Gerichtsurteil in Schweden
Ein großer Sieg für ein kleines indigenes Volk

von Hans-Joachim Gruda

06/2020

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Mehr als zehn Jahre kämpften die Samen in Schweden für ihre Jagdrechte. Nun hat das höchste schwedische Gericht ein historisches Urteil gefällt, das die Machtverhältnisse im Land verschiebt. Die ersten Folgen sind bereits spürbar.

Am 23. Januar 2020 verkündete nach elfjährigem Rechtsstreit das Höchste Gericht Schwedens (Högsta Domstolen) das Urteil im Fall „Girjas Sameby gegen den Staat“. Sameby heißt übersetzt so viel wie „Rentierweidegemeinschaft“. Die samische Renweidegemeinschaft Girjas in Nordschweden erhielt durch das Urteil das alleinige Recht, in ihrem Gebiet über die Vergabe von Erlaubnissen für Kleinwildjagd und Fischfang zu bestimmen. Eines Einvernehmens mit dem Staat bei der Erteilung der Erlaubnisse bedarf es nicht. Der Staat selbst darf keine Jagd- oder Fischereierlaubnisse erteilen.


„Isfiske“ – Eisfischen. Samen beim Angeln in Eislöchern

Metapher der Geschichte

Das Urteil ist Folge der Kolonialpolitik und gleichsam eine Metapher für die Geschichte der Samen und der Region Sápmi. Sápmi ist das Siedlungsgebiet der Samen in Nordfennoskandien und deren Kulturraum. Das Gericht entschied zwar, dass sich aus dem schwedischen Renwirtschaftsgesetz von 1971 nicht das Recht herleiten lasse, dass Girjas Sameby Jagd und Fischerei in dem Gebiet selbständig verwalten dürfe. Aufgrund der historischen Gegebenheiten jedoch habe Girjas dennoch das alleinige Recht, dort die Kleinwildjagd und die Fischerei zu verwalten (urminnes hävd – althergebrachtes Gewohnheitsrecht).

Die jahrtausendelange und spätestens seit dem 16. Jahrhundert urkundlich dokumentierte Nutzung durch ein indigenes Volk wird also höher bewertet, als ein modernes Gesetz. Was vor mehr als 450 Jahren begann, die Herrschaft der Kolonisateure über Physis und Kultur der indigenen Bevölkerung des Nordens, hat einen kräftigen Schlag erhalten.

Ein bisschen Historie

Die seit dem Mittelalter nach Norden fortschreitende Besitznahme Fennoskandiens durch Dänemark-Norwegen, Schweden und Russland war abgeschlossen, als 1523 die Eismeerküste erreicht wurde. Recht und Religion der Herrschenden wurden etabliert – auch das Recht auf Landeigentum. Dieses war dem dort seit circa 8.000 Jahren lebenden indigenen Volk fremd. Der Mensch ist nach Auffassung der Samen Teil der Natur, ohne Eigentümer des Landes, der Gewässer und der Naturressourcen zu sein.

Bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts hatten die Samen in Schweden das alleinige Jagdrecht in ihren Gebieten. Doch dann nahm die Kolonisierung Fahrt auf und die sesshaften Neusiedler traten in Konkurrenz zur Renwirtschaft. Um Konflikte zu vermeiden wurden schließlich 1867 durch die Odlingsgränsen (Anbaugrenze) die westlich gelegenen Renweidegebiete definiert. Das Renwirtschaftsgesetz von 1886 brachte weitere Beschränkungen. Ende des 19. Jahrhunderts wurden die privatrechtlichen Besitzverhältnisse in Nordschweden beurkundet. Die sesshaften Siedler bekamen Flurstückkarten. Alles Land, das nicht an Siedler verteilt war, wurde durch lokale Beamte jedoch nicht etwa als Eigentum der Samen beurkundet. Es fiel als kronoöverloppsmark an die Krone und unterliegt seither deren Herrschaft als Grundeigentümerin.

Die Samen sind nicht Eigentümer ihres Landes, sondern nur Nutzer vor der Krone und der schwedischen Gesetzgebung Gnaden. Schweden, einst Initiativgeber, hat auch die Konvention ILO 169 zum Schutz indigener Völker nicht ratifiziert, so dass die schwedischen Samen daraus kein unmittelbares Recht ableiten können.

Verschiebung der Machtverhältnisse

1992 wurde das Renwirtschaftsgesetz so geändert, dass die Kleinwildjagd und Fischerei oberhalb der Odlingsgränsen freigegeben wurde. Jeder konnte nun von den Provinzverwaltungen (Länsstyrelse) Jagd- oder Fischereierlaubnisse für diese Gebiete bekommen.

Alle Versuche, diese Freigabe zu verhindern, blieben erfolglos: Stellungnahmen des Samenparlaments und von Verbänden im Gesetzgebungsverfahren, Anträge von Abgeordneten im Parlament, Mobilisierung der öffentlichen Meinung ebenso wie Protestaktionen. Es herrschte ein ungleiches Verhältnis zwischen den Repräsentanten zweier Völker. Der Staat hat sich darauf verlassen, dass er die (demokratisch legitimierte) Macht besitzt, seinen Gestaltungswillen durchzusetzen. Umgekehrt waren sich die Samen sicher, dass Beteiligungsverfahren, in denen sie ihre Bedenken, Vorschläge und Bedürfnisse vorbrachten, im Machtspiel nur den Schein eines Dialogs abgaben.

Selbst die sich seit Jahrzehnten wiederholende Kritik internationaler Gerichte und Organe der Vereinten Nationen (UN) hat Schweden nie sonderlich beeindruckt. Der Staat hatte keine Veranlassung, seine Vorgehensweisen zu ändern. Doch die Machtpositionen in diesem Spiel sind nun verschoben! Das Rechtsinstitut des Althergebrachten Gewohnheitsrechts wurde geprüft, für gültig befunden und gestärkt. Das Grundsatzurteil des Höchsten Gerichts vom 23. Januar 2020 hat deshalb weit über die Frage der Verfügung über Jagd- und Fischereirechte hinaus Auswirkungen auf die Machtverhältnisse zwischen den Beteiligten.

Ein zugunsten indigener Völker verändertes Denken hat sich seit 1945 weltweit abgezeichnet. Die Gleichwertigkeit des von „den Weißen“ geschriebenen Rechts und den Nutzungsrechten der Indigenen ist in die Rechtsprechung eingesickert. In Norwegen bereits 1968 mit dem Altevattn-Urteil, in Schweden ganz aktuell im Talma-Urteil von 2020. Doch Parlament und Regierung reagierten politisch nicht darauf. Es mangelte an Willen und Durchsetzungskraft, dies in Gesetzen zu gestalten. Die Entwicklung fand vielmehr in Medien und Gerichtssälen statt.

Das Höchste Gericht hat noch einmal bekräftigt, dass die Samen ein indigenes Volk seien und in seine Erwägungen einbezogen, dass die Konvention ILO 169 „Ausdruck eines allgemeinen völkerrechtlichen Prinzips“ sei. Bei der Lösung von Konflikten sei sie bezüglich der Landnutzung zu berücksichtigen – auch, wenn Schweden sie nicht ratifiziert habe! Das Gericht verweist auch auf die UN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker und den UN-Zivilpakt (ICCPR).

Konsequenzen

Es ist ein bahnbrechendes Urteil, aber es entfaltet unmittelbare Wirkung nur für die Ren züchtenden Samen, die Mitglieder des Girjas Sameby sind. Jedes Sameby müsste für sich selbst klagen, würde nicht der Staat aus dem Grundsatzurteil die Konsequenz ziehen und eine den Vorgaben des Höchsten Gerichts folgende Neuregelung des Renwirtschaftsgesetzes und der Jagd und Fischerei in Gang setzen. Das Urteil wird auch Grundlage für die Gestaltung der Rechte der Samen in anderen Fällen von Ressourcennutzung sein: zum Beispiel beim Bergbau, bei Wasser- und Windkraft oder bei der Forstwirtschaft. Es gibt Beispiele aus anderen Ländern, in denen Urteile die Entwicklung der Rechte indigener Völker vorangebracht haben. In British Columbia (Kanada) zum Beispiel hatte ein Grundsatzurteil erhebliche Auswirkungen auf die Planungs- und Genehmigungsverfahren in Bergbau und Forstwirtschaft, obwohl das Urteil diese gar nicht unmittelbar betraf.


Im Winter und im Frühlingswinter weiden die Rentiere in den tiefergelegenen Gebieten
in den Wäldern. Jagd auf Schneehühner und anderes Kleinwild sowie Motorschlitten
stören die Tiere in einer Zeit, in der es oft schwer ist, Futter zu finden.

Viele Samen schauen mit gemischten Gefühlen auf das Urteil. Es herrscht überall Freude darüber, dass Samen ihre Rechte gegen den Staat behauptet haben. Aber die Samen, die nicht Mitglieder eines Sameby sind, sehen auch, dass es keine Regelung für ihr Volk insgesamt gibt. Die Konflikte zwischen den verschiedenen Gruppen der Samen müssen durch gesetzliche Regelungen gelöst werden. Gesucht wird nach einer Lösung für die Samen als Volk – und nicht für das Klischee von den „nomadisierenden Renzüchtern des Nordens“.

Die Zuständigkeiten des Samenparlaments Sametinget müssen überdacht und neu geregelt werden. Und es muss das Verhältnis zwischen Samen und nicht-samischer (Lokal-) Bevölkerung geregelt werden, die ihre Erholung in der Natur sucht und dort jagen und fischen möchte. Schließlich ist der Natur-Tourismus in Sápmi mit einer großen Zahl ausländischer Touristen ein bedeutender Wirtschaftsfaktor. Wichtig ist, dass die Samen Regelungen treffen können, die die Belange der Renweide stärker als bisher berücksichtigen. Girjas‘ Vorsitzender Mats Blind Berg möchte nur noch Erlaubnisse an Einwohner der Provinz Norrbotten erteilen, unter anderem, um „Luxus-Jagdtourismus“ zu blockieren. Das würde möglicherweise gegen EU-Recht verstoßen.

Von Seiten der Regierung ist noch immer keine Initiative zu erkennen, das Verhältnis des Staates zur indigenen Bevölkerung auf eine neue, gleichberechtigte gesetzliche Grundlage zu stellen. Lediglich Amanda Lind (Grüne), Minister für Kultur und Demokratie und damit „Samenminister“, hat in diesem Sinne klar Stellung bezogen. Jennie Nilsson (Sozialdemokraten), Minister für den ländlichen Raum und zuständig für Landwirtschaft, Renwirtschaft und Jagd, vermeidet hingegen deutliche Aussagen. Sie verweist auf eine seit 2018 in Planung befindliche „konsultationsordning“, die aber keine Festschreibung von Rechten sein soll, sondern nur von „Konsultationen“.

Und dann geschieht das: Die Regierung hat am 27. Januar 2020 den Vereinten Nationen mitgeteilt, dass sie die Ratifizierung der Konvention ILO 169 vorbereitet! Das Grundsatzurteil hat seine erste politische Wirkung getan!

Rassistischer Hass und Gewalt

Rassismus gegen Minderheiten und das indigene Volk der Samen war in Schweden immer vorhanden. Die Konfrontation mit der Wirklichkeit des Urteils hat nun eine Welle des Hasses und der Gewalt ausgelöst. Die Inanspruchnahme von Gerichten durch die Samen wird als „Kriegserklärung“ diffamiert. Es gibt verbale und physische Übergriffe gegen Samen, auch Morddrohungen. Rentiere werden gehetzt, verwundet und qualvoll verbluten gelassen, regelrecht ermordet, in Müllsäcken mit dem Logo der Bergbaugesellschaft LKAB demonstrativ öffentlich platziert, als Symbol des Hasses.

Die Empörung über den Rassismus ist groß. In „sozialen Medien“ wird aufgerufen, jeden Übergriff anzuzeigen und öffentlich zu machen. Selbst der Jagdverband Svenska Jägareförbundet verurteilt die Hetze und ist zu konstruktivem Dialog bereit. Alice Bah Kuhnke, Journalist und früher Samenminister, hat ihre Abscheu über das, was in Schweden passiert, zum Ausdruck gebracht und die Öffentlichkeit für Solidarität mit den Samen sensibilisiert. Es überwiegen die gemäßigten Stimmen und die Solidarität. Kluge Menschen machen Vorschläge für gerechte Gesetze. Es wird voran gehen im Norden!
 

Editorische Hinweise

Wir erhielten diesen Beitrag zur Zweitveröffsentlichung(*) vom Autor.  

Hans-Joachim Gruda ist Diplom-Verwaltungswirt.  Seit frühester Jugend engagiert er sich im Norden. Seit seiner Pensionierung lebt er abwechselnd in Berlin und in Sápmi, wo er in der Rentierwirtschaft und im Öko-Tourismus arbeitet.

In Deutschland hat er zahlreiche Ausstellungen und Veranstaltungen über Sápmi und die Samen organisiert, hält Vorträge und ist als Berater für Firmen, Filmproduktionen und Organisationen und als ehrenamtlicher Mitarbeiter im Museum Europäischer Kulturen in Berlin tätig. Hannes spricht Deutsch, Schwedisch, Norwegisch, Englisch und hat Grundkenntnisse in Nordsamisch.

Das Foto auf der Titelseite und die im Text verwendeten Fotos stammen von Liane Gruda.

Alle Rechte bei den Autor*innen.

*) Der Beitrag erschien in der Nummer 317 / Ausgabe 02/2020 der "Pogrom Zeitschrift für bedrohte Völker"