Persönlichkeit und Gesellschaft

von Paul A. Baran

07-2013

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Die Psychoanalyse übt heute einen Einfluß aus, der wahrscheinlich größer ist als der jeder anderen Lehre oder Schule, die zur Bildung unseres „Kollektivbewußtseins" beiträgt. Seitdem Marx seinen gewaltigen Versuch unternahm, die geschichtliche Entwicklung zu begreifen, war sein wichtigster bürgerlicher Gegenspieler, was ich „Psychologismus" nennen möchte. Obwohl dieser „Psychologismus" in verschiedenen Formen auftrat und verschiedene Gestalt annahm, stützte er sich von jeher auf zwei Pfeiler: Erstens wurde der gesellschaftliche Prozeß auf das Verhalten des Einzelnen zurückgeführt, zweitens betrachtete man den Einzelnen als ein Wesen, das von psychischen Kräften beherrscht wurde, die angeblich tief in der „menschlichen Natur" eingebettet liegen — einer Natur, die selbst wiederum einen im wesentlichen festen biologischen Aufbau hat.

Allmählich wurde diese Auffassung aber angesichts weitreichender tatsächlicher Veränderungen und des ständig wachsenden Wissens um die Geschichte und den Menschen immer unhaltbarer, und der herkömmliche „Psychologismus" wurde in den Hintergrund gedrängt. Was seinen Platz einnahm, war eine neue Abart des „Psychologismus": eine Mischung aus Freudscher Psychoanalyse und quasi-Marxscher Soziologie — eine Lehre, die ich „Sozialpsychologismus" nennen möchte. Dieser Debütant auf der ideologischen Bühne unterscheidet sich von seinem verblichenen Vorgänger dadurch, daß er freimütig zugibt, das Individuum sei keineswegs Herr seiner selbst, sondern unterliege gesellschaftlichen Einflüssen, in gewisser Weise werde es von der gesellschaftlichen Umwelt geformt, in der es aufwächst. Entscheidend ist hierbei jedoch, daß die Gesellschaft als „Umgebung" angesehen wird: als Familie, Berufsschicht, als Beziehungen zu Rassen, der Wohngemeinschaft und ähnlichem.

Wir müssen uns die Auswirkungen beider Standpunkte vor Augen führen. Wenn, wie im ersten Fall, die „menschliche Natur" den geschichtlichen Werdegang bestimmt und diese „menschliche Natur" unveränderlich ist, dann müssen alle Versuche, eine umwälzende Veränderung des menschlichen Charakters und der Grundlagen der Gesellschaftsordnung herbeizuführen, von vornherein zum Scheitern verurteilt sein. In diesem Falle können wir sogleich alle Hoffnung auf eine Gesellschaft ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, ohne Ungerechtigkeit und ohne Krieg begraben, weil all dies — Ausbeutung, Ungerechtigkeit, Krieg — eine unvermeidliche Wirkung der ewigen Eigenschaften des Menschen-Tieres sind. Eingeschlossen in seine ewige „Natur" wäre dann der Mensch in alle Ewigkeit dazu verdammt, seine Erbsünde abzubüßen. Niemals könnte er eine freie Entwicklung in einer Gesellschaft erstreben, die von Mensch-

lichkeit und Vernunft geleitet wird. Man braucht kaum hinzuzufügen, daß aus solchen Voraussetzungen eine konservative oder tatsächlich reaktionäre Haltung gegenüber allen brennenden Fragen unserer Zeit folgt, eine Haltung, die nach dem Herzen des konservativen Teils der herrschenden Klasse ist.

Der „Sozialpsychologismus" führt zu anderen Schlüssen. Denn die Behauptung, daß die menschliche Entwicklung von der gesellschaftlichen „Umwelt" bestimmt wird und von den Beziehungen zwischen den Menschen, von den familiären Verhältnissen usw. abhängt, läßt offensichtlich den Schluß zu, daß die entsprechenden „Anpassungsmaßnahmen" in der herrschenden Umgebung bedeutsame Verbesserungen im menschlichen Leben bewirken körinen. Größere Gemeinsamkeit und mehr Liebe, mehr Schulen und Krankenhäuser, mehr Genossenschaften und Familienberatungsstellen wären dann die richtige Antwort auf das menschliche Dilemma in unserer Gesellschaft.

Wie jede Ideologie sind jedoch weder „Psychologismus" noch „Sozialpsychologismus" reine Halluzinationen, die in keinerlei Beziehung zur wirklichen Welt stehen. Eine jede von ihnen spiegelt, wenn auch auf verzerrte, ideologische Weise, eine Seite der tatsächlichen Seinsverhältnisse des Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft wider. Durch Verkündung einer lauttönenden Lüge — der Lüge von der souveränen Macht des Individuums in unserer Gesellschaft — spiegelt der Psychologismus die Verlassenheit, Beziehungslosigkeit und Kraftlosigkeit des Menschen im Kapitalismus wider und kommt so der Wahrheit bedeutend näher als das seichte liberale effekthascherische Schlagwort, das behauptet, wir selbst hätten unser Leben in unserer Hand und könnten es formen. In diesem Sinn erfaßt der „Psychologismus", der das Prinzip des homo homini lupus (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) zur ewigen Wahrheit erhebt und den Menschen als eine von Natur aus selbstsüchtige aggressive Monade betrachtet, die unbarmherzig um einen Platz auf dem Markt kämpft, mehr von der kapitalistischen Wirklichkeit als jene Theorie, die uns glauben machen möchte, daß man den Charakter des kapitalistischen Menschen durch scheinheilige Predigten über Liebe, Produktivität und die Bruderschaft der Menschen ändern könne. Wenn Ausbeutung, Ungerechtigkeit und Krieg den Charakter der Menschen seit Jahrhunderten formen, ist es offenbar viel zutreffender, den so geschaffenen Charakter als einen gewaltigen Felsblock zu betrachten, der nicht lo leicht von der Stelle gerückt oder verändert werden kann, als mit den oberflächlichen Weltverbesserern die menschliche Haltung durch rührendere Predigten, Bundeserzie-hungsbeihilfen, durch die Erweiterung der Nahrungsmittelgesetzgebung oder die Wahl eines demokratischen Präsidenten ändern zu wollen.

Auch der „Sozialpsychologismus" spiegelt wichtige Seiten unserer Gesellschaft wider. Wenn er die Schrecken unserer Kultur, den erbärmlichen Zustand unseres Erziehungssystems, das Elend unserer Städte enthüllt und das schauderhafte „Klima" schildert, in dem Puertoricaner, Mexikaner und arbeitslose Weiße in Amerika leben, kommt der „Sozialpsychologismus" der Wirklichkeit des Kapitalismus näher als die begeisterten Lobredner des freien und ungehinderten privaten Unternehmertums. Da er aber gleichzeitig diese gesellschaftlichen Verhältnisse auf „unseren" Mangel an Aufklärung, „unsere" Unfähigkeit, sinnvoll zu handeln, auf die Macht der „Konvention" und ähnliche psychische Umstände zurückführt, drückt sich in ihm auch die Weigerung aus, die Ursachen dieses Übels zu sehen. Und dies ist es, was den wesentlichen und wirklich entscheidenden Grundzug der herrschenden Ideologie ausmacht. Überdies ist der Sozialpsychologismus, der all diese Krankheiten durch die verschiedenartigsten „Anpassungen" heilen will, mit dem Geist der Manipulation verbunden, in dem das Großkapital Problemen, die in den Betrieben auftauchen, durch Methoden wie der Einrichtung von Erholungsstätten für die Arbeiter oder Aufwendung größerer Geldmittel für die Marktforschung und Reklame oder durch die Einführung einer neuen Luxusmode begegnet. So wird der Sozialpsychologismus zu einer der wichtigsten Richtungen — wenn nicht der wichtigsten Richtung überhaupt —, in der Ideologie des Monopolkapitalismus, die danach trachtet, die schreiendsten Unsinnigkeiten, die augenscheinlichsten Ungerechtigkeiten des kapitalistischen Systems auszumerzen, um seine Grundlagen zu erhalten und zu festigen.

Wenn man jedoch die ideologische Natur des Psychologismus und des Sozialpsychologismus enthüllt, ist nur ein Teil des Nötigen getan. Aber auch diese Aufgabe kann nur gelöst werden, wenn man die Unterschiede zwischen beiden Lehren klar versteht und diese ideologische Entwicklung sorgfältig als eine Widerspiegelung der Veränderungen der ihr zugrunde liegenden ökonomischen, sozialen und politischen Wirklichkeit selbst untersucht. Der Marxismus hat sich jedoch dieser Aufgabe, wie es bei den meisten Problemen der Fall ist, die mit dem Monopolkapitalismus und seiner Entwicklung auftauchen, nur halbherzig gewidmet. Da sie zwischen dem altmodischen Psychologismus und seiner modernen, spitzfindigeren Abart nicht unterschieden, suchten die Marxisten im Westen wie auch in der Sowjetunion diese neuere Strömung mit Argumenten zu widerlegen, die für die ältere, inzwischen zurückgedrängte Richtung gelten. Man war freilich hierzu versucht, denn es bereitet wenig Mühe, die bekannten Argumente vorzubringen: Sie sind alle in den Werken von Marx und Engels und in den Schriften späterer Marxisten leicht verfügbar.

Schwerer wiegt jedoch, daß eine andere Aufgabe bisher unbeachtet blieb. Das ist die Trennung der Spreu vom Weizen, die Herauslösung der echten wissenschaftlichen Einsichten aus der ideologischen Flut des Sozialpsychologismus, auch wenn sie darin untergegangen sein mögen. Für die Entwicklung des Marxismus ist nichts wesentlicher als die Klärung und die Aufnahme wissenschaftlicher Fortschritte, wie sie die bürgerliche Wissenschaft erreicht, wenn sie von der rücksichtslosen Enthüllung und Entwurzelung ihrer vielfältigen ideologischen Zusätze begleitet ist.

So haben die Marxisten gegenüber der Psychoanalyse — einer Lehre, auf die sich der Sozialpsychologismus im wesentlichen stützt und die sich von früheren Theorien, die dem Psychologismus zugrunde liegen, beträchtlich unterscheidet — den Standpunkt vertreten, daß all dies nichts anderes sei als Ideologie, die jedes wissenschaftlichen Inhalts entbehre. Diese Haltung beruhte zum großen Teil auf der Annahme, daß Freuds beharrliche Beschäftigung rrflt den irrationalen Ursachen des menschlichen Verhaltens gleichbedeutend mit der Glorizifierung der Irrationalität, mit ihrer Erhebung auf den Stand einer endgültigen, unerklärlichen, unwandelbaren Determinanten menschlicher Aktivität sei. Wäre dies Freuds Ansicht gewesen, so gäbe es in der Tat nicht mehr viel, das ihn von den zahlreichen Philosophen des Romantizismus und des Existenzialismus unterschiede. Und doch wird der Hauptteil seiner Arbeit, wenn er auch in dieser Richtung starke Neigung hatte, die vor allem in seinen letzten Schriften zum Ausdruck kamen, von ganz anderen Absichten geleitet. Nachdem er erkannte — was gar nicht diskutiert zu werden braucht —, daß die Irrationalität einen großen Teil des menschlichen Verhaltens beherrscht, widmete Freud sein Lebenswerk dem Versuch eines rationalen Verständnisses der irrationalen Beweggründe. Weit davon entfernt, die Irrationalität für eine elementare Erscheinung zu halten, die wissenschaftlicher Analyse völlig unzugänglich ist, versuchte Freud, eine umfassende Theorie zu entwickeln, die eine rationale Erklärung irrationaler Triebe ermöglicht.

Um es vorwegzunehmen, dieses weitgesteckte Ziel blieb außer Reichweite. Trotzdem gelangte Freud weiter als jeder andere vor ihm und — ich darf es hinzufügen — jeder nach ihm, wenn es ihm auch nicht gelang, eine zufriedenstellende Erklärung für das menschliche Verhalten zu geben. Wie in der bürgerlichen Kultur der Marxismus Erbe und Beschützer alles Wertvollen und Fortschrittlichen ist, obliegt es dem Marxismus heute, Freuds Arbeit an dem Punkt wiederaufzunehmen, an dem Freud sie verlassen hat, um seine Einsichten für die Erarbeitung einer rationalen Theorie des menschlichen Verhaltens und der menschlichen Betätigung auf gute Weise zu nutzen.

Ich behaupte, daß nur der Marxismus diese Aufgabe erfüllen kann. Denn die marxistische Theorie der sozialen Triebkräfte wirft ein helles Licht auf die Faktoren, die das menschliche Verhalten im Grundsätzlichen bestimmen. Dazu ist es nötig, einige der zentralen — wenngleich auch vernachlässigten — Marxschen Gedankengänge wiederaufzunehmen. Da meine These in der gebotenen Kürze nicht genügend begründet werden kann, möchte ich versuchen, meine Bemerkungen in eine „Telegrammstil-Fassung" zu bringen.

Für die Betrachtung des Menschen in Marxscher Sicht ist es wichtig, daß es für Marxisten eine ewige, unveränderliche „menschliche Natur" nicht gibt. Abgesehen von dem, was man als die biotische Unveränderliche bezeichnen könnte, ist der Charakter des Menschen Produkt der Gesellschaftsordnung, in die er hineingeboren wurde, in der er aufwächst und deren Luft er sein ganzes Leben hindurch atmet; er ist ihr Ergebnis und tatsächlich eine ihrer wichtigsten Erscheinungsweisen. Dabei muß man sich vor Augen halten, daß das, was in der Marxschen Theorie als „Gesellschaftsordnung" bezeichnet wird, bestenfalls ein entfernter Verwandter der „Gesellschaft" ist, wie sie der Sozialpsychologismus versteht. Der Sozialpsychologismus bemüht sich, wie wir gesehen haben, um die „Umgebung", die „zwischenmenschlichen Beziehungen" und um andere Seiten jener Erscheinungen, die zusammen die Oberfläche des gesellschaftlichen Seins ausmachen. Der Marxismus dagegen schließt in den Begriff der Gesellschaftsordnung die Form der sozialen Herrschaft der betreffenden Zeit und den Entwicklungsstand ein, den Produktivkräfte, Produktionsweise und Produktionsverhältnisse erreicht haben. All das bildet zusammen die Grundstruktur der bestehenden sozialen Organisation.

Veränderungen der Gesellschaftsordnung (in der Marxschen Bedeutung des Wortes) brauchen, tiefgreifend und umwälzend wie sie stets sind, Jahrhunderte, um zu reifen. Nur wenige haben sich im Laufe der Geschichte vollzogen. So sind auch die Veränderungen der menschlichen Natur nur sehr allmählich vor sich gegangen. Während diese Veränderungen in weiter historischer Sicht ungeheure Ausmaße annehmen, spielten sie doch im Leben ganzer Generationen nur eine verschwindend geringe Rolle. Es wäre indessen ein Trugschluß, wollte man von der Langsamkeit des Wandels im menschlichen Charakter auf seine völlige Unwandelbarkeit schließen. Dieser Irrtum führt zum Psychologismus und zum Glauben an die dauernde Gleichartigkeit der menschlichen Art. Umgekehrt ist es nicht weniger trügerisch, wenn man aus der Tatsache, daß sich überhaupt ein Wandel vollzieht, seine Schnelligkeit bestimmen wollte. Dieser Irrtum führt wiederum zum Sozialpsychologismus und zu der Illusion, man könne das menschliche Wesen durch „gutes Zureden" oder durch einige „soziale Reparaturen" innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung wiederherstellen.

Eine ernst zu nehmende Untersuchung muß das menschliche Verhalten in seinem weitgespannten tatsächlichen Zusammenhang betrachten, in dem Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung den Inhalt der entsprechenden geschichtlichen Epochen bestimmen und ihnen das Gesicht geben. So kann sich auch die Erforschung des menschlichen Charakters nicht auf leere Verallgemeinerungen wie den „Menschen im allgemeinen" stützen oder bedeutende Einsichten von einer noch so sorgfältigen Untersuchung eines unterstellten konkreten Gegenstandes, etwa des „Gewerkschaftsmannes", des „Handelskammer-Managers" oder des „Herrn im grauen Flanellanzug" erwarten.

Der tatsächliche Gegenstand unserer Untersuchung muß heute das menschliche Wesen sein, das mit bestimmten ererbten Charaktermerkmalen auf die Welt kommt und als Glied einer Klasse der kapitalistischen Gesellschaft oder — genauer -- der höchstentwickelten Stufe der kapitalistischen Gesellschaft, des Monopolkapitalismus, aufwächst. Abgesehen von der biologischen Seite muß eine solche Untersuchung also zunächst das Verständnis der wesentlichen Umstände, die die menschliche Existenz unter der herrschenden Gesellschaftsordnung bestimmen, zum Ziel haben. Besonders fällt dabei die außerordentliche Ausdehnung der gesellschaftlichen Produktivkräfte ins Auge.

Auf der Grundlage einer geradezu unwahrscheinlichen Unterwerfung der Natur (einschließlich der menschlichen Natur) durch die Gesellschaft bewirkte dieses Wachstum der Produktivität eine ungewöhnlich gesteigerte Rationalität des Produktionsprozesses und auch des geistigen Antlitzes des modernen Menschen. Es entspricht der kapitalistischen Ordnung — und es ist tatsächlich einer ihrer auffallendsten Züge —, daß diese Fortentwicklung der Rationalität auf verschlungene und widersprüchliche Weise vor sich gegangen ist. Es war in erster Linie ein Fortschreiten einer Teil-Rationalität, die auf bestimmte Bereiche des gesellschaftlichen Gefüges beschränkt blieb. So hat die Leistung industrieller und landwirtschaftlicher Unternehmen, die Rationalität ihrer Führung, ihrer Kosten-, Preis- und Gewinnrechnungen und ihrer Bemühungen, den Markt zu beeinflussen, ein nie dagewesenes Ausmaß erreicht. Aber das Anwachsen einer teilweisen Rationalität war nicht von dem entsprechenden Wachstum der Rationalität als Ganzem, der Total-Rationalität in Aufbau und Wirkung der Gesellschaft begleitet. Diese Rationalität hat sich tatsächlich verringert; das MißVerhältnis zwischen Total- und Teil-Rationalität tritt immer stärker hervor. Man wird sich dessen erst voll bewußt, wenn man an den Gegensatz zwischen der automatisierten, elektronisch kontrollierten Fabrik und der Wirtschaft als Ganzem mit ihren Millionen von Arbeitslosen und weiteren Millionen nutzlos beschäftigten Menschen denkt; wenn man die Sorgfalt in Betracht zieht, mit der überflüssiges Chrom an unpraktischen Autos angebracht wird, wenn man sich vergegenwärtigt, daß ein aufs beste ausgebildetes Personal die wirksamsten Methoden zur Herstellung einer neuen Seife in palastartigen Bürotürmen austüfteln wird, die nach dem letzten Wort der Wissenschaft neben schmutzigen Slums errichtet werden, in denen vielköpfige Familien in einem einzigen verwahrlosten Raum hausen. Aber am furchtbarsten tut sich der Abgrund auf, der die Teile vom Ganzen trennt, wenn man die atemberaubende Produktivkraft, die im Atom beschlossen liegt, und das Elend, die menschliche Verkommenheit vergleicht, die das Dasein eines großen Teils der Menschheit in den unterentwickelten Ländern vergiftet.

Der Hauptgrund für diese offenbare Spaltung zwischen Teil- und Total-Rationalität, zwischen dem immer mehr hervortretenden „Wissen, wie" und dem immer geringeren „Wissen, was", ist die Entfremdung des Menschen von seinen Produktionsmitteln, eine Entfremdung, die sich in der Geschichte des Kapitalismus immer mehr ausgeprägt hat und die in seiner gegenwärtigen monopolistischen Phase noch gewichtiger wird. Zweifellos hat die Konzentration der Produktionsmittel in den Händen einer kleinen Gruppe von Oligarchen, die ruhig und „rationell" über ihre Unternehmerreiche herrschen und die niemandem als sich selbst und ihrem unveränderlichen Auftrag, den Profit zu erhöhen, verantwortlich sind, zur Erhebung des Produktionsapparates zu einer Macht jenseits des Individuums und über das Individuum geführt. Diese Macht beherrscht das Dasein des einzelnen, ist einer Kontrolle durch ihn jedoch ganz unzugänglich. Zu keiner Zeit in der Geschichte hat die Verfügungsgewalt über die Produktivkräfte eine so maßlose allgegenwärtige Gewalt über Leben und Tod von Millionen Männern, Frauen und Kindern verliehen.

Das Tückischste und zugleich Unheilvollste an dieser überwältigenden Macht der vergegenständlichten Produktionsverhältnisse aber ist, daß sie das seelische Leben des einzelnen entscheidend zu bestimmen vermag. Denn der Konflikt zwischen ganzheitlicher und teilweiser Rationalität gibt nicht nur der ganzen kapitalistischen Kultur den Grundton, sondern dringt auch tief in das Wesen des Menschen ein, der in den allgegenwärtigen Institutionen, Werten und Gewohnheiten, die diese Kultur ausmachen, erzogen und von ihnen geformt wird. Die

Bedürfnisse des Produktionsprozesses verlangen nach der Entwicklung immer besser ausgebildeten, intelligenteren „Menschenmaterials". Um seinen Lebensunterhalt am Fließband, im Büro oder beim Verkauf in modernen Unternehmen zu verdienen, muß man mehr Intelligenz und Fähigkeiten besitzen, als sie ein früheres Stadium der kapitalistischen .Entwicklung erforderte. Ein Großteil der Arbeit, 'die früher von Autorität, Tradition und Intuition bestimmt wurde, gründet sich heute auf festgelegte Abläufe und genaue Messungen. Diese rationalisierten, „vernünftigen" Anstrengungen dienen jedoch einem völlig irrationalen, unvernünftigen Ziel; der Arbeiter hat nichts mehr mit dem Ergebnis des Produktionsprozesses zu tun, in dem er eine verschwindend kleine Rolle spielt, und dieses Ergebnis ist für ihn ohne Sinn und Bedeutung; es kann seine Tätigkeit weder durch das Wissen um das Ziel noch durch den Stolz auf seine Leistung zu irgendeiner Bedeutung erheben.

Dieser sich unaufhörlich wiederholende Zusammenprall zwischen dem, was man „geringstmöglichen Sinn" und „größtmöglichen Wahnsinn" nennen könnte, ist jedoch nur eine Seite der Sache. Die andere — und wichtigere — ist der große Einfluß, den der Mangel von ganzheitlicher Rationalität auf die Entwicklungsweise und das Wesen der Teil-Rationalität hat. Hier muß eingeschränkt werden, was oben über die Leistungen der „Teil-Rationalität" gesagt wurde. Denn die Vernunft ist unteilbar, und die Unvernunft des Ganzen kann nicht mit der Vernünftigkeit im einzelnen harmonieren. Das eine bedroht ständig das andere, und ihre Feindschaft findet in einem der schärfsten Widersprüche des kapitalistischen Systems ihren Ausdruck. Wie die Irrationalität des Ganzen ständig aufrechterhalten werden muß, wenn Ausbeutung, Verschwendung und Vorrechte, wenn, mit einem Wort, der Kapitalismus am Leben bleiben soll, wird die Rationalität in einzelnen Bereichen der Gesellschaft durch das Streben nach Profit und die Erfordernisse der Konkurrenz verstärkt.

So schreitet die Teil-Rationalität — wenn auch unsicher und unregelmäßig — ständig voran, aber dieser Fortschritt wird von der Irrationalität der Gesellschaftsordnung verbogen und entstellt. Er ist also alles andere als gleichmäßig. Einiges bedeutet einen echten Fortschritt für das rationale Verständnis der Welt und für die Entwicklung der Produktivkräfte. Das gilt für vieles, was im Bereich der Mathematik und Naturwissenschaft und auch auf einigen Gebieten der Geschichtsforschung geleistet worden ist. Auf anderen Gebieten jedoch ist das, was sich als größere Rationalität kundgibt, nichts anderes als die Erweiterung und Propagierung des geschäftsmäßigen „Wissen, wie", der „Vernunft" des kapitalistischen Marktes. Die geistige Leistung, die sich an der Marktbeziehung orientiert, richtet sich auf die Manipulation im Interesse der großen kapitalistischen Unternehmen. Was sie fördert, ist die „praktische Intelligenz", die Fähigkeit, das Beste aus einer bestimmten Marktlage herauszuholen, jeden Vorteil im Kampf aller gegen alle so gut wie irgend möglich zu nutzen. Auf diese Weise wurden Physik und Chemie zu einem großen Teil in den Dienst von Krieg und Zerstörung gestellt; viele mathematische und statistische Begabungen wurden in Werkzeuge der monopolistischen Marktkontrolle und Profiterhöhung verwandelt; die Psychologie verkaufte sich als Gehilfin der „Motivforschung" und der Betriebsführung; die Biologie wurde zur Zofe des „Make-up", Kunst, Sprache, Farbe und Ton wurden zu Werbemitteln erniedrigt.

Unter solchen Umständen verkrüppelt die menschliche Vernunft unweigerlich, und ihre Fortentwicklung wird in eine Richtung gedrängt, die keine Beziehung mehr zu Bedürfnissen der Gesunderhaltung des Menschen, zu menschlichem Glück und Fortschritt hat. Der Zwang, alles als gegeben hinzunehmen, wird zu einer Fessel der menschlichen Fähigkeit zu denken und zu verstehen. Die niederdrückende und erstickende Wirkung dieser Fessel wächst mit der Unvernunft des Hingenommenen.

Die Tatsache, daß man den Kapitalismus für selbstverständlich hielt, als er eine im wesentlichen fortschrittliche Gesellschaftsordnung war, störte die Entwicklung der Teil-Rationalität wenig (oder förderte sie sogar). Wenn man dagegen die Herrschaft des Monopolkapitals mit all der Verschwendung und der Zerstörung, die sie im Gefolge hat, ungeprüft als Bestandteil der natürlichen Ordnung der Dinge zu betrachten hat, so kann in einer solchen Zwangsjacke die Vernunft nur noch ersticken. Auf diese Weise wird der Widerspruch von Teil-und Total-Rationalität durch den nicht weniger heftigen Kampf zwischen der Vernunft und ihrer Abwertung, der den Bereich der teilweisen Rationalität selbst beherrscht, zusätzlich kompliziert und bt'astet.

Dies hat zahlreiche Folgen, von denen hier nur zwei verdeutlicht werden sollen. Erstens verdichtet sich die Rationalität, wie sie unter diesen Umständen besteht, zu einem System von Regeln, Verhaltens- und Denkweisen, das nicht nur den menschlichen Erfordernissen nicht gerecht wird, sondern zu einem furchtbaren Hindernis für die menschliche Entwicklung, zu einer Gefahr für das Weiterleben der Menschheit wird. Da die bürgerliche Rationalität immer mehr zur Rationalität der Herrschsucht, der Ausbeutung und des Krieges wird, lehnt sich der einfache Mann gegen diese Zerstörung all seiner Hoffnungen auf Frieden, Glück und Freiheit auf. Da er jedoch mit einem „gesunden Menschenverstand" begabt ist, der ihm von der bürgerlichen Kultur mit allen Mitteln eingebleut wird und dessen hauptsächliches Gebot die selbstverständliche Anerkennung der kapitalistischen Rationalität ist, kann er es kaum vermeiden, die Vernünftigkeit des Kaufens, Verkaufens und des Profit-Machens der Vernunft schlechthin gleichzusetzen. Seine Auflehnung gegen die kapitalistische Rationalität, gegen die Rationalität der Märkte und Profite, wird so zur Revolte gegen die Vernunft selbst. Dies alles macht ihn zu einer leichten Beute der Irrationalität.

Irrationaütät und Aggressivität sind daher in unseren Zeiten nicht Erscheinungen des unveränderlichen menschlichen Instinkts, in ihnen drückt sich auch nicht eine „natürliche" Ablehnung der Vernunft aus. In erster Linie sind sie in unserer Zeit ein Reflex der Weigerung, die Rationalität des Kapitalismus als geheiligt und unverletzlich hinzunehmen. In ihnen kommt der Protest gegen die Verstümmelung und Abwertung der Vernunft um der kapitalistischen Herrschaft willen zum Ausdruck. Dieser Aufschrei gegen die bürgerliche Rationalität wird ebenso wie ihre Gleichsetzung mit der Vernunft hervorragend in Dostojewskis „Idiot" beschrieben. Wenn er „die Vernunft ausspeit" und sich voller Zorn dagegen verwehrt, daß zwei mal zwei vier sein soll, gibt dies die Lage des Irrationalismus trefflich wieder. Wir sehen hier die Haltung des „Idioten" von einer Seite, die man nicht aus den Augen verlieren sollte: der „Idiot", so irrational und „verrückt" er auch sein mag, hat im Grunde völlig recht, wenn er „die Vernunft ausspeit", wenn er sich weigert, sich der Logik von Zwei-mal-zwei-gleich-vier zu beugen. Denn diese Logik ist die Logik des kapitalistischen Marktes, der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Logik der Privilegien, der Unsicherheit und des Krieges. Seine Verachtung für diese Rationalität, seine Auflehnung gegen den „gesunden Menschenverstand" der menschlichen Misere ist eine irrationale Reaktion auf eine verderbliche Gesellschaftsordnung. Es ist die einzige Reaktion, die einem isolierten und hilflosen Einzelwesen bleibt, das unfähig ist, die Kräfte zu verstehen, von denen es zermalmt wird, und daher nicht wirksam gegen sie angehen kann. Diese Reaktion ist die Neurose.

Zweitens beruhte die Entwicklung der Produktivkräfte und der gleichzeitige Fortschritt der Rationalität auf einer ungeheuren Ausdehnung der menschlichen Herrschaft über die Natur. Die Folge war zunächst, daß mehr Güter erzeugt und mehr Dienstleistungen in Anspruch genommen wurden, daß sich der allgemeine Gesundheitszustand besserte und die Bildung wuchs. Hinzu kam eine Verminderung der körperlichen Anstrengungen. Dieser Fortschritt aber wurde nicht nur durch die Ausdehnung'der menschlichen Herrschaft über die Erscheinungen und Kräfte der Außenwelt erreicht; er beruhte auch auf einer vielleicht noch tiefer gehenden Unterwerfung der Natur des Menschen selbst. Diese Unterwerfung hat zwei, wenn auch in engem Zusammenhang stehende, Seiten.

In der vorkapitalistischen Zeit schloß sie die Entstehung und Weiterentwicklung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ein. Die Ausbeuterklassen entzogen den beherrschten Bevölkerungsschichten Mehrprodukt und benutzten dies, ihre bevorrechtete Stellung in der Gesellschaft zu sichern. Einen kleineren oder größeren Teil dieses Mehrprodukts legten sie in Produktionsmitteln an oder benutzten ihn zur Unterhaltung militärischer, religiösen oder kultureller Einrichtungen. Der Ausdruck „Mehrprodukt" ist, auf diese Zeit angewandt, freilich reine Beschönigung. Da die Produktivität nur sehr langsam stieg, war der Zustand noch nicht erreicht, in dem der Verbrauch der herrschenden Klasse, ihre Aufwendungen für produktive Investitionen und für religiöse, militärische und andere Zwecke sich auf eine ausreichende Menge von Waren und Dienstleistungen für das Volk stützen konnte. Nackte Gewalt und ein ausgeklügeltes System politischen Zwangs spielten schon von jeher eine große Rolle bei der Gewinnung der nötigen Mittel. Aber trotzdem hätte keines von beiden diese Aufgabe erfüllen können, wären nicht religiöse, rechtliche und moralische — mit einem Wort: ideologische — Vorstellungen entstanden und propagiert worden, die die Raffgier der herrschenden Klassen rechtfertigten und im Laufe der Jahrhunderte zu einem weitgeknüpften Netz von Gedanken, Überzeugungen, Ängsten und Hoffnungen wurden, die das Volk zwangen, die Rechte seiner Herren zu achten und ihre Forderungen anzuerkennen.

Mit der kapitalistischen Ordnung wurde ein neues Kapitel eröffnet. Nun mußte der Mensch eine weitere „Anpassung" durchmachen. Den Eigenschaften, die beispielsweise in den Holzfällern und Wasserträgern alter Zeiten geweckt würden, mußte ein neues, überaus wichtiges Kennzeichen hinzugefügt werden, das der Rationalität. Denn nun genügte es nicht mehr, ein gehorsamer und selbstloser Sklave oder ein grausamer und habgieriger Gutsbesitzer zu sein; was nun verlangt wurde, war ein fleißiger, gelehriger, tüchtiger und zuverlässiger Arbeiter in einem den Profit hochtreibenden, im Wettlauf um den Markt gleichsam bis zur Stromlinienform rationalisierten kapitalistischen Unternehmen. Dies brachte die wahrscheinlich einschneidendste Umwandlung mit sich, die die „menschliche Natur" bis jetzt erfahren hatte. Wenn der Mensch in der früheren Geschichte durch Ausbeutung und Herrschaft unterwürfig geworden war, verlangte der Grundsatz der kapitalistischen Ordnung, daß er zu rechnen und mit Voraussicht und Überlegung zu handeln lerne. Was von seiner elementaren Gefühlsbetontheit und Ursprünglichkeit Übriggeblieben war, nachdem ihn jahrhundertelang die Peitsche seiner Herren züchtigte, geriet nun unter den viel systematischeren, viel nachhaltigeren Druck des hart und genau kalkulierenden Marktes.

Da es ohne Zweckdenken unmöglich wäre, in der kapitalistischen Gesellschaft zu bestehen, wurde jederlei Spontaneität bald nicht nur im Produktionsablauf als störend empfunden, sondern auch als Gefahr für die Stabilität der klassenbeherrschten und ausbeuterischen Gesellschaftsordnung überhaupt gefürchtet. Vom ersten Anfang der kapitalistischen Ära an wurde die Spontaneität in jeder Weise wirtschaftlich bestraft und gesellschaftlich verächtlich gemacht. Die Heftigkeit dieses Angriffs wurde noch von dem Apparat der bürgerlichen Ideologie und Kultur übertroffen, die so Gegensätzliches wie christliche Religion und Militaristische Philosophie in sich vereinigen.

In der heutigen monopolistischen Phase des Kapitalismus hat sich diese Attacke erweitert und verstärkt. So wie die menschlichen Beziehungen in den großen Unternehmen notwendigerweise darauf abgestimmt wurden, „sich Freunde zu machen" und „Menschen zu beeinflussen", so hat man aus der Liebe ein wissenschaftlich approbiertes Mittel zur medizinisch angeratenen sexuellen Befriedigung gemacht, während man Schönheit mit den genauen Maßen der Miß Amerika gleichsetzt und Natur, Musik, Literatur und Kunst danach bewertet, ob sie der „Entspannung" dienen. Nicht, daß dieser Feldzug gegen die Spontaneität jemals geplant oder von einem Komitee kapitalistischer Weiser geführt worden wäre, obwohl die professionellen Marx-Gegner, deren Ignoranz dem Marxismus gegenüber nur noch von ihrer Unfähigkeit, ihn zu begreifen, übertroffen wird, dem Marxismus eine solche Ansicht seit jeher unterschieben. Da Ausbreitung des Zweckdenkens und Abwertung der Spontaneität vielmehr alles andere als vorbedachte gutgeplante Kriegslisten der herrschenden Klasse sind, die man darauf berechnet hat, Wünsche und Bestrebungen der unteren Bevölkerungsschicht zu unterdrücken, üben sie ihre Wirkung auch auf die Angehörigen der herrschenden Klasse selbst aus und machen sie im Laufe der Zeit zu den unglücklichen Wohltätigkeitsempfängern einer unglücklichen Gesellschaft.

Das Teuflische an der Sache scheint mit zu sein, daß das auf den Markt gerichtete Zweckdenken und die vom Markt beeinflußte Unterdrückung der Spontaneität, die Privilegierte wie Nicht-Privilegierte den Erfordernissen des kapitalistischen Marktes gleichermaßen „anpaßt", alles, was Freud, und vor ihm Marx und Engels, als die Quellen des menschlichen Glückes bezeichneten, völlig zerstören: die Freiheit der individueüen Entwicklung und die Fähigkeit zu genießen. Indem sie die Empfindungsfähigkeit des einzelnen mit einem strengen Tabu belasten und das, was davon übrigbleibt, in Aggressivität umsetzen, die allein auf das Ziel gerichtet ist, Erfolg zu haben und die Gegner im Konkurrenzkampf aus dem Felde zu schlagen, erzeugen sie eine „Affektverkrüppelung" und verursachen eine Erscheinung, die Marx als „Entfremdung des Menschen von sich selbst" in ihren richtigen theoretischen Zusammenhang gebracht hat. Diese Entfremdung des Menschen von sich selbst — die Verstümmelung des Individuums, die Unterjochung seiner Natur unter die Erfordernisse des kapitalistischen Unternehmens, die tödliche Verwundung seiner Spontaneität und die Verbildung seiner Persönlichkeit zu einem selbstsüchtigen, berechnenden Teilnehmer am Lebensprozeß der kapitalistischen Gesellschaft — ergibt den Rahmen, in dem sich die seelische Gestalt des Menschen bildet.

Nur innerhalb dieses Rahmens lassen sich die Ursachen der seelischen Störungen in unserer Zeit erkennen, und nur so kann ich eine Möglichkeit ihres tatsächlichen Verständnisses sehen. Der Psychoanalyse war es nicht gegeben, zu diesem Verständnis zu gelangen.

Daß Freud sexuelle Abnormitäten als die Hauptursache für seelische Störungen erkannte, bedeutet gewiß einen Fortschritt im psychologischen Denken selbst. Was Freuds Theorie jedoch — trotz aller gegenteiligen Behauptungen -nicht zu geben vermag, ist eine befriedigende Erklärung der sexuellen Verirrungen selbst. Freud war sich dieser Schwäche seiner Lehre sogar bewußt, aber er war bei dem Versuch, diese so bedeutsame Lücke zu füllen, wenig erfolgreich. Er zog sich zum Psychologismus oder zum Sozialpsychologismus zurück: Entweder wich er auf den Standpunkt aus, daß die menschliche Natur und die innerfamiliären Beziehungen, wie sie in der Ödipusfigur symbolisiert werden, gleichermaßen unveränderlich seien, oder er nahm seine Zuflucht zu oberflächlichen Hinweisen auf die Kindererziehung und die sexuelle Aufklärung. Von keiner dieser Seiten aus konnte er dem zentralen Problem beikommen, dem sich die Psychologie gegenwärtig gegenübersieht: der Frage, welche Rolle die mehr oder weniger unveränderlichen biotischen Faktoren bei der Bildung der seelischen Struktur des Menschen spielen, und der Frage nach dem tiefgehenden Einfluß, den die Entfremdung des Menschen in der Gesellschaft des Monopolkapitalismus auf die menschliche Seele hat.

Marxisten haben — beeindruckt von den Leistungen Pawlows und seiner Schule — ihre ganze Aufmerksamkeit der biologischen Seite der Sache zugewandt und neigen dazu — und das ist widersprüchlich genug —, an Marx' revolutionärem Beitrag zur Psychologie, der Soziologie der Psyche, vorüberzugehen.

Während die Bedeutung der psychologischen Faktoren für das menschliche Verhalten gar nicht diskutiert zu werden braucht, muß man doch erkennen, in welchem Maße Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung des Kapitalismus und die Entfremdung, die sie herbeiführen, das seelische und auch das körperliche Verhalten des Menschen in der kapitalistischen Ära formen. Denn es ist unmöglich, die sexuellen Verirrungen ohne die vom Kapitalismus verursachte Schrumpfung der Spontaneität zu erklären. Die schwindende Fähigkeit, sexuelle Befriedigung jeder Art zu erfahren, bleibt ohne das vorn Kapitalismus geförderte Zweckdenken, die Selbstsucht und die Aggressivität unverständlich. Ich würde sogar bis zu der Behauptung gehen, daß die menschliche Aktivität in unserer Gesellschaft nur als Ergebnis einer dialektischen Wechselbeziehung zwischen biotischen Kräften und dem Wirken der Gesetzmäßigkeiten des Monopolkapitalismus zu verstehen ist, wobei diese die biotischen Kräfte beherrschen, unterjochen und leiten.

Es ist von weitreichender Bedeutung, die Wechselbeziehungen zwischen diesen bestimmenden Kräften des menschlichen Seins im Kapitalismus zu erkennen, weil die gewaltige Dynamik der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf den Drehpunkt deutet, von dem aus, wenn die Zeit reif ist, die Geschichte ihren Lauf ändern und die Entwicklung des Menschen sich zu einer vollkommeneren Verwirklichung seiner psychischen, emotioneilen und rationalen Fähigkeiten wenden wird. Weder in Beruhigungspillen noch in der „sozialen Anpassung" findet sich die Hebelkraft, die dies vollbringen könnte, man gewinnt sie auch nicht, indem man Liebe zur Produktivität predigt. Sie muß in der Errichtung einer vernünftigeren, menschlicheren Gesellschaft und in der Beseitigung einer Gesellschaftsordnung gefunden werden, die auf Herrschaft und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen gegründet ist. Die Erwartung allerdings, daß man das jahrhundertealte Erbe des Kapitalismus in einer verhältnismäßig kurzen — wenn auch ereignisreichen — Übergangszeit beseitigen könnte, spiegelt nur die Haltung des Sozialpsychologismus wider, und diese ist hier ebenso trügerisch wie in anderen Fällen. So ist es kein Zufall, daß viele, die sich den Ansichten des Sozialpsychologismus anschließen, zu den strengsten Kritikern der schon bestehenden sozialistischen Gesellschaftsordnungen gehören. Sie verurteilen die Sowjetunion und sogar China, weil diese die Entfremdung des Menschen noch nicht aufgehoben und den sozialistischen Menschen noch nicht geschaffen haben. Forderungen nach Unmöglichem zu erheben, ist jedoch nicht besser, als gar nichts zu fordern. Die sofortige Verwirklichung von Wandlungen zu verlangen, die sich nur langsam auf der Grundlage tiefgreifender Veränderungen und nur durch die Teilnahme am Kampf für eine bessere Gesellschaft einstellen können, ist gleichbedeutend mit der Desertion vom Kampffeld selbst.

Am Schluß dieser Darlegungen möchte ich noch bemerken, daß dies alles nicht heißen soll, es könnte für Kranke keine Möglichkeiten geben, eine Erleichterung durch die jederzeit zugänglichen Mittel psychiatrischer Behandlung zu finden. Die häufig getroffene Feststellung, daß der Grad des Erfolges der Psychotherapie meist von der psychologischen Schule, zu der sich der Therapeut bekennt, unabhängig ist und viel eher von dem Können und der Persönlichkeit des Arztes und der Aufmerksamkeit abhängt, die er dem Patienten widmet, deutet darauf hin, daß eine gutfundierte Theorie, die der psychotherapeutischen Praxis zugrunde liegt, überhaupt fehlt. Darüber hinaus scheint der verhältnismäßig große Erfolg der Psychotherapie bei der Behandlung einzelner Symptome nervöser Störungen und die allgemein zugegebene Erfolglosigkeit von Bemühungen um die Heilung von Charakterneurosen die schon eingangs dargelegte Ansicht zu bestätigen, daß die Erscheinungen, die der Charakterneurose zugrunde liegen, der Behandlung in individuellem Bereich unzugänglich sind. Wenn man darauf beharrt, Charakterstrukturen im individuellen Bereich ändern und ein gesundes, gutfunktionierendes und glückliches Individuum „produzieren" zu wollen, so stellt dies in sich selbst schon eine Ideologie dar. Diese reißt Individuum und Gesellschaft auseinander und übergeht das Wirken der Entfremdung des Menschen im Kapitalismus. Sie verhüllt die schmerzliche, aber unvermeidliche Wahrheit, daß die Krankheit der Gesellschaft, in der der Mensch lebt, der Heilung der menschlichen Seele Grenzen setzt.

Editorische Hinweise

Der Text ist ein Referat, das Paul A. Baran anläßlich des zehnjährigen Bestehens von „Monthly Review"  am 19. Mai 1959 in New York gehalten hat. Erstveröffentlicht auf  Deutsch  in: Periodikum für den wissenschaftlichen Sozialismus: Eine internationale Monatszeitschrift, Heft 14, München Dezember 1959.

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