Jürgen Brumm ist tot
Nachruf auf einen Freund und Genossen

von Karl-Heinz Schubert

07-2013

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Am 24. Mai 2013 starb mein Freund und Genosse Jürgen Brumm nach einem schweren Lungenleiden  im Alter von 72 Jahren.


Jürgen in den 1970er Jahren

1969 lernte ich Jürgen als einen von Wahrhaftigkeit und Humanismus geprägten, literarisch und künstlerisch umfassend gebildeten Menschen im Sozialistischen Club Neukölln (SC), der überwiegend aus Jungarbeitern und Lehrlingen bestand, kennen. Beide waren wir politisch geformt von den einschneidenden politischen Ereignissen und den sozialrevolutionären Aktivitäten der davor liegenden Jahre (Ermordung von Benno Ohnesorg, Vietnamkongress, Mordanschlag auf Rudi Dutschke, Anti-Springer-Kampagne, Kampf gegen die Notstandsgesetze, Pariser Mai, Prager Frühling, chinesische Kulturrevolution).

Jürgen, der Ältere von uns beiden, hatte - während ich noch in Westberlin das Gymnasium besuchte - zwischen 1960 und 1966 Jura und Philosophie in Heidelberg, Freiburg und Berlin studiert. Inspiriert zu diesem Schritt wurde er durch Diskussionen über sozialistische Politik und Utopien, die er zuvor regelmäßig zwischen 1957 und 1960 in einem kleinen Arbeitskreis Gleichaltriger organisiert hatte.

Jürgen, der nach dem Studium als Buchhändler arbeitete, hatte bereits 1967 in den Anfängen der außerparlamentarischen Opposition (APO) mit linker Stadtteilarbeit begonnen. So wurde er 1967 in Neukölln einer der Gründer des SC und wurde 1969 in den Delegiertenrat der Westberliner Basisgruppen gewählt, wo eine revolutionäre sozialistische Massenorganisation gegründet werden sollte.

Daneben hatte Jürgen sein "eigenes" Projekt. In der Friedenauer Görrestraße organisierte er 1969  in Souterrainräumen den "Jungbuchhändlerkeller". Jürgen war davon überzeugt, dass Sozialisten  nicht nur an der gesellschaftlichen Basis sondern auch in den Überbaubereichen den Klassenkampf als ideologischen Meinungsstreit führen sollten. Seine Gäste waren daher (damals) kapitalismuskritische Schriftsteller  wie z.B. Günter Grass oder junge Revolutionäre wie  Peter Paul Zahl.

Aufgrund unserer unterschiedlichen Berufswege verloren wir uns in den 1970er Jahren ein wenig aus den Augen. Jürgen engagierte sich nun in der Gewerkschaftsarbeit. Er war nämlich beruflich zwischenzeitlich zum Wissenschaftlichen Springer Verlag gewechselt und hatte dort eine HBV-Betriebsgruppe aufgebaut.  1972 wurde er zum Vorsitzenden des Gesamtbetriebsrats des Wissenschaftlichen Springer Verlags (Berlin / Heidelberg) gewählt. Sozialpartnerschaftliche Politikberatung war nicht seine Sache. Dennoch bestand die Gefahr des Abgleitens in den Gewerksschaftlegalismus. Jürgen immunisierte sich dagegen, indem er Kontakte zu einer marxistisch-leninistischen Hochschulgruppe hielt und sich in den Werkkreis  Literatur der Arbeitswelt einbrachte.

Mitte bis Ende der 1970er Jahre erfolgte sowohl bei Jürgen als auch bei mir - wie bei vielen anderen Genossen auch - eine erhebliche Ernüchterung im Hinblick auf unsere Orientierung an der Ideologie und Politik der K-Gruppen. Unsere theoretische Kritik verband sich mit dem Aufbau und der Teilnahme an der Alternativen Liste für Demokratie und Umweltschutz (AL).Während ich mich 1981 aus der AL zurückzog, weil  ihre sozialemanzipatorischen Ziele zusehends zu bloßen Etiketten verkamen, blieb Jürgen weiterhin in der AL Steglitz aktiv.

Über diese unterschiedliche Einschätzung der AL standen wir in einem regelmäßigen Gesprächskontakt und nutzten unsere Kontakte, um dann einen Kapitallesekreis aufzubauen, der zwei Jahre lang regelmäßig Schulungstreffen durchführte. Dieser Kreis gründete auch ein politisches Magazin - das "westberliner info - wi", um sich damit in die Strategiedebatte der revolutionären Sozialisten auf lokaler Ebene einklinken zu können. Jürgen gehörte führend der Redaktion an. Als Trägergruppe fungiert der Arbeitskreis "Soziale Frage und Arbeiterbewegung".

Insgesamt erschienen zwischen 1986 und 1990 16 wi-Ausgaben mit Schwerpunktthemen wie z.B. Geschichte der Berliner Klassenkämpfe, Mikroelektronik und kapitalistische Verwertung, Kritik des Sozialismus in der UdSSR und der VR China. Jürgens Spezialgebiet war die Philosophie und die Kritik der alltagskulturellen Entwicklungen. Unsere Zielgruppe sollten partei- und gewerkschaftsunabhängige Betriebsarbeiteraktivisten sein.

Dieses nur an Aufklärung orientierte Politikkonzept ging nicht auf, weil wir in diesem Zusammenhang die Bedeutung der kollektiven politischen Praxis nicht mitbedachten. In dieser Phase der Isolierung wurden wir dann wie alle Linken von der Implosion der DDR überrascht. Aufgrund dessen gönnten wir dem "wi"  zur politischen Selbstreflektion eine Auszeit. By the way - aus der Auszeit wurde ein Ende.  Wir richteten nun einen neuen  Theoriearbeitskreis ein, an dem Jürgen wieder maßgeblich beteiligt war. Er formulierte als Aufgabenstellung für diesen Kreis in seinen persönlichen Notizen:

"Vernetzung zu anderen Gruppen. Theoretische Arbeit: Aufarbeitung der verschiedenen marxistischen Strömungen. Rückkehr zur originären Marxschen Theorie. Einsicht, daß alle revolutionären Bewegungen des 20 Jahrhunderts zwar den Kapitalismus in seiner Durchsetzungsgeschichte mildern konnten, aber voluntaristisch waren, da die Produktivkräfte längst nicht soweit entwickelt waren, dass sie in einem antagonistischen Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen geraten konnten, um mit einer entsprechenden sozialen Bewegung die Megamaschine der Vernutzung des Wertes hinwegzufegen."

Diese Zeilen atmen unzweifelhaft den Hauch der Wertkritik, für die sich Jürgen eine zeitlang begeisterte. Vermittelt über seine Schwester, die in den 70er Jahren durch Eheschließung nach Kroation ausgewandert war, war Jürgen ebenso angetan von  den Ansichten der jugoslawischen "Praxisgruppe" und brachte uns die Ideen von Karel Kosik näher.  Mitte der 90er Jahre drängte ich im Theoriekreises auf die Wiederaufnahme einer politisch-propagandistischen Praxis. Der Genosse Rolf Dieter Missbach und ich blieben in der Minderheit und wir verließen daraufhin den Kreis. Dies fiel uns leicht, da wir mit anderen Linken die Redaktion der von der Gewerkschaft ausgeschlossen Kreuzberger Bezirkszeitung TREND übernehmen konnten.

Als ab 1997 TREND sich als linke Onlinezeitung im Internet verankern konnte, brauchte das Projekt breitere Strukturen, um den strömungsübergreifenden Anspruch auch inhaltlich mit Leben zu erfüllen. In dieser Zeit gewannen wir Jürgen als beratendes Mitglied der Redaktion. Diese Funktion kam ihm nicht nur persönlich entgegen - er hatte gerade seine Lebensgefährtin geheiratet und war mit ihr nach Brandenburg verzogen - sondern die theoretische Debatte für die Fundierung einer sozialemanzipatorischen Politik konnte er nun dank der neuen Technologie auch von dort aus  "just in time" weiterführen. So sah er z.B. in dem Werk Multitude von Hardt & Negri eine Art von theoretischer Symbiose von Theoriesträngen des sogenannten westlichen Marxismus, die er für Wert hielt, dass sie bei TREND zu Worte kamen.

Ab 2010 fesselten ihn ein schweres Lungenleiden und die dazu nötigen Apparaturen immer mehr ans Bett. Körperlich immer schwächer werdend, blieb Jürgen dennoch  geistig hellwach und bereicherte bis zu seinem Tode durch seinen messerscharfen Verstand  mit seinen (Lese-)Anregungen das publizistische Profil von TREND.

Jürgen - Du fehlst uns!