Nur eine Statistik
Fragmentarische Betrachtungen zum Thema „Opfer und China“ anlässlich des Titelthemas „Opfer“ der Philosophie-Zeitschrift Lichtwolf.

von Martin Gohlke

06/2020

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Chinas Versuch, im „Großen Sprung nach vorn“ „mit drei Jahren harter Arbeit tausend Jahre Wohlstand zu schaffen“ (Parteipropaganda), war 1961 kläglich gescheitert: Die Zahl der staatlich verschuldeten Toten war hoch. Auch die Kulturrevolution forderte Opfer – durch direkte physische Vernichtung oder in Form der gedemütigten Menschen, die vom jugendlichen Mob durch die Straßen getrieben wurden. Sowohl der große Sprung nach vorn wie die Kulturrevolution geben Raum für differenzierende Betrachtungen. Aber beide bleiben ein nicht wegzudiskutierender Teil einer traditionskommunistischen Geschichte, die nicht nur emanzipatorisch, sondern eben auch mörderisch auf sich aufmerksam machte.

Nun kann man „Opfer und China“ auch jenseits dieser beiden desaströsen Großereignisse der chinesischen Zeitgeschichte diskutieren. Welche Opfer hatte die 1978 von Deng Xiaoping eingeführte sogenannte Öffnungspolitik gefordert?

Schauen wir uns dafür zuerst einige Zahlen der über 40-jährigen Reformpolitik an, verlassen wir uns dafür auf die vergleichenden Angaben der Peking Rundschau: Chinas Anteil an der weltweiten Wirtschaftsleistung hat sich in den Jahren zwischen 1978 und 2018 von 1,8 auf 15,3 Prozent erhöht. Die Urbanisierungsrate stieg von knapp 20 auf 60 Prozent. Der Wert des Dienstleistungssektors schwoll um das 51-fache an. Die Zahl der Studierenden lag 32 mal höher. Das Realeinkommen stieg pro Kopf um mehr als das 24-Fache und die Pro-Kopf-Konsumausgaben stiegen real um das 19,2-Fache. Seit 2013 stehen die chinesischen Ausgaben für Forschung und Entwicklung weltweit an zweiter Stelle, seit 2010 ist China Spitzenreiter bei den weltweiten Patentanmeldungen. In der Bildung sieht die Peking Rundschau China „im oberen globalen Mittelfeld“. Beim Aufbau einer auch qualitativ hochwertigen Infrastruktur mit Hochgeschwindigkeitsstrecken, Autobahnen, Wasserstraßen und Häfen hat man in vier Jahrzehnten geschafft, „wofür Industrieländer mehrere Hundert Jahre benötigt haben“, meint der chinesische Staatspräsident XI Jipeng.

Beeindruckend ist auch die Politik gegen die Armut: Bis 2020 wollte China, so proklamiert es die chinesische Parteiführung seit den Nullerjahren, die Armut eliminiert haben. Zur Überprüfung dieses Ziels arbeiten Städte und Gemeinden mit einem Armutsinzidenz, der sowohl den stofflichen wie den abstrakten Reichtum als Kriterium nimmt: Die Lebensmittel- und Gesundheitsversorgung muss ausreichend sein und eine bescheidene monetäre Summe frei zur Verfügung stehen. Das Ziel scheint termingerecht erreicht zu werden, es gibt keinen unmittelbar lebensbedrohenden Hunger mehr und chronisch Kranke können mittlerweile auch in den rückständigsten Gebieten eine dauerhafte Behandlung erwarten. Vor wenigen Dekaden war das für Hunderte von Millionen Chinesen noch anders. Klar: Nicht jeder „Entarmte“ wird sich auch „entarmt“ fühlen – die Staatsführung sieht Grenzen ihre Lenkungspolitik, wenn sie in der Peking Rundschau einen Bauer sagen lässt: „Wir sollten uns nicht bei allem auf die Regierung verlassen. Nur durch harte Arbeit können wir reich werden.“

Können auch soziokulturelle Erscheinungen den erfolgreichen Übergang Chinas in die warenproduzierende Moderne darlegen? Ja. Mittelstandfamilien fahren gerne Autos, Wohnungen sind ebenso voll von gebrauchsfähigen Gütern wie von Warenschrott, die meisten Kinder haben ein eigenes Zimmer mit Computerspielen und Plakaten mit irgendwelchen Stars. Und die sozialen Beziehungen zeigen sich verdinglichter, d.h. Eitelkeiten und Konkurrenzdenken sind beliebte Verhaltensweisen, gepaart mit einer zunehmenden Lust zum Spektakel. Auf der anderen Seite steht nüchterner Aufstiegswille: Eine Eigentumswohnung zu kaufen, mittlerweile oft auch ein Reihenhaus, ist das oberste Ziel vieler junger Familien.

Kollateralschäden

Fragt man euphemistisch nach dem Kollateralschaden der 40-jährigen Öffnungspolitik oder eher moralisch nach den Opfern, ist nicht sensationell, was es diesbezüglich zu berichten gibt. Alles was eine „ursprüngliche Akkumulation des Kapitals“ (Marx) nach sich ziehen kann und vieles, was es an entsprechenden Erfahrungen an anderen Orten der Welt gibt, findet sich auch in China. Und das zum Teil in Potenz – die Umweltverschmutzung dürfte dafür das herausragende Beispiel sein. Chinas Umwelt war so versaut, dass am Ende der Nullerjahre auch dem politischen System zuträglich gesinnte Chinesen den zeitnahen gesellschaftlichen Zusammenbruch vorhersagten. Wie meistens bei solchen Prophezeiungen, kam es dazu nicht. Stattdessen ist die Umweltsituation auch in der Wahrnehmung der meisten Chinesen besser geworden. Die Luft- und Wasserschadstoffe haben spürbar ab- und die Zahl der Städte mit Kanalisation und Kläranlagen bedeutend zugenommen; möglicherweise wird China hier in nicht allzu ferner Zukunft auch jenseits der Metropolen westeuropäisches Niveau erreichen. Und eine schon am Anfang der Öffnungspolitik bis zum Jahr 2030 konzipierte Wiederaufforstungspolitik zeigt nach anfänglichen Schwierigkeiten mittlerweile Erfolge; Peking ist weniger von massiven Sandstürmen bedroht. Schon seit Längerem geht Chinas Umweltpolitik über die unmittelbare Symptombekämpfung hinaus. So wurde eine „Ökologische Gesellschaft“ gegründet, in der sich Natur- und Umweltschützer samt garantierten Beratungsrechten engagieren können; von dieser Seite dürften auch zahlreiche ökologische Leuchtturmprojekte initiiert worden sein. Wer an die Notwendigkeit eines institutionellen Vorlaufs und an den Sinn von politischen Deklarationen für den Erfolg von gesellschaftlichen Transformationen glaubt, der wird auch die Aufwertung der staatlichen Umweltinstitutionen und den vom Präsidenten Xi Jipeng regelmäßig artikulierten Willen zum „Aufbau einer ökologischen Zivilisation“ als Beweis für berechtigte Hoffnungen auf eine bleibende Verbesserung der ökologischen Verhältnisse in China nehmen.

Erscheinungen der ursprünglichen Akkumulation finden sich auch bei den sozialen Fragen. Wenn man dem Privateigentum an Produktionsmitteln so große Entfaltungsmöglichkeiten bietet wie die chinesische Regierung, dann geht die durch die betriebswirtschaftliche Konkurrenz bedingte Steigerung der Arbeitsproduktivität mit allerhand unschönen Begleiterscheinungen einher: Zwölf-Stundentage, schlechte Arbeitsbedingungen und elendige Wohnverhältnisse für die Wanderarbeiter, die sich in den Kellerräumen der großen Wohnanlagen einmieten müssen, sind landesweit Wirklichkeit. Aber – und das ist im historischen Vergleich interessant und verlässt die Erfahrungen der ursprünglichen Akkumulation anderer (ehemaliger) Entwicklungsländer: Es gibt keine dauerhaften großflächigen Slums. Sie gelten in den Augen der KP als ein Zeichen der Verelendung, die jede sozialistische Zielsetzung des Landes der Lächerlichkeit preisgeben würde. Konfuzianisch gesprochen: Mit Slums würde man sein Gesicht verlieren.

Historischer Materialismus als Schlüssel

Eine Definition des Opferbegriffs muss immer auch die Selbstwahrnehmung der Betroffenen berücksichtigen. Und diesbezüglich gibt es eine Beobachtung, die zu erklären hilft, warum es nicht zu systemsprengenden sozialen Aufständen kommt: Die Wanderarbeiter wie auch viele andere Lohnabhängige kommen oft aus dem materiellen Nichts; bei aller Härte der Verhältnisse wird der überwältigenden Mehrheit der Arbeiter ein bescheidener sozialer Aufstieg ermöglicht – und wenn er lediglich darin besteht, der auf dem Lande zurückgelassenen Familie Geld zu überweisen. Der die Mentalität vieler Chinesen beeinflussende konfuzianische Harmoniebegriff (jeder bleibt an seinem Platz und für alle wird gesorgt) stützt den relativen sozialen Frieden ebenso, auch wenn Streiks, glaubt man bundesdeutschen linken Internetportalen, regelmäßig zu beobachten sind.

Hier kommt man zu der Frage, wie die Kommunistische Partei Chinas ihren umfassenden Spagat zwischen dem weiterhin offen proklamierten Ziel einer kommunistischen Gesellschaft und einer von Antagonismen zwar nicht unbedingt bestimmten, aber doch beeinflussten Gegenwart ideologisch aushält. Das Gedankengebäude, das den 90 Millionen KP-Mitgliedern Orientierung und Halt gibt, muss einerseits bis zur Schmerzgrenze die Abstraktion bemühen und andererseits dem Unbestimmten Raum geben. Die Geschichtsphilosophie ist hierbei der Schlüssel.

Und wer geschichtsphilosophisch denkt, denkt bekanntlich entwicklungsgeschichtlich. Geschieht dieses Denken in kommunistischer Absicht, stützt man sich auf das Marx‘sche Gedankenmodell des historischen Materialismus. Das ist riskant, denn dieser historische Materialismus trägt ein großes Gewaltpotential in sich: Wenn man mit ihm davon ausgeht, dass die Geschichte sich nach naturgegebenen Gesetzen bewegt, kann man mit wenig Mühe eine moralische Rechtfertigung für die Unterdrückung von Andersdenkenden finden, denn schließlich stellen sie sich gegen ein Naturgesetz. Für Hannah Arendt bildete dieser Zusammenhang das eigentliche totalitäre Element im Marx’schen Denken; die Frankfurter Schule (Kritische Theorie) hatte das bereits in den 1920er Jahren angedacht und die Wertkritik formulierte diese Kritik später erschöpfend aus.

Auch die Kommunistische Partei Chinas weiß um die verhängnisvollen Momente des historischen Materialismus; die Frankfurter Schule hatte sie, tituliert als „westlichen Marxismus“, erstmals in den 1980er Jahren wahrgenommen. Insbesondere weiß die KP Chinas um das Gewaltpotential des historischen Materialismus aus den Mordsgeschichten der Komintern (1919-1943), aber auch aus den eingangs erwähnten eigenen Erfahrungen kommt ihr einiges bekannt vor. Zugleich hält sie die bürgerliche Geschichtsauffassung, dass jede Epoche nur zu Gott (Leopold von Ranke) bzw. – atheistisch formuliert – nur zu sich selbst steht, für nicht minder verhängnisvoll, sieht sie darin doch einen Hort des Relativismus und Nihilismus.

Gebunden in der eigenen Tradition, kritisch gegenüber dem Vulgärmaterialismus und ablehnend gegenüber dem bürgerlichen Nichts hat die KP China ein eigenes Verhältnis zum Historischen Materialismus gefunden. Zum einen entledigt sie sich jedem Marx’schen Determinismus – es komme nicht zwangsläufig zu geschichtlichen Entwicklungen, die Situation sei immer offen; Xi Jipeng betonte bei mehreren Gelegenheiten die Unwägbarkeiten der Entwicklung. Zum anderen verzichtet die KP Chinas nicht auf das ungeheure Orientierungs-, Stabilisierungs- und Mobilisierungspotential, das eine materialistische Geschichtsauffassung bieten kann: Viel Unbill kann in der Gegenwart ausgehalten werden, wenn man an die Entwicklung vom Niederen zum Höheren glaubt. Der Pfad dorthin muss kein leuchtender sein, aber es muss zu jedem Zeitpunkt des Weges, weiß das Politbüro, mehr Entwicklung als Zerstörung konstatiert werden können.

Das ist bisher geschehen. Im historisch-geographischen Vergleich steht China nicht auf dem letzten Platz. Das ändert sich auch nicht bei einer Problematisierung der Menschenrechtslage, wenn man weiß, dass eine reine Menschenrechtspolitik oft doppelmoralisch agiert und dass die ethische Bilanz von jedem Land bestenfalls gemischt ist.
 

Editorische Anmerkung:

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe. Martin Gohlke liest regelmäßig die Peking Rundschau. Sein Beitrag erscheint im Lichtwolf (Zeitschrift trotz Philosophie), Nr. 70, Titelthema: Opfer.