Wie der Maoismus nach Westberlin kam
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Organisationsentwicklung maoistischer Gruppen in den 1970er Jahren

 

06/2016

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Zur Herausbildung der sechs Zentren der ML-Bewegung

Die erste ML-Gruppe, die die Phase des Zirkelwesens in Bezug auf sich selbst für abgeschlossen erklärte und glaubte, das Erbe der Weimarer KPD antreten zu können, war die bereits im Dezember 1968 in Hamburg gegründete Kommunistische Partei Deutschlands/Marxisten-Leninisten (KPD/ML). Schon bald erhob die im Februar 1970 in Westberlin - zunächst als "Aufbauorganisation" (AO) - konstituierte Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) denselben Anspruch. Beide Parteien konnten sich eine weitere Integration der ML-Bewegung nur in der Form eines Anschlusses an ihre jeweiligen Organisationen vorstellen, was von den übrigen Zirkeln unisono als "größenwahnsinnig" abgelehnt wurde. Das verbleibende, zwischen "ultralinken" ML-Parteien und "rechtsopportunistischer" DKP positionierte marxistisch-leninistische Spektrum konnte seinen Anspruch auf Überwindung des Zirkelwesens im folgenden ebensowenig realisieren. Aus den hier unternommenen Versuchen organisatorischer Zentralisierung gingen lediglich vier weitere überregional bedeutsame Gruppen hervor, die sich allesamt als "Bünde" definierten. Ende 1971 gründete sich in Hamburg der Kommunistische Bund (KB), im August 1972 der württembergische Kommunistische Arbeiterbund Deutschlands (KABD), im Mai 1973 in Regensburg der Arbeiterbund für den Wiederaufbau der KPD (AB) und schließlich im Juni 1973 in Bremen der Kommunistische Bund Westdeutschland (KBW).

Alle die zwischen 1968 und 1973 entstehenden marxistisch-leninistischen Parteien und Bünde entwickelten sich in ihren jeweiligen regionalen Hochburgen durch die "relativ ungebrochene Integrierung" von Teilen der in der antiautoritären Bewegung politisierten Schichten (Schröder 1990, 63). Während die Herkunft der meisten K-Gruppen aus der zerfallenden 68er-Bewegung unbestritten ist (die Westberliner KPD entstammt v.a. den an der dortigen Freien Universität auftretenden Roten Zellen, der KB ist primär ein Produkt der Hamburger Lehrlingsbewegung, der KABD ist in den Tübinger, der AB in den Münchener Basisgruppen verwurzelt, der KBW steht in Kontinuität zum Heidelberger SDS), hat die dominierende Rolle, die der KPD-Altkader Ernst Aust in der KPD/ML spielte, zu der Annahme verleitet, die Entstehung dieser Partei sei primär aus der Spaltungsgeschichte der "alten" Linken zu begreifen (vgl. Stöss 1983, 261; vgl.a. Backes u.a. 1993, 37 150). Eine solche Darstellung deckt sich zwar mit dem Selbstverständnis der K-Gruppe, die sich ja tatsächlich als einzig legitime Nachfolgerin der historischen KPD verstand(1), entspricht aber keineswegs den Tatsachen. Die Behauptung, daß die Initiatoren der Gründung "zum überwiegenden Teil" Mitglieder der 1956 verbotenen KPD gewesen sind (Bacia 1986a, 1810), kann inzwischen als widerlegt gelten, überwogen doch in Wirklichkeit unter den 33 Gründungsaktiven die in der antiautoritären Revolte politisierten Kräfte (vgl. Schröder 1990, 67). Das Durchschnittsalter des vom Gründungsparteitag gewählten neunköpfigen ZK soll 29 Jahre betragen haben (vgl. Schlomann u.a. 1970, 251). Das lag daran, daß es Aust trotz seiner großen Popularität in den alten KPD-Kreisen nicht gelungen war, auch nur "ein halbes Dutzend Menschen aus seinem Wirkungskreis in der Hamburger KPD für die KPD/ML" zu gewinnen.(2) Es kann auch begründet bezweifelt werden, daß die Gruppe in ihrer Anfangsphase "mehr Arbeiter als Studenten zu ihren Mitgliedern" zählte (wie Rowold 1974, 188, meint). Denn Entstehung und Entwicklung der KPD/ML können, obwohl diese unbestritten gerade in ihren Anfangsjahren einige Altkader der KPD in sich aufnahm (und teilweise schon bald wieder abstieß), nur im Kontext des Paradigmenwechsels der Neuen Linken 1968/70 angemessen rekonstruiert werden, da die Aust-Gruppe erst mit dem Zulauf aus der ehemals antiautoritären Bewegung zu einer der überregional bedeutsamen K-Gruppen der ML-Bewegung avancierte (vgl. Langguth 1976, 107).

Zwar ist es prinzipiell richtig, daß sich die ML-Bewegung aus "zwei Quellen" speiste ("alte" und Neue Linke)(3), doch ist sie primär ein originäres Produkt der Transformationsprozesse der Neuen Linken gewesen. Die aus der illegalisierten KPD kommenden Kader blieben demgegenüber innerhalb der Bewegung von Anfang an in der Minorität, was daran gelegen haben dürfte, daß sich die westdeutsche KP - im Gegensatz zu den Kommunistischen Parteien anderer westeuropäischer Länder(z.B. der italienischen) - in den sechziger Jahren nicht in größerem Maße in der Revisionismusfrage fraktionierte, wofür maßgeblich gewesen sein mag, daß die KPD zu diesem Zeitpunkt verboten war und so wenig Spielraum für Fraktionsdebatten bestanden hat. Die in der ML-Bewegung auftretenden KPD-Altkader waren Einzeldarsteller und nicht Vertreter von relevanten Strömungen innerhalb der "alten" Linken. Daß einzelne dieser Kader zu Führern von K-Gruppen wurden (KPD/ML: Aust, KABD/MLPD: Dickhut(4), begründet sich mit dem Bedürfnis der Jung-MLerInnen, an die "Tradition der kommunistischen Arbeiterbewegung" anzuschließen.(5) Das konnte aber nicht mehr als ein symbolischer Akt sein, da die ML-Bewegung im wesentlichen eine Jugendbewegung blieb.

Fußnoten

1) Schon mit der Terminwahl ihrer Gründung, dem 31. Dezember 1968, signalisierte die Gruppe ihren Anspruch, die revolutionäre Traditionslinie der fünfzig Jahre zuvor, an der Jahreswende 1918/19, in Berlin unter der Führung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht konstituierten Kommunistischen Partei Deutschlands wieder aufnehmen zu können.

2) Kt.: Zum Tod von Ernst Aust. In: AK, Hamburg, 15.Jg. (1985), Nr.262, S.39.

3) nyg. sowie weitere Genossen aus Berlin: Mao, oder die Hoffnung auf Glück. Die chinesische Geschichte von ak und KB. In: ak, Hamburg, 26.Jg. (1996), Nr.397, Jubiläumsbeilage, S.22-24, hier S.22f.

4) Zur Person Ernst Aust vgl. Kap.II.3.1, Abschnitt .Vorfelderfahrungen., insb. Anm.17; zu Willi Dickhut vgl. ebd., insb. Anm.37.

5) nyg. u.a.: Mao, oder die Hoffnung auf Glück (Anm.3), S.22.

Quelle
Geschichten vom Trüffelschwein -
Politik und Organisation des Kommunistischen Bundes
1971 bis 1991
Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie
vorgelegt von Michael Steffen aus Detmold
Einreichungsjahr: 2002
S.36ff


Quelle: Steffen, a.a.O., S.322