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Neunzig Fragen - Neunzig Jahre nach Marx
von Yaak Karsunke & Günter Wallraff (1970)
Kursbuch 20, S.15f

Der von Marx in der ersten Aprilhälfte 1880 - auf Englisch - verfaßte Fragebogen für Arbeiter erschien erstmals - in französischer Übersetzung und anonym - am 20. April 1880 in der Zeitschrift La Revue Socialiste, deren Herausgeber Benoit Malon Marx zu diesem Unternehmen angeregt hatte. Ferner wurde der Fragebogen »in 25 ooo Exemplaren vervielfältigt und in mehreren Exemplaren allen Arbeitervereinen, allen soziali­stischen und demokratischen Gruppen und Zirkeln, allen französischen Zeitungen und allen Einzelpersonen übersandt, die darum baten«(1). Eine Notiz in der Revue Socialiste vom 5. Juli 1880 spricht von einigen bereits eingegangenen Antworten, deren Veröffentlichung jedoch bis zum Eintreffen einer größeren Anzahl zurückgestellt werde. Zu dieser Veröffentlichung ist es nicht gekommen, die existierenden Antworten müssen heute als verloren gelten.

Hilde Weiss hat 1936 in einem Aufsatz(2) auf die Doppelfunktion des Marx'schen Frage­bogens hingewiesen. Einmal handelt es sich um eine Sozialenquete zur Gewinnung von Daten, die sich von den bis dahin üblichen Enqueten des französischen Staates, von ihm beauftragter Organisationen und Einzelpersonen sowie privater Philanthropen schon dadurch prinzipiell unterschied, daß Marx sich ausschließlich und direkt an die Arbeiter selbst wandte. Das Dictionnaire de l'Economie politique (Paris 1854) betonte demgegen­über zum Stichwort »Enquetes«: »Man darf diejenigen, die befragt werden sollen, nicht an der Erhebung teilnehmen lassen.« Die von Unternehmern, Fabrikinspektoren und Verwaltungsbeamten erteilten Auskünfte über die Lage der Arbeiter waren verständ­licherweise ungenau und unvollständig.

Neben der Gewinnung präziserer Auskünfte hätte der Fragebogen jedoch noch einen zweiten Effekt erzielen können, über den Hilde Weiss schreibt: "Schon beim Lesen der hundert Fragen fügen sich dem Arbeiter die dort erörterten, scheinbar ganz selbstverständlichen und alltäglichen Einzelheiten zu einem Gesamtbild seiner Lage zusammen. Beim ernsthaften Versuch, die Fragen zu beantworten, wird ihm die gesellschaftliche Bedingtheit seiner Lebensumstände zum Bewußtsein gebracht. Er gewinnt Einsicht in das Wesen der kapitalistischen Wirtschaft und des Staates und lernt Mittel und Wege zur Aufhebung des Lohnarbeiterverhältnisses, zu seiner Befreiung kennen. Der Fragebogen bildet so den Rahmen eines sozialistischen Lehrbuches, das die Arbeiter durch Eintragung ihrer Erfahrungen mit lebendigem Inhalt erfüllen."(3)

Unsere neunzig Jahre später verfaßte Variante des Fragebogens für Arbeiter versucht, die Doppelfunktion der Vorlage zu erhalten und zu aktualisieren. Es wird also auch verschiedentlich nach Daten gefragt, deren Kenntnis bei den Befragten nicht zu erwarten bzw. nicht ohne weiteres vorauszusetzen ist. Die Antworten würden somit nicht nur Daten zur Lage, sondern auch Daten zum Bewußtsein der Befragten liefern — und u. U. zur Veränderung beider beitragen können.

Damit unterscheidet sich unser Modell von Fragenkatalogen, wie sie unter dem Stichwort »Betriebsanalyse« von verschiedenen Gruppen mit dem Ziel aufgestellt worden sind, ihre Betriebs- und Gewerkschaftsarbeit mit der erforderlichen Materialgrundlage zu versehen. Stellvertretend seien hier die »Fragen zu einer Betriebsanalyse« des Gewerkschaftlichen Arbeitskreises im Republikanischen Club Berlin(4) genannt. Ihr Bekanntwerden veranlaßte im Januar 1968 Herrn Walter Sickert, Landesvorsitzender des DGB Westberlin und Präsident des Westberliner Abgeordnetenhauses, zu Erklärungen wie: diese Fragen erfüllten »zum Teil den Tatbestand der Werksspionage«, die, die sie ausgearbeitet hät­ten, seien »von kommunistischer Seite ferngesteuert« und verfolgten »verfassungsfeind­liche Zielsetzungen«(5) Der ebenfalls der SPD angehörende Professor Peter von Oertzen (damals Technische Hochschule Hannover) erklärte dagegen: »Der Fragebogen des Ge­werkschaftlichen Arbeitskreises im Republikanischen Club versucht sehr sachgemäß, die für eine betriebsnahe Gewerkschaftsarbeit erforderlichen Informationen zu bezeichnen. Wer eine solche Erhebung als >kommunistisch< diffamiert, zeigt damit nur, daß er von den Erfordernissen praktischer Gewerkschaftsarbeit keine Ahnung hat und seine Un­kenntnis durch primitive Schimpfereien tarnen muß.«(6)

Unser Modell kann selbstverständlich einen detailliert betriebsnahen Fragebogen nicht ersetzen. Einige wichtige Punkte (ausländische Arbeiter, Frauenarbeit) haben wir nur angetippt, andere (z. B. Lehrlinge) ganz ausgeklammert. Für Arbeiter im öffentlichen Dienst müßte ein völlig anderer Fragebogen konzipiert werden. Es schien uns jedoch wichtig, die bewußtseinsanregenden Möglichkeiten des Marx'schen Modells konkret zeitgenössisch zu demonstrieren — Möglichkeiten, die ein nur auf Fakten-Ermittlung angelegter Fragenkatalog vernachlässigt.

Wir möchten uns abschließend bei allen Kollegen und Genossen bedanken, auf deren Vorarbeiten wir uns stützen konnten oder die uns bei unseren Vorarbeiten unterstützt haben.

Frankfurt am Main/Köln Yaak Karsunke — Günter Wallraff
 

Anmerkungen
1 Anmerkung der Revue Socialiste zur Erstveröffentlichung.
2 Hilde Weiss: »Die >Enquete Ouvriere< von Karl Marx«, Zeitschrift für Sozialforschung, Jahrgang V/1936, S. 76 ff.
3 A.a.O., S. 86,
4 Enthalten in Scheitern die Gewerkschaften im Betrieb? Arbeitsmaterialien zur inner­betrieblichen Aktion, zusammengestellt vom Gewerkschaftlichen Arbeitskreis im Re­publikanischen Club, Westberlin o. J. (1968).
5 Der Vorwurf der Werksspionage, damals juristisch nicht haltbar, ist inzwischen von einzelnen Unternehmern auf eine konkretere Grundlage gestellt worden: »Der von einem Mitarbeiter verlesene Einstellungsvertrag einer Hamburger Firma, der aus­drücklich das Beschreiben von Vorgängen im Betrieb mit Entlassung bedroht, beleuch­tet diese Situation unmißverständlich.« (Bericht über ein Treffen des Werkkreises »Literatur der Arbeitswelt« in Gelsenkirchen, Frankfurter Rundschau vom i. Juli 1970, S. 9).
6 Siehe Anmerkung 4, S. 16.