ging der Gründungskern unserer Partei.

Für die Beurteilung dieser Gründung ist nicht unwichtig, daß sie in einer Umbruchsphase erfolgte und selbst Element dieses Umbruchs war, daß sich aber die Akteure über den Charakter dieses Umbruchs und ihre mögliche und notwendige Rolle als Kommunisten keineswegs im Klaren waren. Die Genossen der KPD/AO begriffen sich als Teil eines weltweiten revolutionären Zusammenhangs. Aber der Einmarsch der Russen in Prag hätte gerade eine neue Durchdringung und Neubestimmung des Inhalts von internationaler Solidarität notwendig gemacht. Die Genossen der KPD/AO sahen sich als Element der revolutionären Bewegung der späten 60er Jahre, sahen sich durch die politischen Ereignisse zu der Einsicht förmlich gedrängt, daß auch unter entwickelten kapitalistischen Bedingungen die Arbeiterklasse die führende Kraft eines revolutionären Umsturzes sein würde. Aber sie waren weit davon entfernt, die Ereignisse des Mai 1968. den "Prager Frühling'', die Klassenkämpfe in Frankreich in ihrer geschichtlichen Bedeutung zu erkennen. So konnten sie den wesentlichen strategischen Gehalt dieser historischen Kämpfe - die neuen Organisationsformen der Arbeiterklasse, die Krise der herrschenden Ideologie und der Übergang werktätiger Intelektuellenschichten auf die Seite des Volkes, die antikapitalistischen und antizentralistischen Bewegungen unter den Bauern und den Minderheiten - nicht wirklich durchdringen. Sie sahen nur den praktischen Verrat der moskauhörigen kommunistischen Parteien, begriffen aber nicht, daß die bis dahin akzeptierte Strategie für die sozialistische Revolution ins Schwanken gekommen war. Der damalige soziale lnhalt der Kämpfe bildet nach wie vor das historische Material, an dem sich die Kommunisten abarbeiten müssen. Dieses Material verweist auf den notwendigen internationalen Zusammenhang eines revolutionären Prozesses in Europa. Es verweist auf die Krise der „klassischen" Teilforderungsstrategien der Arbeiterorganisationen, das Entstehen neuer Klassenorgane des Proletariats, es verweist auf die Widersprüche in den Instanzen von Staat und Gesellschaft, die die Herrschaft der Bourgeoisie ideologisch absichern sollen, es verweist schließlich auf die Tiefe der Widersprüche zwischen den verschiedenen Schichten der Volksmassen und dem Monopolkapital....

... Viele Genossen des Gründungskerns der KPD/AO hatten an den Bewegungen der 60er Jahre teilgenommen. Was sie so lange zusammengehalten hat, war die Einsicht in die krisenhaftfe Entwicklung des imperialistischen Weltsystems und die Notwen des antiimperialistischen Kampfs und war die Überzeugung davon, daß die Arbeiterklasse in den entwickelten kapitalistischen Ländern die Hauptkraft der gesellschaftlichen Umwälzung sein wird. Diese Einsichten sind nicht abstrakt, sondern Ergebnis konkreter geschichtlicher Erfahrung. Was hingegen dem Gründungskern der KPD/AO abging, war ein Bewußtsein davon, daß durch den aufsteigenden Kampf der Dritten Welt, durch die Ereignisse von Paris und Prag mit allen Vorstellungen über das gebrochen werden mußte, was der revolutionären Arbeiterbewegung als unantastbar gegolten hatte. War denn die Vorstellung von der führenden Rolle der sowjetischen Partei, wie sie in der Polemik über die Generallinie noch als Anspruch an die SU proklamiert worden war, der historischen Situation je angemessen gewesen? Mußte die KI, mußten die Ereignisse in Jugoslawien 1948/49 und in Budapest 1956 nicht neu bewertet werden? War es nicht an der Zeit, die Vorstellung einer avantgardistischen Partei auszuarbeiten, die sich den emanzipatorischen Grundlagen im Marxismus und Leninismus wieder vergewisserte? War es nicht notwendig, das Verhältnis einer solchen Partei zu den unterschiedlichen Massenbewegungen im Volk anders zu bestimmen als durch den Gedanken einer umfassenden und allseitigen Leitung, zu bestimmen in Richtung der Autonomie solcher Bewegungen?

Aus den europäischen Klassenkämpfen der 60er Jahre und aus der Kulturrevolution hatten die Genossen der KPD/AO einen umfassenden Begriff der Massenlinie, der Massenkämpfe, der revolutionären Arbeiterklasse übernommen. Sie gingen vom Scheitern der bisherigen revolutionären Arbeit aus und von der Notwendigkeit des Neubeginns. Aber sie waren von einer historischen Situation nur geprägt, ohne sie zu durchdringen. Da sie sich dem Revisionismus und Reformismus "en bloc" entgegenstellten, waren sie  nicht in der Lage, ihre Situation historisch-kritisch zu sehen und Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen. Als deshalb das Versprechen der organisierten Klassenanalyse eingelöst wwerden mussr, als es darauf ankam, schöpferische Eigenständigkeit zu beweisen, wurde die KPD/AO von den Schatten einer nicht bewältigten Vergangenheit eingeholt."

Quelle: Bilanz und Perspektive der KPD - Beiträge zur Diskussion "Über die kommunistische Partei" Nr.2, Köln März 1980, S.143f. Der Aufsatz wurde mitten im Auflösungsprozess der maoistischen KPD verfasst. Der Autor war Vorsitzender der Partei.