Die deutsche und die Weltwirtschaft stehen vor einer ernsten Krise
Die sechs führenden Wahrsager und die Wirtschaftspolitik in Deutschland

von Conrad Schuhler

07/05

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Wenn es jemanden gibt, der in Sachen Wirtschaftsprognosen womöglich noch unseriöser
ist als die Bundesminister Clement (Wirtschaft und Arbeit) und Eichel (Finanzen), dann sind es die sogenannten "führenden sechs Forschungsinstitute" in Deutschland. Im Herbst 2004 hatten sie für die Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2005 ein Wachstum von 1,5 % voraus gesagt. Nun, im April 2005, korrigierten sie ihre Prognose auf 0,7 %, weniger als die Hälfte.

Die Herren Experten – keinem der sechs Institute sitzt eine Frau vor – erkennen nun ein grundsätzliches "Wachstumsproblem". Es muss offenbar in den letzten sechs Monaten vom Himmel gefallen sein, denn im Herbst 2004 hatten sie ein solches Problem mit diesen Auswirkungen noch nicht erkennen können. Eines der führenden Institute hatte sogar noch im Januar 2005 ein Wachstum von 1,8 % prognostiziert.

Im einzelnen begründen die "Forscher" ihre Korrektur mit drei Faktoren: Erstens sei der  Export wegen der nachlassenden Dynamik der Weltwirtschaft stärker zurück gegangen  als erwartet; zweitens seien die Bauinvestitionen stark gesunken (wie fast jedes Jahr ist der Winter wieder überraschend kalt ausgefallen); und drittens sei auch der private Konsum hinter den Erwartungen stark zurück geblieben.

Dass die Institute von diesen Faktoren überrascht wurden, zeigt ihre abenteuerliche  Inkompetenz. Dieses Institut, das isw, hatte seinen eigenen Konjunkturbericht für 2005  überschrieben: "Auch 2005 wird ein Jahr der Stagnation." Als entscheidender Faktor  wurde heraus gestellt: "2005: Außenwirtschaftliche Impulse lassen nach – die Binnennachfrage kann den Rückgang nicht stoppen." (Vgl. isw-Wirtschaftsinfo 37: Bilanz 2004 – Ausblick 2005, S. 3ff) Also genau die Faktoren, die den Instituten jetzt Grund für ihre Prognosenkorrektur sind.

Dabei war es keine Kunst, diese Faktoren richtig einzuschätzen und eine entsprechende Prognose zu treffen. Erstens war klar, dass der Ölpreis sich nicht an die von der Bundesregierung zu Grunde gelegte Annahme von 42 Dollar pro Barrel halten würde. Mittlerweile liegt der Preis bei weit über 50 Dollar und ein Limit von 70 Dollar ist in Sicht. Diese Marke wird der Ölpreis wahrscheinlich nicht übersteigen, weil dann in Ländern wie  Kanada die Exploration neuer Felder profitabel wird, was den Nutznießern in der OPEC,  der mengen- und damit preissetzenden Organisation der erdölproduzierenden Staaten, nicht gefallen würde. Aber die konjunkturdämpfende Wirkung weiterer Ölpreissteigerungen  auch unterhalb von 70 Dollar pro Barrel wird die "führenden Institute" in einem halben Jahr wieder überraschen und zu Prognosesenkungen nach unten veranlassen. Das Ende 2004 für 2005 mit 4 bis 4,5 % angenommene Wachstum der Weltwirtschaft wird weit verfehlt; die deutsche Exportindustrie kann ihrer Rolle als Konjunkturlokomotive nicht mehr gerecht werden.

Ein zweites internationales Moment, das in der Korrektur der Institute überrascht vermerkt  wird, ist die anhaltende Schwäche des Dollars. Im isw-Konjunkturbericht 1/2005  hieß es: "Die Unterstellung eines festen Zins- und Wechselkursgefüges ist waghalsig. Denn die Entwicklung dieser beiden Größen wird vor allem verursacht durch die enormen globalen Ungleichgewichte. Deren größtes ist das US-Leistungsbilanzdefizit, das im letzten Jahr 660 Mrd. Dollar betrug." (A.a.O., S. 7) Wiederholt hat das isw darauf verwiesen, dass die US-Politik auf die Strategie eines schwachen Dollars (je billiger der Dollar, um so billiger US-Waren und um so teurer die Waren der ausländischen Konkurrenten) ausgerichtet ist, um das eigene Leistungsbilanzdefizit in Grenzen zu halten und das Ausland zu Stützungskäufen zu veranlassen und damit den USA zu Devisen zu verhelfen und die Ausländer zu willigen Kooperateuren der USA und ihrer Wirtschaftspolitik zu machen. Der Umweg über Zinssenkungen in der für einen Leistungsbilanzausgleich nötigen  Dimension ist der US-Politik verbaut, da hohe Zinsen die hoch verschuldeten Konsumenten  und öffentlichen Hände in die Zahlungsunfähigkeit treiben würden. Dementsprechend läuft die Entwicklung mit großer Geschwindigkeit weiter in die Richtung "schwacher Dollar", was die "Forschungsinstitute" im Herbst sicher ganz überrascht feststellen  werden.

Ebenso klar war von Anfang an, dass die behauptete zweite Stütze der Konjunktur, die  Zunahme des privaten Konsums, eine Schimäre ist. Wie soll der private Konsum steigen,  wenn die "Arbeitnehmerentgelte" 2004 ein Wachstum von genau "0,0 %" aufwiesen? Für  2005 hat die Bundesregierung selbst eine Zunahme der Bruttolöhne und -gehälter von  1 % prognostiziert, aber gleichzeitig eine Preiserhöhung für Konsumgüter von 1,4 %. Unter dem Strich also ein Reallohnverlust hinsichtlich der Konsumgüter von 0,4 %. Beim Ausbleiben des Wachstums beim Massenkonsum nun von "Konsumzurückhaltung" zu sprechen, ist blanker Zynismus. Die Menschen haben schlicht kein Geld, und die Vorstandsmitglieder
der DAX-30-Unternehmen, die sich 2004 11 % mehr bewilligten und nun pro Kopf auf 1,42 Millionen Euro kommen, können das nicht rausreißen. Auch wenn  jeder der Reichen sich fünf Geländewagen und eine dritte oder vierte Immobilie zulegen würde, könnte dies einer auf Massenproduktion und Massenkonsum angelegten Wirtschaft nicht auf die Beine helfen.

Eine Stärkung der Binnennachfrage, allgemein als Voraussetzung eines konjunkturellen  Aufschwungs angesehen, kann nur zustande kommen, wenn sowohl die Lohnquote wie  die Sozialtransfers angehoben werden. Doch hat die Lohnquote 2004 ihren niedrigsten Stand seit 1960 erreicht, und die Sozialtranfers sind mit Hartz IV drastisch gekürzt worden. 2005 wird diese Politik von Regierung und Unternehmern fortgesetzt, die in den Tarifverhandlungen vorsorglich verlauten lassen, sie sehen "keinen Spielraum für die Erhöhung der tariflichen Personalkosten" (so der Tarifpolitische Beirat des Hauptverbandes  des Deutschen Einzelhandels). Firmen wie Siemens, VW, Opel und Daimler haben in  eigenen Tarifvereinbarungen effektive Lohnkürzungen durchgesetzt. Der private Konsum  wird dementsprechend auch weiter "hinter den Erwartungen" zurück bleiben, weil diese  Erwartungen angesichts der Strategien von Politik und Unternehmern wissenschaftlicher
Unsinn sind.

Den Instituten geht es aber gar nicht in erster Linie um wissenschaftlich seriöse Prognosen, es geht ihnen um Einflussnahme auf die Richtung der Wirtschaftspolitik. Sie warnen vor "Konjunkturprogrammen und Mindestlöhnen", weil dies die Unternehmen in ihrer freien Entscheidung – nämlich die Löhne nach Gutdünken zu drücken – hindern würde. Konjunkturprogramme sind ihnen deshalb unlieb, weil solche "schönen Maßnahmen" bei  den Bürgern die Illusion hervorrufen könnten, man könne vor den unangenehmen Folgen  der Globalisierung geschützt werden. Die Institute wollen die klare Linie der Produktion von weiteren Globalisierungsverlieren, für die Geld auszugeben sich nicht lohnt.

Nicht der Sachzwang von Weltmarkt und angeblichen Gesetzen des Binnenmarkts verewigt
die Konjunkturkrise und den sozialen Niedergang in Deutschland – sondern das Beharren auf neoliberalen Postulaten, die vor allem zum Nutzen der deutschen Exportwirtschaft sind. Die Forschungsinstitute kritisieren jetzt eine Regierungspolitik, die ihren früheren Empfehlungen stets eifrig gefolgt ist. Dass diese Medizin den Kranken, die deutsche Wirtschaft und vor allem die Beschäftigten und Arbeitslosen, immer kränker macht, veranlasst die Medizinmännern nicht etwa, die Therapie zu ändern, sondern die  Dosis weiter zu erhöhen.

Und wie reagiert die Bundesregierung? Sie korrigiert ihre Prognose auch nach unten, auf 1,0 %, was in der von Unsicherheit geladenen Atmosphäre beruhigen soll, aber mit Sicherheit eine Illusion ist. Doch hat Rot-Grün offenbar die Parole ausgegeben, mit Luftnummern bis zu den nächsten Wahlen – am 22. Mai in NRW – über die Runden zu kommen. So benutzt Minister Clement die Meldung, die Arbeitslosigkeit läge jetzt knapp unter fünf Millionen, zu der irren PR-Behauptung, der Trend zu steigender Erwerbslosigkeit sei gebrochen. Dabei liegt erstens die wahre Zahl von Arbeitslosen einschließlich der Kurzarbeiter und Vorruheständler bei über neun Millionen. Und zweitens ist die vier statt  der fünf vor dem Komma nur ein statistischer Trick. Viele der Antragsteller von Alg II wurden zurück gewiesen, womit sie zwar aus der Statistik herausfallen, aber deshalb  noch keine Arbeit haben. Und nicht mehr mitgezählt werden auch die über 120.000 Arbeitslosen, die mittlerweile Ein-Euro-Jobs angenommen haben. 600.000 sollen es nach  der Vorhersage des Ministers werden, da kann er noch manches Mal darauf hinweisen, wie tief jetzt doch die Hartz-Reformen greifen. Allerdings nur in der Statistik, nicht im wahren Leben.

Die größte aller Luftnummern aber liefert der SPD-Vorsitzende Müntefering, der jetzt die
Auswüchse des Kapitalismus geißelt, vor allem das Unpatriotische am deutschen Kapitalisten  beklagt, der sich durch Kapitalexport seiner vaterländischen Investitionspflicht entziehe. Dies sagt der Chef der größeren Partei der Regierungskoalition, die die steuerliche
Subventionierung von Auslandsinvestitionen erst eingeführt hat. Alle haben Recht,  die Münteferings Raubtier-Kapitalismus-Geschrei als bloße Wahlpropaganda einschätzen.  Aber doch ist es interessant, dass die SPD-Führung meint, man müsse mit antikapitalistischen  Formeln sich entfernende Wähler einfangen.

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde auszugsweise aus dem  isw-konjunkturbericht 2/05 entnommen.