"Ich habe deutlich andere Kriterien als der Großteil der Gesellschaft."
Ein Flaschensammler aus Neukölln

von Anne Seeck

07-2012

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Berlin- Kreuzberg. Kotti am Freitag. Zwischen U- Bahnhof und Kaisers wimmelt es von Menschen. Ein ungemütliches Pflaster. Karsten steht mit voller Tasche vor Kaisers, am Eingang blitzt eine leere Bierpulle. Er beteuert, dass er hier die Flaschen stehen läßt. Denn das kann Ärger geben. Viele sind hier auf Droge und reagieren heftig, wenn man was wegnimmt. Auch greife er nicht tief in Papierkörbe, er hätte keinen Bock auf abgeschlagene Flaschenhälse.

Das Sammeln von Pfandflaschen kann gefährlich sind, einen Tag zuvor riskierte ein Dortmunder für 25 cent sein Leben. Er sammelte Flaschen in den Gleisanlagen des Hauptbahnhofes. Am ersten Oktober letzten Jahres war ein Flaschensammler im Berliner Landwehrkanal ertrunken. Der 33-Jährige hatte mit einem Bekannten nach Pfandflaschen gesucht. An einer Anlegestelle fielen ihm mehrere Flaschen ins Wasser. Als er hinabstieg, um sie herauszufischen, stürzte er ins Wasser. Der Mann konnte nur noch tot geborgen werden.

Ein lohnendes Geschäft ist das Flaschensammeln nicht. Karsten steht nun vor dem Leergutautomaten. Für 15 Flaschen und eine Dose bekommt er 1,59 Euro. Dafür hat er fast zwei Stunden gesammelt. Sonst schaffe er die Strecke in einer Stunde, betont er. Er steuert sogleich den Getränkestand an. Das Geld reicht für drei Angermann- Bier. Über dem Getränkestand sind gleich drei Rauchmelder angebracht, das sei merkwürdig. Wären wohl versteckte Kameras, wie er aus dem Internet erfahren hat.

Seine Tour ging in Neukölln los, seinem Wohnort. Gleich am Anfang spricht er fachmännisch über seine Arbeitskleidung. Passende Musik hätte er immer dabei. Das Wichtigste seien bequeme Schuhe und die Tasche müsse groß genug sein. Nichts sei ärgerlicher, wenn kein Platz mehr in der Tasche sei. Aber sie reiche fast immer. Dass sich die Ladenöffnungszeiten verlängert hätten, sei aus seiner Perspektive gut. Tagsüber lohne sich das Sammeln nicht, er sammelt abends. Im Supermarkt sei es kein Problem, das Leergut loszuwerden. Im Späti sei das schon eher problematisch, dort müsse er auf die Mitleidsschiene machen oder an den Geschäftssinn appellieren, um Erfolg zu haben. Der erste Eindruck sei entscheidend. "Nicht nur das Sammeln auch das Abgeben ist eine Herausforderung."

Bei Kaisers im Kindle Boulevard spuckt der Leergutautomat 63 cent für sieben Flaschen aus. Für die "Kalte Muschi"- Cola mit Rotwein- gibts kein Pfand, resümiert Karsten lächelnd. Das Einlösen des Pfandbons gestaltet sich dann etwas langwieriger, vor ihm steht ein Asylbewerber mit Gutschein. Auch hier reicht sein Geld für zwei Angermann- Bier. Karsten hat während des Sammelns immer ein offenes Bier in seiner Innentasche, von dem er gelegentlich einen Schluck nimmt. Es sei der "Suchtdruck", eher "Konsumdruck" revidiert er sich. Schließlich müsse er oft konsumieren, um zum Beispiel die Flaschen in Spätis abgeben zu können.

Unterwegs resümiert er über U- Bahnhöfe. Endbahnhöfe lohnen sich nicht, da räume die Firma Sasse den Müll weg. Aber Umsteigebahnhöfe, da ließen Leute auf dem Weg zum Bus ihr Bier stehen. An der U- Bahn Boddinstraße lohnt es sich nicht wirklich. Auch Nebenstraßen würden sich eher lohnen als Hauptverkehrsstraßen. Als wir in der Reuterstraße am Sitz der MLPD vorbeikommen, lästert er: "Die MLPD sollte mit der FDP fusionieren, damit sie beide zusammen über 5% kommen." Paar Meter weiter prangt ein Plakat "Da tobt der Klassenkampf", gemeint ist ein Fußballspiel zwischen Aalen und Babelsberg. In der Weserstraße ist es dann für Freitagabend verdammt leer.

Am Kottbusser Damm ist auch nicht viel los. „Die Deutsche Bank ist auch pleite, die können sich die Filiale nicht mehr leisten.“, kommentiert Karsten. Die hätten jahrelang wohl nicht gemerkt, dass sie zwei Filialen dicht beieinander betrieben hätten. Bei einem Spätkauf am Kottbusser Damm hätte der Mitarbeiter jede einzelne Flasche kontrolliert. Karsten fehlten zwei Cent, um eine neue zu kaufen, weil der eine Flasche nicht annahm. Das sei ein echtes Arschloch gewesen.

Die Graefestraße sei noch interessant, die nehme er auf dem Rückweg mit. Allerdings bessere Gegend bedeute nicht mehr Einnahmen. "Am meisten sammeln kannst du in der Gegend, wo die Leute wenig Geld haben. In diesem Sinne bin ich ein Armutsprofiteur. Aber ich tue ja was für mein Geld." Gelegentlich kommt "Konkurrenz" vorbei, kaputte Bierflaschen kommentiert er: "Was für eine Geldverschwendung". Auch Parks seien für ihn nicht attraktiv, da sei die "Konkurrenz" zu groß. "Wenn ich merke, dass sich die Strecke nicht lohnt, gehe ich die auch nicht mehr. Im Jargon der Wirtschaftslogistik nennt sich das Routenoptimierung." Vor 19 Uhr und nach 3 Uhr lohne sich das Flaschensammeln nicht. Bei schlechtem Wetter würde es sich auch nicht lohnen, weil die Leute eher zu Hause blieben. "Schlechtes Wetter= schlechtes Ergebnis". Das Flaschensammeln hätte viel mit Intuition zu tun, Flaschensammler hätten meistens eine gute Ortskenntnis. "Flaschensammeln schult die Beobachtungsgabe, schult den Blick für kleine Details." Und er legt nach: "Ich weiß nicht, ob ich so`n typischer Vertreter bin."

Als Kind sei er oft im Kino gewesen, meistens allein. "Da kannst du träumen. Das ist eine größere Welt." Seine Eltern hätten sich früh getrennt, da habe er versucht, durch provoziertes Fehlverhalten von beiden das meiste herauszuholen. Daher hätte er auch sein „Ur- Mißtrauen“, das ihn „beratungsresistent“ macht. „Grenzen austesten“ sei das Motto seines Lebens. Neben dem Film sei auch Theater sein Interesse gewesen. Improvisationstheater, das Umdeuten von Gegenständen als Methode hätte er am Institut für Tanz und Theater gelernt. "Heute ist die Straße meine Bühne.", sagt er. Gelernt hätte er dann aber erst mal Industriekaufmann mit guter Note und im Schnelldurchlauf. Als die Bundeswehr kam, ist er nach Westberlin. „Ich wollte weg.aus dieser beschränkten, spießigen Enge.“

Dann in Berlin Abitur auf dem 2. Bildungsweg. Er bewarb sich an der Hochschule für Film und Fernsehen und bei einer Journalistenschule, kam bis in die zweite Runde. Dann begann er Nordamerika- Studien und schließlich Theaterwissenschaften und im Nebenfach Informationswissenschaften zu studieren. Er wollte während des Studiums lieber praktisch in der Filmbranche arbeiten. „Ich wollte nicht der große Theoretiker werden. Mein Medium ist Film.“ Ihm wurde gesagt: „Vollkommen Wurst, was du studierst. Was zählt, sind Kontakte und Erfahrungen.“ Bei den Kontakten hätte er sich einschleimen müssen, so sammelte er Erfahrungen. Aber er wurde ausgebeutet, sagt er. So bekam er für die Übersetzung von 42 Minuten einer amerikanischen Fernsehserie 250 DM, für die Tonassistenz von fünf Wochen Dreharbeiten 400 DM. Studentenjobs. Er nennt das „Verarschung“. Weil er dann nicht alle Scheine hatte, ist er aus dem BAFÖG- Bezug herausgefallen. Dann begann er ein Medieninformatik- Studium, das er mit Nebenjobs finanzierte. Er studierte und arbeitete Vollzeit. Ein Semester vor dem Abschluß, mit 30, kam die Krankenkasse, er sollte das Dreifache bezahlen. Dabei hatte er zu der Zeit bereits Miet- und Stromschulden. Er konnte sein Studium nicht mehr finanzieren und flog von der Hochschule.

Jetzt begann der Absturz: „Burnout, heftige Depression plus Alkohol. Dann ging es los mit Ehrenrunden durch Therapien und Psychiatrie.“ Er probierte Medikamente aus, machte Therapien, war in der Psychiatrie und in einer Tagesstätte für psychisch Kranke. In einer Klinik ging es ihm gut. „Aber die Welt in der Klinik sieht anders aus als die Welt draußen. Da ging es mir schlagartig wieder schlechter.“, so Karsten. Dann schrieb er wieder Bewerbungen. Bei einer Zeitarbeitsfirma klappte es. Ein Jahr arbeitete er als IT- Mitarbeiter bei einer Firma. Da die Abteilungsleiter gegeneinander arbeiteten, geriet er zwischen die Fronten. Als die Befristung vorbei war, ging er nicht mehr hin. „Wenn die nicht mit mir reden, dann rede ich mit denen auch nicht.“, kommentiert er seinen Entschluß.

Seit 2001 arbeitet er nicht mehr. „Ich habe mich in mein Privatleben zurückgezogen. Einen festen Tagesrhythmus und einen wirklichen Plan habe ich leider nicht. Wirklich sinnvoll ist das alles nicht.“ Seine Depressionen bekämpfe er mit zwei bis drei Liter Bier am Tag. Die Schulden belaufen sich auf 10,15 000 Euro. Wegen eines Meldeversäumnisses ist sein Hartz IV um 30% gekürzt. Karsten hat kein Wasser und keine Heizung. Seine Wohnung wurde zu Ende November 2011 wegen Eigenbedarf gekündigt, aber der Eigentümer der Wohnung sei Entwicklungshelfer und lasse ihn noch in Ruhe. Der alte Vermieter hatte das Haus verrotten lassen und sei im Gefängnis gewesen. Jetzt wird alles in Eigentumswohnungen umgewandelt, das Haus ist eine Baustelle. Wann er raus muß, ist eine Frage der Zeit. Da er beratungsresistent sei, könne er auch keine Hilfe annehmen. „Ich weiß, dass ich auf den Abgrund zustürze. Als Lebensform Mensch sehe ich für mich keine Perspektive.“, so Karsten. Außerdem: „Das Leben, wofür andere Menschen achtzig Jahre brauchen, das habe ich im Schnelldurchlauf schon durch.“

Auf dem Weg nach Friedrichshain wächst die Aufmerksamkeit für den Flaschensammler. Die touristischen Hochburgen merke man schon. Friedrichshain sei exotischer, da trinken die Leute anderes als in Neukölln. Sonst seien es 70% Bierflaschen, 20% Dosen und 10% Modegetränke. Im U- Bahnhof Schlesisches Tor wird eine Party gefeiert. Zwei Bereitschaftswagen stehen davor.

Gestern hätte in Friedrichshain ein Teenager vom Dorf herumgepöbelt. Der sei wohl zum ersten Mal in Berlin gewesen und hätte mehr getrunken, als er vertragen könne. Die Bullen hätten ihn fünf bis sechs mal gewarnt, aber er hätte weiter provoziert. Zum Schluß waren wegen ihm vier Bullenwagen im Einsatz. Ab der Oberbaumbrücke dann auffällig viele Touristen und Partyvolk. Zwei Männer schauen angeekelt, als Karsten sich wie üblich einen Zigarettenstummel aufhebt. Auf der Warschauer Brücke dann zerbrochene Bierflaschen, Sekt, Wein, Schnaps, aber kein Pfand. Am Eingang von Kaisers an der Warschauer Straße steht Security und weist alle Flaschensammler ab. Beide Leergutautomaten funktionieren, aber sie hätten Anweisung von oben, mit vollen Taschen Flaschen dürfe man nicht rein. Karsten resümiert: "Mir ist es ziemlich egal, dass andere auf mich herunterblicken. Anhand welcher Kriterien sagst du, was ein Mensch wert ist. Ich habe deutlich andere Kriterien als der Großteil der Gesellschaft."

2003/04 wäre er in die linke Szene gekommen. „Ich habe ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsverständnis.“ 2006 sei er für die WASG Wahlkampfhelfer gewesen. Aber die hätten ihn auch nur benutzt. Zuerst war eine euphorische Stimmung, später hätten sich die Wahlkampfleiter nicht mehr für jene interessiert, die auf der Straße gestanden hätten. Danach hat sein politisches Engagement spürbar nachgelassen.

Entsprechend seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten habe er in seinem Leben alles getan, was er für richtig halte. „Ich bin nicht bereit, nach unten zu treten, damit es mir selbst besser geht.“ Ihm fehle aber die Fähigkeit, Nähe zuzulassen. Das mache einsam. Beruflich sehe er keine Perspektive mehr in dem Bereich, wo seine Talente und Fähigkeiten liegen. Das seien Analyse, logisches Denken, Softwareentwicklung. Da müßte er sich nach der langen Pause wieder einarbeiten. Das Jobcenter hat Weiterbildungen abgelehnt. Die Filmbranche hätte er wegen der ganzen Selbstdarsteller abgeschrieben. Vom Jobcenter wurde ihm das Callcenter vorgeschlagen. Dabei habe er eine Sprachstörung, weil er zu lange nachdenke, bevor er was sage.

Das Flaschensammeln sei ein Nullsummenspiel. Es lohne sich nicht wirklich. Mit dem Flaschensammeln hätte er vor fünf Jahren aus Geldnot begonnen. Motivation seien aber auch Neugier und sportliche Gründe gewesen. So sitze er nicht in der Wohnung. Auf der Straße seien nun aber Eindrittel mehr Flaschensammler unterwegs. Die meisten seien älter als 40, die große Mehrheit Männer. Die krasseste Armut hatte er einmal am U- Bahnhof Leinestraße gesehen. Eine 70jährige Frau sammelte mit einem Rollator Flaschen. Er hätte ihr das Geld gegeben und die drei Aldi-Tüten mit Flaschen weggebracht. Sonst gebe es unter Flaschensammlern wenig Solidarität.

Als er bei einem Abschlußbier in einer Kreuzberger Kneipe gefragt wird, was er beruflich mache, antwortet er: „Ich arbeite an der Rohstoffbörse und mache angewandte Marktforschung. Außerdem bin ich im Umweltschutz aktiv und mache im Nebenjob bisschen Sozialberatung.“

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Editorische Hinweise

Den Text  erhielten wir von der Autorin für diese Ausgabe.