Das Volk schlägt zurück!

von Aug und Ohr, Athen

07-2013

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Die Besetzung des Rundfunkgebäudes, die Belagerung des Vorplatzes vor dem Rundfunkgebäude und die massive Mobilisierung der Bevölkerung gegen die überfallsartig durchgeführte Schliessung des Fernsehens/Radios haben eine Bewegung hervorgebracht, die vieles übertrifft, was in den vergangenen Jahren stattfand, zahlenmässig und an Radikalität. Radikale Parteien und Gruppierungen sind hier ebenso präsent, wie der radikal-pragmatische Syriza (dessen Wahlsieg zu  wünschen ist) und, sie sei wohl unterschieden, die KKE, aber auch KKM-ML und ML-KKE, aber auch EEK und besonders SEK, welch letztere überall plakatieren, die Entlassung Samaras‘ fordern  und Veranstaltungen/Diskussionen abhalten. 

Die aktive Teilnahme älterer und neuerer Schichten aus dem Proletariat auf den grossen Versammlungen vor dem Rundfunkgebäude und (besonders älterer) Angehöriger der verarmten Massen (ein alter Mann, der dort campierte, ist bereits, nicht aus Fremdeinwirkung, vor einigen Tagen auf dem besetzten Gelände vor dem Rundfunk gestorben, o protos nekros, "der erste Tote", so wurde seiner in einer Rede gedacht)), sowie andererseits gleichzeitig der intellektüllen Mittelschichten, der progressiven, urbanen Bevölkerung  (hier haben wir ein interessantes Pendant zu Taksim!) ist bemerkenswert. Hier bildet sich einen grosse informelle Volks-Front heraus. 

Die ERT ist ein Beispiel, wie ein wesentlicher Teil der Zivilgesellschaft (im Sinne Gramscis) zerschlagen wird, wogegen sich die Zivilgesellschaft, aber auch die laika stromata (unteren, breiten Volksschichten in der Terminologie der KKE) zur Wehr setzen, die den öffentlichen Rundfunk/das Fernsehen, als Öffentliches Gut, verteidigen, und zurecht verteidigen, da die progessive Dynamik der Gesellschaft auch in das herrschaftskonsolidierende Gestänge der ERT eringedrungen ist und sich dort weite Freiräume von Diskurs erobert hat. Die KKE hat allerdings grosse Vorbehalte gegen eine blauäugige Unterstützung der ERT als eines Instruments der bürgerlichen Herrschaftssicherung – die Argumentation scheint mir falsch zu sein, kann aber an dieser Stelle nicht ausführlich behandelt werden. 

Von den TechnikerInnen, RedakteurInnen und JournalistInnen wurde die ERT (Fernsehen und Radio) in Eigenregie übernommen, praktisch das gleiche Modell wie bei bio.me , oder bei der jetzt überall erhältlichen Tageszeitung ”Zeitung der Redakteure” (Efimerida ton Sintakton), die in Selbstregie aufgebaut wurde, als die grosse progressive Eleftherotipia abgewürgt wurde (die jetzt aber wieder weiter erscheint).Eine neü Selbstverwaltung von riesigem Ausmass – auch wenn man das Gebäude in betracht zieht. 

Samaras hat das Ganze in Alleinregie in die Wege geleitet, ohne seine Koalitionspartner zu benachrichtigen, von denen einer, wie bekannt, jetzt bereits abgesprungen ist: die Partei „Demokratische Linke“, DIMAR), das halbfaschistische Kommunikationsverbot wurde aber, und das ist das Unglaubliche, von der faschistischen Partei unterstützt, als einziger Partei, die sich explizit hinter die von der ND ohne jegliche vorherige Diskussion aufgezwungene Schliessung stellte. 

Die Regierung aus Sozialdemokraten und ND wird also von den Faschisten mitgetragen. Keine klarere Diskreditierung von Sozialdemokratie ist denkbar.Den Sozialdemokratien muss daher international die Gefolgschaft aufgekündigt werden! 

Wie sieht‘s aus im Innern?

Im besetzten Hauptgebäude der ERT (Elliniki Radiofonia Tileorasi) traf ich im ersten Stock, in der Kantine, den stets aufgescheuchten Theatermann und Kulturmanager Michalas, mitten in dieser Athmosphäre unendlich verstärkter Bemühtheit und Sozialität. 

Ein Werk des Samaras' . Wir sind diesem tölpelhaft und zuschlagegierig agierenden Ministerpräsidenten (dessen Parteigebilde, ebenso wie die blutrünstige AKP des Erdogan, letztere allerdings “nur” mit Beobachterstatus, der Europäischen Volkspartei angehört!!!) ja eigentlich dankbar, dankbar für seinen überfallsartigen Liquidierungsversuch -  und mit “Staatsstreich”, “Coup” (d’ Etat) wird er allgemein in der linken Pressesprache Griechenlands bezeichnet. 

Er hat ein hyperproduktives Ameisengekrabbel hervorgebracht, in dem, wie in Vio.Me, wie in den kollektiven Speise- und Begegnungsstätten, wie in selbstverwalteten Zeitungen eine künftige Gesellschaftsform eingeübt wird. 

Michalas hatte ich bereits auf dem Alter Summit kennengelernt, er wollte mich für eine literarische Parallelveranstaltung gewinnen. Er hätte Gedichte des überragenden päderastischen Pöten Kavafis auf griechisch vorgetragen, vorgelesen, vorgespielt, ich auf deutsch. Hätte. Doch das Programm des Alter Summit war zu dicht, wir einigten uns auf ein Treffen nach dem Alter Summit. Jetzt, hier im Rundfunk-und Fernsehgebäude, ist an das literarische Projekt nicht mehr zu denken. Mit höchster Spannung und Anstrengung ist von Michalas und seinen Kollegen eben eine Dokumentation über die Ereignisse fertiggestellt worden. 

Dokumentationen sind eine der Stärken der ERT, jeden Tag wurde im Durchschnitt ein Dokumentarfilm hergestellt. Das war in der Zeitung zu lesen, das bestätigte mir auch eine Sprecherin der Abteilung für Dokumentarfilme, Marion Bitsola, die ich im internationalen Presseraum kennenlernte und die perfekt deutsch spricht: Darauf (auf eine Produktion täglich) dürfte es in der letzten Zeit so ungefähr hinausgelaufen sein, meinte sie. Mehr US-amerikanische Killerfilme und weniger Volksbildung wären dem schwarzen Fürsten Samaras wahrscheinlich lieber, härtere Knebelverträge mit den US-Amerikanern wohl auch. 

Leicht hat es Michalas Thanos-Orpheus, wie er mit vollem Künstlernamen heisst nicht, hat es seine Crew nicht. Sie sind technisch verwaist. Was ist passiert? 

Zwei riesige Gebaüde machen den Komplex der ERT aus, die in einem unendlich weit entferten Vorort liegt, an den schon unten grüne, oben kahle Hügel grenzen (die innerste Wesensverwandtschaft des Samaras-Coups – praxikopima – wie er speziell genannt wird, mit den Waldzerstörungen durch verschiedene griechische, auch türkische Mafien, wird mir hier blitzartig klar), und in einem dieser Gebaude befanden sich unter anderem die Kameras. 

Berge privatisieren und Rundfunkgebäude anzünden, das läuft auf  das Gleiche hinaus. 

Aber man macht, was man kann. Nachdem man das jetzt noch besetzte Hauptgebaude noch nicht stürmen kann, nimmt man den Leuten ihre Arbeitsgeräte weg. Vor 7 Tagen, also etwas mehr als 5 Tage nach dem Coup, hat die “griechische” Polizei sämtliche Geräte beschlagnahmt, das andere Gebaude, in denen sie sich befinden, ist hermetisch abgeriegelt. 

Mit einem Minimum an Geraten zu arbeiten, ist schwer. Die Geräte konnten sich nicht wehren. Hier würden sich die Leute wohl wehren. Würde die Polizei in das besetzte Gebaude eindringen, in dem ich mich gerade befinde, wäre halb Athen auf der Strasse. 

Denn das wäre dann die Erdogan-Option! 

Oder werden sie stufenweise vorgehen? Man kann sich vorstellen, wie sie beginnen. Zürst werden sie die Leute aus dem Schlafsack-Lager jagen, das sich in einer Art Park vor dem Gebäude ausgebreitet hat. Das wäre dann eine sanftere Stufe auf die Art der volksfeindlichen Kommunal-Politik des von einer grünen (!) Partei und der Dimar gewahlten Bürgermeisters Kaminis, der den Syntagma-Platz von den “hässlichen Zelten” räumen liess (1). Vielleicht ist in dem Augenblick einer solchen Teil-Räumung das ERT-Gelände überfallssartig bereits privatisiert worden, und die Campierer bekommen einige Strafen wegen Besitzstörung u. dgl. 

Auf einmal werden sie vielleicht nicht alle herausjagen, sie werden stufenweise vorgehen, denke ich mir, einem antiquierten Denken verpflichtet. Oder doch nicht? Der Wirtschaftsminister hat die Besetzerinnen, unter deren Ägide das Programm selbstverwaltet, ohne staatlichen Sanktus, weiterläuft, bereits aufgefordert, das Gebäude zu verlassen ... 

Unsicherheit regiert in dem Gebäude. Zumindest werden sie wieder und wieder versuchen – wie es bereits passiert ist – Leute für ΝΕRΙΤ, den geplanten, “verschlankten” Nachfolgesender, der die zu zerschlagende ERT ersetzen soll, zu gewinnen. Im September soll bereits eine Ausschreibung erfolgen. Bisherige Versuche dieser Privat-Hyänen, in das ERT-Gebäude zu gelangen, wurden vom bewussten Personal wütend abgewehrt, wie in einer Pressemitteilung des Vereins der Ingenieure und Techniker der ERT vom 17. Juni zu lesen ist (2): 

“Die Marionetten der Privatinteressen und der Regierung sollen es nicht wagen, hierher in die ERT zu kommen:

Während die Erinnerung an den staatsstreichähnlichen Überfall (praxikopima) und das Black-out der ERT noch ganz frisch ist, sind einige führende “Kollegen” aus dem Coup-Bereich hierher ins Rundfunkgebäude gekommen, haben sich an einige unserer Techniker herangemacht und wollten sie für die NERIT (das verschlankte Nachfolgeprojekt, AuO) gewinnen. Da haben sie sich aber ein kräftiges Nein eingehandelt ... Es wäre gut, wenn diese Herrschaften nicht noch einmal versuchen würden, ihren Fuss in die ERT zu setzen. Die Leute sind verärgert (3), die Belegschaft ist verbittert, verärgert und fühlt sich verkauft . Viele von diesen Herrschaften haben überhaupt noch nicht verstanden, was sie angerichtet haben. Das grosse Problem von Menschen mit einer faschistischen Mentalität ist ja gar nicht so sehr, dass sie Gegner der Demokratie sind. Sie VERSTEHEN einfach nicht, was Demokratie ist! Und wenn man aufgebracht und grob wird, dann ist es verständlich, wenn mitten in den permanenten Auseindersetzungen zum stärksten Mittel gegriffen wird. Unser Verband rät dazu, kühles Blut zu bewahren, aber er kann die Wut der Menschen und deren Folgen nicht kontrollieren. …” 

Wie ich so im internationalen Peresseraum sitze, kommt eine sehr traurige Frau herein. Sie hat hier vorher gearbeitet, am 1. Juni bekam sie noch ihr Gehalt (das in den letzten drei Jahren von etwa 1.300 Euro netto auf ein Drittel gekürzt wurde, am 11. Juni kam die plötzliche und unerwartete Mitteilung über die Schliessung, am 15. Juni (es wird alle zwei Wochen ausgezahlt) kam überhaupt kein Geld mehr! 

Wie viele, irrt sie ein wenig umher in dem grossen Gebäude, steht noch unter Schock, kann es alles noch nicht begreifen. Sie erinnert michein wenig an die lange noch fassungslosen Hochwasseropfer von vor zehn Jahren, und an die jetzigen Hochwasseropfer. 

Das ist die Politik der Europäischen Union!

Anmerkungen

(1) Aug und Ohr: Weg mit den Zelten und Hütten am Syntagma-Platz! U. a. in: Linksunten, 20. 7. 2011 https://linksunten.indymedia.org/de/node/43874 

(2) ΠΑ.ΣΥ.ΜΗ.ΤΕ – Πανελλήνιος Σύλλογος Μηχανικών και Τεχνικών Ε.Ρ.Τ (Verein der Ingenieure und Techniker der ERT) http://www.pasimite.gr/

ΑΝΑΚΟΙΝΩΣΗ (Kundmachung), 17.6.2013 http://www.pasimite.gr/index.php?option=com_content&view=article&id=206:-1762013&catid=42:anakoinoseis&Itemid=226

Unterzeichnet vom Vorsitzenden des ΠΑ.ΣΥ.ΜΗ.ΤΕ Stephanos Chatzakis sowie der Generalsekretärin Anastasia Timotheou.  

Verlinkt mit pasimite.gr/ ist die Petition der European Broadcasting Union (Europäischen Rundfunkunion), mit der der griechische Ministerpräsident aufgefordert wird, die Einstellung wieder rückgängig zu machen. Wir geben hier den englischen Text wieder und meinen, dass solcher elektronischer Petitionismus das Minimum an Solidaritätsarbeit sein sollte! Hier der Text: 

“We, the general public and supporters of public service media, join the European Broadcasting Union (EBU) in expressing our profound dismay at the action taken by the Greek Government on Tüsday, 11 June in shutting down ERT with immediate effect. This undemocratic and unprofessional action of the Greek government undermines the existence of public service media inGreeceand its independence from the government. For that reason, we strongly urge the Greek Prime Minister to immediately reverse this decision, allowing ERT to go back on the air inGreece.”

Den Appell unterschreiben kann man unter folgender Adresse: http://www.avaaz.org/en/petition/EBU_Petition_Get_ERT_back_on_air

Die EBU hat die Aussendungen der ERT, der Streik-ERT, bisher solidarisch übernommen. 

(3) aganaktismenoi, Pendant zu indignados0

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor.