Die Mär vom Gemeinwohl
Unter dem Deckmantel der Gemeinwohlorientierung betreiben die Grünen Wohnungspolitik für die Mittelklasse

von Philipp Möller (Mieterecho)

06/2020

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Im Leitantrag für den kommenden – nun allerdings auf unbestimmte Zeit verschobenen – Landesparteitag fordert der Vorstand der Berliner Grünen eine stärkere Förderung von „gemeinwohlorientierten“ Akteuren auf dem Wohnungsmarkt. Neben mehr finanziellen Mitteln für Genossenschaften sollen landeseigene Flächen an Baugruppen und selbstnutzende Eigentümergemeinschaften vergeben werden. Statt den kommunalen Wohnungsbau auszuweiten, will die Partei Bündnisse „mit allen Akteur*innen auf dem Wohnungsmarkt schließen, die klimagerechte und gemeinwohlorientierte Ziele verfolgen“ . Mit ihrem Programm buhlen die Grünen um die Stimmen der Besserverdienenden und zeigen die Dehnbarkeit eines Begriffs.

Nicht alle Vorschläge des Leitantrags zielen auf die Mittelschicht. Sinnvoll im Sinne einer sozialen Wohnraumversorgung ist es, den Anteil von geförderten Wohnungen bei Neubauprojekten von derzeit 30% auf 50% zu erhöhen. Gleiches gilt für die einheitliche politische Steuerung und Kontrolle der landeseigenen Wohnungsbaugesellschaften, um sie ihrem sozialen Versorgungsauftrag entsprechend neu auszurichten. Die Bindungsdauer im geförderten Wohnungsbau auf 40 Jahre zu verlängern sowie die soziale Wohnbauförderung auszubauen, weisen ebenfalls in die richtige Richtung. Doch allein mehr Geld führt nicht automatisch zu mehr Sozialwohnungen. Es braucht auch die Träger, die diese abrufen. Laut IBB-Wohnungsmarktbericht sind das vor allem die kommunalen Wohnungsunternehmen, auf die 86% aller seit 2014 bewilligten Sozialwohnungen entfielen.

Die Grünen bringen nun die Genossenschaften ins Spiel, deren Anteil am sozialen Wohnungsbau bisher magere 0,5% betrug. Ihr Neubau-Potential belaufe sich auf 5.000 bis zu 6.000 Wohnungen pro Jahr. Welcher Anteil davon mietpreis- und belegungsgebunden sein soll, verrät die Partei nicht. Genossenschaften sollten „deutlich stärker“ finanziell gefördert, mit öffentlichen Liegenschaften versorgt und vom Mietendeckel ausgenommen werden. Hinzu kommt ein „verbindliches Bündnis mit den Gemeinwohlorientierten“. Nur so lasse sich erreichen, dass bis 2030 jede zweite Neubauwohnung im „gemeinwohlorientierten Segment“ entsteht. Auch beim Vorkaufsrecht solle dieses stärker zum Zug kommen, abgesichert durch eine Kooperationsvereinbarung mit Genossenschaften, Stiftungen und dem Mietshäuser Syndikat.

Keine einheitliche Begriffsbestimmung

Der Begriff „Gemeinwohlorientierung“ schwirrt seit einigen Jahren durch die wohnungspolitische Diskurslandschaft. Mieterinitiativen, professionelle Interessengruppen wie das „Netzwerk Immovielien“ bis hin zu Mieterorganisationen, Verbänden und Parteien fordern eine gemeinwohlorientierte Ausrichtung der Boden- und Wohnungspolitik. Eine einheitliche Begriffsbestimmung fehlt. Das Bundesinstitut für Bau-,
Stadt- und Raumforschung (BBSR) lieferte im letzten Jahr einige eher schwammige Kriterien für eine „gemeinwohlorientierte Wohnungspolitik“. Danach entzögen gemeinwohlorientierte Akteure Wohnraum „nachhaltig“ der Spekulation und bildeten ein „Marktkorrektiv“. Renditen von 4% lägen im „üblichen Rahmen“. Die Bewohner/innen seien „überwiegend“ keine Einzeleigentümer/innen. Manche hätten aufgrund von wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Beeinträchtigungen Zugangsschwierigkeiten zum regulären Wohnungsmarkt. Wohnen sei bei gemeinwohlorientierten Trägern oft mit einem sozialen oder kulturellen Anspruch verbunden. Der Stadtentwicklungsplan Wohnen 2030 (StEP Wohnen 2030) widmet dem „gemeinwohlorientierten Wohnungsneubau“ ein ganzes Kapitel. Der Senat definiert diesen anhand folgender Kriterien: einer bezahlbaren Miete für Haushalte mit unteren und mittleren Einkommen, öffentlicher Einflussnahme auf die Mietgestaltung und Belegung sowie gemeinwohlorientierter Wohnungsbewirtschaftung „anstelle von Gewinnmaximierung“. Darunter fallen laut StEP Wohnen 2030 Neubauprojekte der öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften, Genossenschaften, sozialer und karitativer Akteure sowie der geförderte Wohnungsbau. Die Grünen wiederum strapazieren den Begriff in ihrem Leitantrag bis aufs Äußerste und weichen damit die Definition des StEP Wohnen 2030 auf. Für sie zählen zu den Gemeinwohlorientierten nun auch Baugruppen, selbstnutzende Eigentümergemeinschaften und private Kleinvermieter/innen. Die gemeinwohlorientierte Wohnungspolitik entpuppt sich als Förderkulisse für die Träumereien der modernen Mittelklasse. Jenseits einer sozialen Wohnraumversorgung für die breite Masse deklariert die Partei grün-alternative Nischenlösungen und Wohlstandsinseln zu einem neuen Gemeinwohl und wirbt so um ihre gutbetuchte Wählerklientel.

Im Vergleich zur alten Wohnungsgemeinnützigkeit fällt auf, woran es in der heutigen Diskussion um die Gemeinwohlorientierung mangelt: Die 1990 abgeschaffte Wohnungsgemeinnützigkeit war juristisch klar umrissen. Ihr unterworfene Unternehmen waren auf den Bau von Kleinwohnungen verpflichtet. Gewinne durften maximal auf 4% des eingesetzten Eigenkapitals ausgeschüttet werden, darüber hinaus erzielte Renditen mussten die gemeinnützigen Unternehmen in den Wohnungsbau reinvestieren. Die Vermögensbindung verhinderte, dass Wertsteigerungen des Wohnungsbestandes kapitalisiert werden konnten. Ausscheidende Mitglieder erhielten lediglich ihre Nominalanlagen zurück. Die Mietpreisbildung orientierte sich an den anfallenden Kosten statt der Gewinnmaximierung. In Kombination mit den öffentlichen Förderprogrammen des sozialen Wohnungsbaus schufen die gemeinnützigen Wohnungsbauträger in den Nachkriegsjahrzehnten hunderttausende Wohnungen und leisteten damit einen entscheidenden Beitrag, die Wohnungsnot breiter Bevölkerungsschichten zu beheben. Die heutige Unbestimmtheit der Gemeinwohlorientierung ermöglicht eine Begriffsfassung je nach politischer Motivation. So lassen sich auch die „wohlmeinenden Kleinvermieter/innen“ darunter subsumieren. Dabei sind nicht die Größe eines Unternehmens oder die moralische Einstellung wesentlich für das Handeln auf einem vom Verwertungsdruck getriebenen Wohnungsmarkt, sondern die jeweilige Rechtsform und die gesetzlichen Rahmenbedingungen, welche die Wohnraumbewirtschaftung regulieren.

Unterscheidung nach Einkommen und Milieu

Zudem lässt die gemeinwohlorientierte Wohnungspolitik eine sozialpolitische Orientierung vermissen. Statt die Angleichung der Lebensverhältnisse breiter Schichten der Bevölkerung zu verfolgen, weist sie den verschiedenen Einkommensgruppen und Milieus unterschiedliche Wohnformen und Träger zu. Das wird im grünen Leitantrag ebenso deutlich wie im Konzept der Bundespartei für eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit. Die Mittelschicht gelangt mittels Baugruppen und Genossenschaften zu Eigentum und einer Gemeinschaft unter Gleichgesinnten. Die öffentlichen Wohnungsunternehmen dienen als Auffangbecken für die ärmeren Bevölkerungsteile, die laut Leitantrag noch mehr WBS-Berechtigte aufnehmen sollen. Der Gesetzentwurf für eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit, den die Bundestagsfraktion im Februar 2020 in den Bundestag einbrachte, sieht Förderungen für gemeinnützige Unternehmen vor, wenn sie ausschließlich an Haushalte mit niedrigen Einkommen vermieten. Je nach Höhe der Einkommensgrenze gibt es Zuschüsse auf die Baukosten von 10% bzw. 20%. Laut Entwurf sind Körperschafts-, Gewerbe-, Grund- und Grunderwerbssteuer zu erlassen und die Umsatzsteuer zu reduzieren. Im Gegenzug dürfen die Unternehmen maximal 3,5% Eigenkapitalrendite ausschütten und müssen ihre Wohnungen unterhalb der ortsüblichen Vergleichsmiete vermieten. Förderwürdig sind Vermietungen, Neubauten, Modernisierungen, Ankäufe von Belegungsrechten und Bestandserweiterungen in Gebieten mit angespanntem Wohnungsmarkt. Parallel zu diesen Vorschlägen fordert die Fraktion eine Aufstockung der Fördermittel für den sozialen Wohnungsbau, um gemeinnützige Träger beim Neubau zusätzlich zu unterstützen. Ausdrückliches Ziel ist es, Private für vermehrte Investitionen in den sozialen Wohnungsbau zu gewinnen. Damit fügt sich die grüne Version einer neuen Wohnungsgemeinnützigkeit in die deutsche Tradition einer sozialen Wohnungspolitik, welche in der „Kooperation zwischen staatlichen Instanzen und privaten, in ihrem wirtschaftlichen Verhalten gebundenen Trägern“ (Hans-Joachim Kujath 1988) besteht. Ob die angestrebte Erhöhung des Sozialwohnungsbestands durch eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit erreicht werden kann, erscheint angesichts der ablehnenden Reaktionen aus der Immobilienwirtschaft indessen fraglich.

Editorische Hinweise

Wir spiegelten den Artikel aus dem Mieterecho Nr. 409 von der Website der BERLINER MIETERGEMEINSCHAFT, wo die die gesamte Ausgabe der Nr. 409 online gelesen werden kann.


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