Euro-Retter „Fiskalunion“?

von Jacob Schäfer

07-2012

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Die Herrschenden in diesem Land – von den Wirtschaftsverbänden über die Regierung bis zu den bürgerlichen Medien – wollen uns weismachen, dass es in der aktuellen Zuspitzung der Euro-Krise im Wesentlichen um die Art und den Zeitpunkt der „Vergemeinschaftung der Schulden“ geht. Doch selbst das als Alternative gehandelte „Wachstumsprogramm“ und die direkten Hilfszahlungen an die Banken können die weitere Vertiefung der Krise nicht verhindern.

Die Regierungspolitik zielt auf eine Sanierung der Kapitalverwertungsbedingungen, im Wesentlichen über eine Absenkung unsres Lebensstandards, und zwar nicht nur in Südeuropa. Griechenland ist nur das fortgeschrittenste Beispiel, in den anderen Ländern der „Euro-Peripherie“ sind vergleichbare Schritte eingeleitet, und wenn die Krise auch bei uns angekommen sein wird, wird es auch hier breiteste Angriffe geben.

Aber damit allein kann dem Kapital keine ausreichende Lösung gelingen, denn die Krise ist auf einer strukturellen Ebene angelangt, die auch durch Absenkung der direkten und indirekten Lohnbestandteile (und der Kürzung der Mittel für die öffentliche Daseinsvorsorge) nicht behoben wird. Die Krise ist nicht von Bankern gemacht (oder durch Spekulanten hervorgerufen) oder aufgrund von falscher Ausgabenpolitik verursacht. Solche Faktoren sind völlig zweitrangig, bzw. spielen überhaupt keine Rolle. Die bürgerliche Krisenpolitik steckt vielmehr in einem gewaltigen Dilemma. Die Katze beißt sich nämlich so oder so in den Schwanz.

Kombination von Krisenursachen

Der weltweit strukturell wirkende Faktor ist die inzwischen enorm gestiegene Produktivität, die es einfach nicht zulässt, dass nach kapitalistischen Kriterien für die Produktion (und den Vertrieb) der maximal verkaufbaren Waren ausreichend Menschen beschäftigt werden können. Es gibt zwar einen großen Mangel an Gütern und Dienstleistungen für Hunderte von Millionen Menschen weltweit, aber sie haben keine ausreichende Kaufkraft. Sie werden im Kapitalismus (beim gegenwärtigen Stand der Technik) selbst für die Produktion von zusätzlichen Waren einfach nicht gebraucht (und haben folglich auch künftig keine Chance für eine Beschäftigung als Lohnarbeitende).

Die zweite Ebene der aktuellen Zuspitzung der Euro-Krise liegt in der seit etwa einem Jahr weltweit rückläufigen Konjunktur. Das hat zur Folge, dass die in Südeuropa heute wegbrechenden Absatzmärkte nicht durch erhöhte Exporte in andere Regionen ausgeglichen werden können. Die Möglichkeiten staatlicher Konjunkturpolitik sind inzwischen stark eingeschränkt, denn mit den gewaltigen staatlichen Subventionen der Banken und der jeweiligen einheimischen Industrien im Krisenjahr 2009 haben sich die meisten Länder völlig übernommen und lediglich die Krise von der Wirtschaft in den Staatshaushalt verlagert. 2009 wurden auf diese Weise weltweit sage und schreibe 3 Billionen $ in die Wirtschaft gepumpt (das entspricht etwa 5% des damaligen Welt-BIP). Die Überproduktionskrise (also eine nicht ausreichende Auslastung der Kapazitäten, bzw. eine „Überakkumulation“) ist aktuell in weiten Teilen der Welt schon direkt zu spüren, sie nähert sich auch dem „Kerneuropa“. „Die Schuldenkrise würgt die Konjunktur in der Euro-Zone immer stärker ab. Das Wirtschaftsklima ist inzwischen so schlecht wie seit der weltweiten Finanzkrise 2009 nicht mehr. Eine Rezession ist damit in diesem Jahr fast unausweichlich.“1

Die dritte Ebene ergibt sich aus dem spezifischen Konstrukt der Währungsunion (Euro-Raum), die keine Fiskalunion (s. Kasten) ist. Diese Fiskalunion kann auch nicht einfach per EU-Gipfel hergestellt werden, ganz unabhängig davon, in welche Worte die Regierungschefs ihre Rettungsmaßnahmen packen. Auch die heute als Ziel anvisierte „Bankenunion“ und die heute beschlossene Möglichkeit der direkten Hilfszahlungen an Banken ohne Strafmaßnahmen ändern nichts daran, denn ein einheitlicher Wirtschaftsraum – mit tatsächlich zentral beschlossenem Budget, gleichen Steuersätzen, gleicher Sozialpolitik und sich annähernden Profitraten – ist bei diesem komplexen und so unterschiedlichem Gebilde EU nicht per Ordre de Mufti herstellbar.

Dies wäre rein abstrakt und theoretisch unter den Kapitalverwertungsbedingungen von vor etwa hundert Jahren denkbar gewesen, aber unter den heutigen Bedingungen der weltweit vernetzten Produktion, des intensiven internationalen Handels und des Hochgeschwindigkeitshandels auf den Kapitalmärkten ist dies einfach nicht mehr umsetzbar.

Dass diese besondere Konstellation eine zusätzliche Belastung darstellt, sieht mensch daran, dass die Sorgen der Bourgeoisie vor allem dem Euro-Raum gelten. Nach Berechnungen der OECD wird die Staatsverschuldung in der Eurozone in diesem Jahr bei 99,1 % des BIP liegen. Im Vergleich dazu erwartet die OECD eine Staatsverschuldung von 108,6 % für die USA und von 214,1 % des BIP für Japan, also deutlich mehr. Aber in diesen Ländern gibt es nicht die Gefahren des plötzlichen Einbruchs ganzer Teile des jeweiligen Wirtschaftsraums mit den unüberschaubaren Folgen, die das auf den Märkten nach sich zieht. „Die Euroraum-Schuldenkrise drückt weltweit auf die Unternehmensgewinne. Von Procter & Gamble Co. bis Danone senken Konzerne ihre Prognosen für den Gewinn in diesem Jahr.“2

Von den anderen Ebenen der kombinierten weltweiten Krise – Ernährungskrise, Energiekrise, Klimawandel usw. – brauchen wir erst gar nicht reden. Sie sind unter kapitalistischen Bedingungen eh nicht zu bewältigen und können nur schlimmer werden.

Produktivitätsgefälle

Der entscheidende Faktor für die besondere Potenzierung der Krise im Euro-Raum ist das durch die Währungsunion sich vergrößernde Produktivitätsgefälle zwischen den nationalen Wirtschaften. Wenn sich vor allem die weniger kapitalintensiven südeuropäischen Industrien nicht mehr mit einer Abwertung wehren können, ist es nur logisch, dass sie von den produktiveren Unternehmen vor allem Deutschlands niederkonkurriert werden. Ein Vorsprung in der Produktivität wird damit zum Ausbau dieses Vorsprungs genutzt, was sich in einer wachsenden Kluft der Lohnstückkosten ausdrückt:


Quelldaten: Eurostat, Grafik: J. Schäfer

 


Quelldaten: Statistisches Bundesamt; Grafik. J. Schäfer

Zu dieser eh schon ungünstigen Entwicklung addiert sich die verheerende Sparpolitik, mit der Berlin versucht, den existierenden Vorsprung zu nutzen und die relative Dominanz zu einer absoluten Dominanz auszubauen. Kein Wunder also, dass im Vergleich zum Vorkrisenniveau (also zu 2007) die griechische Industrieproduktion um 33% einbrach, die portugiesische um 26,1%, die spanische um 28,5% usw. Allein in Italien ist die Industrieproduktion in einem Jahr um 11,9% zurückgegangen.

Funktion des Euro

Auf diese Weise ist das Bruttoinlandsprodukt der BRD seit Einführung des Euro – genauer: aufgrund der Euroeinführung – bis 2010 um 165 Mrd. € (= 6,4%) gewachsen3. 42% der deutschen Exporte gehen in den Euro-Raum, insgesamt 60% in die EU. Das anfängliche Wachstum des BIP in den südeuropäischen Ländern (aufgrund geringerer Zinssätze bei der Geldaufnahme) hat sich jetzt in sein Gegenteil verkehrt. Gäbe es heute den Euro nicht mehr, müsste die deutsche Währung nach unterschiedlichen Schätzungen zwischen 20 und 45% aufgewertet werden. Die realistischsten Schätzungen lagen m. E. Mitte 2011 bei 30%, heute sind es natürlich schon mehr und könnten gut und gerne 35% und mehr ausmachen.

Eine solche Verteuerung deutscher Waren im Ausland hätte verheerende Folgen für die hiesige Exportindustrie, die zu etwa einem Drittel zum BIP der BRD beiträgt. Eine bisher in der deutschen Geschichte noch nicht da gewesene Entlassungswelle wäre die Folge, aber eben auch ein beträchtlicher Einbruch bei den Kapitalverwertungsmöglichkeiten. Deshalb bangt die deutsche Bourgeoisie so sehr um den Euro. Würde sie Griechenland einfach fallen lassen, würde sich das Kippen Spaniens, Italiens usw. nur beschleunigen.

Somit ist aber nicht nur die deutsche Bourgeoisie in einem realen Dilemma: Eine handlungsfähige gemeinsame europäische Regierung, die die großen volkswirtschaftlichen Unterschiede (und damit auch die Kapitalverwertungsbedingungen) einebnen könnte (notfalls mit ökonomischer oder außerökonomischer Gewalt), gibt es nicht. Die deutsche Bourgeoise – und in ihrem Auftrag die Merkelregierung – versuchten zwar die ganze Zeit, über die von ihr diktierte Schuldenbremse diese absolute Dominanz durchzusetzen, aber es fehlt ihr einfach die ökonomische Substanz, um dies auch abzusichern. Der Anteil der BRD am BIP des Euro-Raums beträgt gerade mal 27%, das reicht nicht, um allen anderen endlos den eigenen Willen aufzuzwingen4. Nur zur Illustration der eigenen Grenzen: Aktuell bürgt die BRD bei ESM und ESFS für 310 Mrd. €. Zum Vergleich: Der Bundeshaushalt umfasst dieses Jahr 312 Mrd. €.

Angesichts der nicht zu bewältigenden Strukturprobleme dieses komplexen Gebildes und vor dem Hintergrund der internationalen Krise, die mehr und mehr eine systemische Krise ist, nehmen sich die heute beschlossenen Maßnahmen (direkte Bankenhilfe ohne „Auflagen“, also ohne Strafmaßnahmen usw.) als völlig hilflos aus. Selbst die von der Bundesregierung angestrebten Mittel: Kontrolle der Kreditaufnahme, europäische Finanzaufsicht und Einlagensicherung, Ziel einer Koordinierung der Steuerpolitik usw. würden an den Mechanismen des Niederkonkurrierens und des Zusammenbrechens südeuropäischer Wirtschaften nichts ändern.

Mit anderen Worten: Wir müssen heute konstatieren, dass eine kapitalistische Vereinigung Europas zu einem Bundesstaat – und darüber eine Minderung des spezifischen Krisenproblems Euro-Zone – nicht möglich ist. Und jetzt, wo den südeuropäischen Regierungen das Wasser bis zum Hals steht und sie sich zum ersten Mal erkennbar gegen die Berliner Politik gewehrt haben, geht die Rechnung für die Bundesregierung nicht mehr auf. Ihre Vabanque-Politik wird in Kürze für alle sichtbar scheitern, denn mit dem ewigen Rausschieben wirksamer Hilfen ist der Merkelregierung die Zeit weggelaufen. Dies wird in Kürze auch von den deutschen Mainstreammedien, die bisher ebenfalls – und fast ausnahmslos – auf die deutsche Dominanz setzten, als ein Fehlschlag verzeichnet werden. Aber selbst die Einführung von Euro-Bonds vor bspw. 2 Jahren hätte an den grundlegenden Ungleichgewichten nichts geändert, sondern im besten Fall für die südeuropäischen Länder die Zuspitzung der Krise rausgezögert (und dafür die Verschärfung der Krise in der BRD beschleunigt).

Es versteht sich, dass auch der Ausweg des Gelddruckens, den die EZB faktisch seit einiger Zeit betreibt, im besten Fall die Zuspitzung der Krise etwas rausschieben kann. An den grundlegenden Ungleichgewichten kann dies selbstredend nichts ändern. Hinzu kommt: Die EZB kauft seit einigen Jahren Staatsanleihen (faktisch zu 0% Zinsen) auf, aber die hinterlegten Sicherheiten taugen nichts, sprich: Im Grund wird schon heute Falschgeld gedruckt, denn die EZB hat das Geld gar nicht, das sie ausgibt. Sie hat 480 Mrd. € im Tausch für Asset Backed Securities und 360 Mrd. € für nicht marktfähige Titel Geld verliehen. Insgesamt (also mit den „normalen“ Krediten an Banken) hatte die EZB schon Mitte letzten Jahres 1,8 Billionen Euro verliehen. Ihr Eigenkapital beträgt gerade mal 82 Mrd. €.

Wenn diese Politik (sie ist die bequemste, weshalb Berlusconi sie im Mai erneut empfohlen hat; siehe Kasten) verschärft wird, wird sich die Inflation beschleunigen, mit den bekannten Folgen für die lohnabhängige Bevölkerung.

Aus dem gewachsenen Widerstand der südeuropäischen Regierungen resultiert natürlich noch lange keine andere Politik. Sie kann auch nicht vonseiten der Bourgeoisie kommen, denn mit bürgerlichen Mitteln ist die Krise nicht zu bewältigen. Sie ist überhaupt nur mit einer antikapitalistischen Systemalternative herzustellen. Und der erste Schritt dazu muss die breite, international koordinierte gemeinsame Abwehr der Angriffe auf die soziale Sicherheit sein.

29.6.2012
 

Unter einer Fiskalunion versteht man die gemeinsame Fiskalpolitik innerhalb eines föderalen Staates oder mehrerer Länder. Eine Fiskalunion verfügt über gemeinsame Institutionen, die befugt sind, mittels der Beeinflussung von Steuern und Staatsausgaben Fiskalpolitik zu betreiben und so zum Beispiel regionale und konjunkturelle Schwankungen auszugleichen. Die entsprechende vertragliche Vereinbarung nennt man „Fiskalpakt“. Wikipedia
Die OECD warnt in ihrer neuesten Prognose (Mai 2012) vor einem „Abwärtstrend in der Euro-Zone“. „Vor diesem Hintergrund wächst die Gefahr eines Teufelskreises, der durch eine hohe und nicht abnehmende Verschuldung, ein schwaches Bankensystem, eine zu starke fiskalische Straffung und ein niedriges Wachstum in Gang gesetzt werden könnte.“

Berlusconi im Mai 2012:
"Wir müssen nach Europa gehen und mit Macht erklären, dass die EZB anfangen muss, Geld zu drucken", sagte Berlusconi. "So ändert sich die Wirtschaft. Die EZB muss ihren eigenen Auftrag ändern, muss der letztinstanzliche Garant der öffentlichen Schulden werden und anfangen, Geld zu drucken."

Zu den fälligen Zahlungen der südeuropäischen Länder, die auch mit den Beschlüssen vom 29.6.2012 selbstverständlich nicht hinfällig werden, siehe http://www.querschuesse.de/daten-aus-der-desasterzone-spanien/

Anmerkungen

1 Reuters Deutschland 28.6.2012

3 Quelle: Eurostat und McKinsey-Schätzungen

4 BIP der BRD: 2,57 Bio. €; BIP des Euro-Raums: 9,41 Bio. €

 

Editorische Hinweise

Den Text  erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.