Goethe und die Dialektik

Von Georg Lukács

07-2014

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Es wird vom Bestimmten ausgegangen: dies und jenes ist not wendig, aber wir begreifen die Einheit dieser Momente nicht; diese fällt in Gott Gott ist also gleichsam die Gosse, worin alle die Widersprüche zusammmenlaufen." Hegel über Leibniz.

1.

Der Kampf um die Ausbildung der Dialektik ist das theoretische Zentral-problem der klassischen Epoche der deutschen Philosophie und Literatur, der Epoche von Lessing bis Hegel. Die deutsche Philosophie und Literatur steht dabei auf den Schultern der englisch-französischen Entwicklung des 17. und 18. Jahrhunderts, tritt das Erbe ihrer Errungenschaften an, entwickelt ihre Probleme in der Richtung auf Dialektik — idealistische Dialektik — weiter. Während der Hauptzweig der englisch-französischen Entwicklung der materia­listischen Philosophie von Locke ausgehend über Holbach-Heivetius wieder nach England, zum „Utilitarisinus" Benthams führt(1), entstand in Deutschland eine „siegreiche und' gehaltvolle Restauration" der Metaphysik des 17. Jahrhunderts, der Philosophie von Descartes, Malebranche, Spinoza und Leibniz.(2) Das philo­sophisch Bedeutsame dieser Entwicklung ist die Herausbildung der dialektischen Keime, Andeutungen, Ansätze der älteren Philosophie bis zu jenem Gipfelpunkt der idealistischen Dialektik, die das Lebenswerk Hegels vorstellt. Diese Ent­wicklung entfernt sich einerseits immer stärker von den materialistischen Ele­menten, die siet als Erbe übernimmt, obwohl, wie wir sehen werden, diese Ent­fernung bei vielen bedeutenden Vertretern der deutschen Entwicklung keineswegs so eindeutig und hundertprozentig ist, wie dies die bürgerliche Philosophie­geschichte darzustellen pflegt. Andererseits bildete sie, freilich in idealistischer (und darum abstrakter und verzerrter) Form, die „tätige Seite" der Philosophie aus, die der alte „anschauende" Materialismus vernachlässigt hat, vernach­lässigen mußte.

Wenn wir nun Goethes Stellung in dieser Entwicklung, wenn auch nur andeutend, bestimmen wollen, so müssen wir zweierlei berücksichtigen. Erstens die allgemeine ökonomische Zurückgebliebenheit Deutschlands im Vergleich zu England und Frankreich, die eine entsprechende politische Zurückgebliebertheit zur notwendigen Folge hatte Diese Zurückgebliebenheit verhinderte nicht, wie Engels (Brief an C. Schmidt, 27. Oktober 1890) schreibt, „daß ökonomisch zurückgebliebene Länder in der Philosophie doch die erste Violine spielen können", so Deutschland! in der von uns behandelten Periode. Diese eigenartige Lage, verursacht durch die ungleichmäßige Entwicklung, spiegelt sich wider­spruchsvoll sowohl in den Einwirkungen der ökonomisch-politischen Rückständig­keit, wie in den Konsequenzen, die philosophisch aus der internationalen Ent­wicklung der Periode (französische Revolution, Napoleon, industrielle Entwick­lung in England, Errungenschaften in der Naturwissenschaft usw.) gezogen Wurden. Zweitens die besondere Problemlage der philosophischen Zentralfragen, die diese Entwicklung als Erbe übernahm und den eigenen, klassenmäßig bestimmten Bedürfnissen entsprechend bearbeitete.

Wir müssen uns hier auf die Zentralfragen beschränken und sind demgemäß gezwungen, die sehr vielseitige (und noch wenig erforschte) Situation stark vereinfacht darzustellen. Die deutsche Philosophie dieser Zeit — und mit ihr Goethe — fand zwei im Grunde entgegengesetzte, in vielen konkreten Fällen jedoch ineinander übergehende Lösungsversuche des zentralen dialektischen Pro­blems, der Frage des Widerspruchs, vor. Der erste Typus dieses Lösungsver­suchs war der der Antinomie. Die Widersprüche traten in Natur und Gesell­schaft so kraß hervor, daß es ehrlichen und einigermaßen konsequenten Denkern immer unmöglicher würde, sie nicht festzustellen. Daraus mußten nicht immer philosophische Konsequenzen gezogen werden. Es konnte sehr wohl geschehen, wie es z. B. in der klassischen Philosophie Englands geschah, daß die anti-nomischen Tatbestände mit rücksichtsloser Energie herausgearbeitet wurden, ohne aus ihrer Unvereinbarkeit entsprechende Folgerungen zu ziehen.(3) Es war aber auch möglich, diese Widersprüche klar herauszuarbeiten, auf eine philosophische Höhe der Abstraktion zu erheben und in den ungelösten und als unlösbar aufgefaßten Antinomien die Grenze der menschlichen Erkenntnis zu erblicken; Kants „Kritik der reinen Vernunft" ist besonders typisch für diesen Lösungsversuch, wobei hier der agnostizistische Charakter der als unlösbar fixierten Widersprüche (Freiheit — Notwendigkeit usw.) besonders klar hervor­tritt. Neben dieser agnostizistischen Seite ist für diesen Typus der Lösungen besonders charakteristisch, daß diese Auffassung der Wirklichkeit das Werden, die Geschichte — philosophisch — nicht zu bewältigen vermag, selbst dann nicht, wenn in Einzelgesetzmäßigkeiten in Natur oder Geschichte der historische Charakter entdeckt und energisch hervorgehoben wird (Kants Astronomie). Der zweite Typus versucht, in irgendeiner Weise zu der Einheit der Widersprüche vorzustoßen. Dieser Vorstoß geht aber, gerade bei den folgerichtigen Vertretern dieser Richtung, ins Transzendente, ins Jenseitige. D. h. es wird von innen das dialektische Problem als lösbar anerkannt. Das Zusammengehören der Gegen­sätze und die Forderung, diese Zusammengehörigkeit, diese Einheit, dieses Zusammenfallen der Widersprüche als Problem, ja als zentrales Problem der Philosophie zu stellen, wird zugegeben. Die Einheit der Widersprüche wird jedoch — in mystischer Weise — ins Jenseits, in Gott verlegt. J. G. Hamann, der auf Goethe in seiner Jugend einen entscheidenden Einfluß ausübte, war vielleicht der prägnanteste Vertreter dieser Richtung im damaligen Deutschland, wobei gerade bei ihm auch die alten Traditionen dieser Tendenz(4) klar zum Ausdruck kamen. Goethe selbst war zu dieser Problemstellung auch dadurch vorbereitet, daß er — nach seiner Rückkehr nach Frankfurt von der Leipziger Universität — sich eingehend mit der Naturphilosophie der Renaissance, ins­besondere mit deren' mysitischen Abzweigungen (Paracelsus usw.), befaßte.

Es wäre eine zu große Vereinfachung des Problems, wenn wir die erste Tendenz, die im französischen Materialismus (wenn auch freilich nicht mit ihren deutschen Konsequenzen) stark vertreten war, als progressiv, die zweite als reaktionär bezeichnen würden. Insbesondere in Deutschland mischen sich sowohl progressive und reaktionäre Elemente in beiden Richtungen, und es findet eine ununterbrochene Wechselwirkung zwischen beiden Tendenzen statt. Dies kommt in der Frage Idealismus gegen Materialismus am deutlichsten zum Vorschein. Wie bereits hervorgehoben wurde, geht der Hauptstrom der Ent­wicklung auf die Dialektik zu in idealistischer Richtung, u. z. in der Richtung vom Materialismus weg. Die schwankend-agnostizistische Stellungnahme von Kant in der Frage des Dinges an sich schlägt bei Fichte in einen klaren subjektiven Idealismus um, im engsten Zusammenhang mit dem Versuch, gerade die Lehre von den Antinomien in eine Lehre von der Einheit der Widersprüche, in eine Dialektik, umzuwandeln. Andererseits ist die transzendent-dialektische Tendenz, bei aller „Gotterfülltheit" ihrer letzten Konsequenzen im Kampfe gegen Agnostizismus, subjektiven Idealismus usw., gezwungen, sich — wenigstens teilweise und vorübergehend — gewissen materialistisehen Feststellungen anzu­nähern. So bekämpft z. B. Hamann das Mendelssohnsche idealistische Trennen von „Wahrheitsgründen" und „Bewegungsgründen", ebenso die Kantsche Trennung von Verstand und Sinnlichkeit.(5) Ueberhaupt ist ein Zurückgehen auf einen — stellenweise — materialistisch gefärbten Empirismus für diese ganze Richtung kennzeichnend. Die Schwierigkeit hierbei, scharfe Grenzen zu ziehen, wird noch dadurch gesteigert, daß — infolge der Zurückgebliebenheit Deutsch­lands — der philosophische Kampf sich nicht klar zwischen Materialismus und Idealismus abspielt, sondern solche Probleme in den Mittelpunkt gerückt werden, bei denen eine ganz klare Frontstellung von vornherein sehr erschwert ist. Das bezeichnendste — und auch für Goethe selbst charakteristischste — Problem dieser Art ist der Pantheismus. Die von Spinoza übernommene Fragestellung von der Einheit von Gott und Natur kann ebenso ein Weg zum Materialismus, wie ein Weg vom Materialismus weg sein. Beim späten Lessing war es z. B. ohne Zweifel der erstere, insbesondere, wo er sich aufs heftigste gegen die idealistische Konzeption der Priorität des Bewußtseins dem Sein gegenüber wehrt. „Es gehört", sagt Lessing(6), „zu den menschlichen Vorurteilen, daß wir den Gedanken als das Erste und Vornehmste betrachten, und aus ihm alles herleiten wollen; da doch alle, die Vorstellungen mit einbegriffen, von höheren Prinzipien abhängt". Allerdings stellt sich sogleich — sehr charakte­ristischerweise — heraus, daß dieses „höhere Prinzip" höher ist, als sowohl Gedanke wie Ausdehnung, Bewegung (also Materie). Bei Sendling kann man einen umgekehrten Weg beobachten.

2.

Für Goethes Stellung ist hier eine — mit mehr oder weniger Schwankungen festgehaltene — Zwischenstellung charakteristisch. Er grenzt sich stets mit ziemlicher Entechiedenheit vom philosophischen Idealismus ab. Diese Ab­grenzung wird von ihm unbekümmert um persönliche Freundschaft und sach­liche Zusammenarbeit stets scharf ausgesprochen. So stets gegen F. H. Jacobi; so auch gegen Schiller. Goethe faßt z. B. den Unterschied zwischen seiner und Schillers schöpferischer Methode so zusammen: „Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Beson­deren das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beispiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie..." (Sprüche in Prosa, IV. Abt.) Aber diese Abgrenzung, dieser Unwille, den Weg zur Dialektik durch den Idealismus hin­durch zu gehen, bedeutet bei Goethe keineswegs eine entschieden materialistische Stellungnahme. Zwar sind seine Beziehungen zur materialistischen Philosophie des 17. bis 18. Jahrhunderts viel enger, als er es selbst in „Dichtung und Wahrheit" in sehr entstellter Weise schildert(7), er ist aber niemals weiter als bis zu einer Zwischenstellung zwischen Materialismus und Idealismus ge­kommen. So schreibt er, nach Entdeckung seines „Naturaufsatzes aus den achtziger Jahren an den Kanzler Müller: „Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sich's der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen ..." (24. Mai 1828.) Daß es skh dabei um eine Zwischenstellung handelt, zeigt sich darin, daß Goethe gerade diese Anschauung wiederholt ganz scharf vom Materialismus abgrenzt. In seiner „Campagne in Frnkreich" (Abschnitt: Pempelfort, November 1792) nennt er seine Weltan­schauung „Hylozoismus" und sagt von ihr: sie „macht mich tinempfinidülich, ja unleidsam gegen jene Denkweise, die eine tote, auf welche Art es auch sei, auf- und angeregte Materie als Glaubensbekenntnis aufstellte".

Es handelt sich hierbei für Goethe darum, zwischen Materialismus und Idealismus einen Weg zu finden, der ihm gestattet, seine entwicklungsgeschicht-lAchen Resultate, so weit es die unmittelbaren Forschungsbedürfnisse bedürfen dialektisch zu formulieren, also sich von den Fesseln des mechanischen Materia­lismus zu befreien, ohne deshalb die kühnen und oft verstiegenen Konstruktionen des Idealismus mitmachen zu müssen. Dieses Tagesbedürfnis seiner wissen­schaftlichen Arbeit steht jedoch mit seinen dichterischen und weltanschaulichen Bedürfnissen in engem Zusammenhang. Dichterisch vertritt Goethe — mit zeit­weiligen Schwankungen — eine realistische Linie. Er will also die Anforde­rungen des dichterischen Idealismus (Schiller, Romantik) sich vom Leibe halten. Andererseits grenzt er sich sehr scharf vom kriecherischen, photographischen Realismus seiner Zeitgenossen, die bloß die Enge und Zurückgebliebenheilt des bürgerlichen Lebens in Deutschland w,derspiegeln (Iffland), ab, ohne aber den kühnen Realismus der französischen und englischen Bourgeoisie — ins­besondere mit vorrückendem Alter — anders als mit wohlwollendem Interesse zu verfolgen (Diderot, Balzac usw.). Eine ähnliche Zwischenstellung versucht nun Goethe auch als Naturforscher einzunehmen. D. h. seine Praxis geht entschieden auf die Entdeckung von Entwicklungsgesetzen aus (Zwischenknochen bei Mensch und Tier aus Vorstufe des Darwinismus usw.), seine Sympathien stehen stets auf der Seite des allmählichen Eindringens der dialektischen Behand­lung der Naturwissenschaft (Geoffroy de St. Hilaire), auf der Seite der Ueber-windung des Mechanismus (gegen Lin, gegen Couvier). Er verfällt dabei nicht in den Fehler der idealistischen Dialektiker, die, mit Ausnahme von Hegel, auf ihre mechanistischen Vorgänger unkritisch und unhistorisch herabsehen (Schelling: „Ich verachte Locke.").

Aber er war bei laledem nicht imstande, den Mechanismus in seiner Be­trachtungsweise dialektisch „aufzuheben". Er betrachtete ihn vielmehr als eine neben der seinen bestehende, zwar beschränkte, aber trotzdem — innerhalb bestimmter Grenzen — berechtigte Betrachtungsweise. Seine Methodologie geht also darauf aus, die Gleichberechtigung der eigenen Auffassung neben der mechanischen durchzusetzen, wobei er zumeist die Anschauung vertrat, es handle sich um zwei „ewig menschliche" Typen, die einander gegenseitig ergänzen können und im Vermeiden von Fehlern behilflich sein können. „Da nun beide Vorstellungsweisen ursprünglich sind und sich einander ewig gegen­überstehen werden, ohne sich zu vereinigen oder aufzuheben, so hüte man sich ja vor aller Controverse und stelle seine Ueberzeugungen klar und nackt hin." (Ueber Naturwissenschaft).

Diese Anschauungsweise macht bei Goethe selbstredend eine lange Ent» wicklung durch. Anfangs zeigt sie sich rein empiristisch, weist mit einem gewissen Stolz jede philosophische Verallgemeinerung zurück. Noch in einem Brief an Schiller (6. Januar 1798) spricht Goethe von dem „philoso­phischen Naturzustande", in dem er sieh befindet und befinden will. Dies ist aber vor allem seine Abwehrstellung, sowohl gegen den Idealismus von Kant—Fichte, wie gegen den ausgesprochenen Materialismus. Denn sobald die deutsche Philosophie — mit der „Kritik der Urteilskraft" und vor allem mit der Naturphilosophie des jungen Schelling — eine für das Goethesche welt­anschauliche Kompromiß angemessene Fundierung findet, versch'ebt sich seine Stellungnahme sehr stark. Immerhin schreibt Hegel noch 1807 (23. Mai) an Schelling über Goethes Farbenlehre: „.. er hält sich aus Haß gegen den Gedanken, durch den die anderen die Sache verderben, ganz ans Empirische, statt über jenen 'hinaus zu der anderen Seite von diesem, zum Begriffe zu übergehen, welche etwa nur zum Durchschimmern kommen wird." Dieser Empirismus Goethes ist aber, wie er selbst sagt, „eine zarte Empirie die sich mit dem Gegenstand identisch macht und dadurch zur eigentlichen Theorie wird... Das Höchste wäre: zu begreifen, daß alles Faktische schon Theorie" (Sprüche in Prosa, IV. Abt.). Der dialektische Charakter dieser „zarten Empirie" ist offensichtlich. Sie ist aber doch nur ein Vorstoß in der Richtung auf Dialektik, der auf dem halben Wege stehen bleibt. Dieses Stehenbleiben auf dem halben Wege ist sehr tief in Goethes Wesen verankert. Sein „Empiris­mus", auch wenn er in einen Pantehismus weltanschaulich eingerahmt ist, hat bei ihm eine ähnliche Funktion, wie — seit dem 17. Jahrhundert — der Agnostizismus, der „verschämte Materialismus" (wie Engels sagt): alles, was für die unmittelbare Forschungsarbeit notwendig, ist aus dem Materialismus, aus den aufkommenden dialektischen Tendenzen auszuschöpfen, Gott und die Theologie von diesem Gebiete fernzuhalten — aber auch hier, ohne es auf einen offenen weltanschaulichen Kampf ankommen zu lassen. Die „Kritik der Urteilskraft" bietet nun für diese Art von Kompromiß ganz andere Handhabe als die Vernunftkritik. Ihr Begriff der „anschauenden Vernunft", bei Kant sehr vorsichtig als „regulative Idee", als Erkenntnisweise, die dem Menschen versagt ist, gefaßt, gibt eine Perspektive auf die Zusammengehörigkeit der antinomischen Pole, ohne sie wirklich in lebendigem Wechselverhältnis zu er blicken und zugleich, ohne ihre Einheit in offen eingestandene Mystik auf­zulösen. Es ist ein „zarter" Agnostizismus.

3.

Es ist kein Wunder, daß Goethe gerade durch dieses Buch in der philo­sophischen Formulierung seiner naturwissenschaftlichen Tendenzen bestärkt wurde („Einwirkung der neuen Philosophie", „Anschauende Urteilskraft"). Insbesondere als Schelling diese Erkenntnisweise mit der „intellektuellen An­schauung" in den Mittelpunkt der philosophischen Debatte rückte. Goethe, der keinem zeitgenössischen Denker näher stand, als gerade Schelling, ist es dadurch erst möglich geworden, zu seinem ursprünglichen Ausgangspunkt zurückzukehren: die Einheit der Gegensätze, die durch die „intellektuelle Anschauung" erfaßt wird, aus seinen Einzelforschungen organisch herauswachsen zu lassen, sie als Wesen der Natur zu fassen, die Einheit der Naturerscheinungen als Bewegung, als „Metamorphose", zu formulieren, den mystisch-agnostizisti-schen Horizont seiner Gesamtanschauung philosophisch zu begründen. Es ist hier nicht möglich, über den „aufrichtigen Jugendgedanken Schellings" (Marx an Feuerbach. 20. Oktober 1843) ausführlich zu sprechen, ebensowenig wie die Sympathie und die vielfache Uebereinstimmung Goethes mit ihm doku­mentarisch zu belegen'. Ich verweise bloß darauf, daß sogar der Plan eines gemeinsamen Gedichts über die Natur aufgetaucht ist (Goethes Brief an Knebel, 1799, Caroline an Schelling, 1800 usw.). Denn das für uns Entscheidende, die Verwandtschaft in der Auffassung der dialektischen Probleme, ist zu augen­fällig. Der zentrale Punkt bleibt dabei: Anerkennung der Widersprüche als Grundlage des Aufbaus der Wirklichkeit und Auffinden eines Punktes, wv diese Widersprüche aufgehoben werden. Die Weiterführung der „Kritik der Urteilskraft" seitens des jungen Schelling, die Auffassung der — mystischen — „intellektuellen Anschauung" als Organ, mit dessen Hilfe ihre Einheit erblickt wird, hat drei wichtige Folgerungen. Erstens bedeutet die Aufhebung der Gegensätze das „Auffinden" einer Sphäre, wo die Gegensätze, die Wider­sprüche, ausgelöscht ~ nd; die Einheit der Gegensätze ist ihre absolute Identität.(8) Zweitens ist diese Sphäre der Einheit der Gegensätze von den in der Wirklich­keit vorgefundenen Widersprüchen durch eine Kluft getrennt, die nur durch einen Sprung, durch die mystische, „intellektuelle Anschauung" genommen werden kann; die Einheit hegt zwar als (mystischer) Grund den erscheinenden Widersprüchen zugrunde, ist aber mit ihnen nicht vermittelt: die Welt der Widersprüche und die Welt der Einheit stehen einander noch immer schroff und unvereinbar gegenüber, die Widersprüche erstarren zu Polaritäten und die Einheit wird eine mystische. Drittens — um für dieses mystische „Organ" der Erfassung der Einheit doch einen empirisch aufweisbaren Beweis zu haben — erhält die Kunst die Funktion, die Realität der „intellektuellen Anschauung" nachzuweisen.(9)

Es wäre freilich eine starke Uebertreibung, Goethe infolge seiner Ueberein­stimmung mit Schelling in diesen wichtigen methodologischen Fragen einfach als Schellingianer zu bezeichnen. Nein. Er vertritt — auf Grundlage dieser Uebereinstimmungen, die auf seinen alten Tendenzen beruhen — hier eine ganz besondere Nuance. Diese abweichende Schattierung beruht darauf, daß er welt­anschaulich den Schellingschen Affirmativen, über das Wesen des Universums positive Aussagen machenden Mystizismus in einen mystischen Agnostizismus verwandelt. Die mystische Einheit der Gegensätze bleibt ein mystischer Hori­zont seiner Weltanschauung, die ihm einerseits gestattet, die Schellingsche Methode der Konstruktion nicht mitzumachen, der Empirie näher zu bleiben; (10) er nimmt also eine Zwischenstellung zwischen der „Kritik der Urteilskraft" und Schellings Identitätsphilosophie ein. Andererseits gestattet diese Zwischen­stellung ihm zugleich, sowohl die immer reaktionärer werdende Entwicklung der Schellingschen Philosophie nicht mitzumachen, also ihre materialistischen und dialektischen Ansätze, wenn auch nur als Ansätze, zu bewahren,(11) wie seine pantheistische Stellungnahme auch weiterhin gegen die Religion „versöhnlerisch" zu halten. Es ist zwar ganz richtig, was Engels über Goethe ausführt: „Goethe hatte nicht gern mit „Gott" zu tun; das Wort macht ihn unbehaglich, er fühlte sich nur im Menschlichen heimisch . . ." (Werke II., 428), aber die daraus folgende „Emanzipation der Kunst aus den Fesseln der Religion" voll­zog er doch nicht nur ohne offenen Kampf gegen die Religion, sondern sogar mit Duldsamkeit ihr gegenüber, soweit sie sich nicht in seinen Bereich mischt. Diese Linie ist bei Goethe durchgehend. So nennt er zur Zeit der eifrigsten Spinozastudien Spinoza den „allerchristlichsten" Fhilosophen (an F. J. Jacobi, 9. Juni 1785). So grenzt er im späten Alter die Gebiete folgendermaßen ab: „Als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Natur­forscher . . . bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist dafür auch gesorgt" (an Jacobi 6. Januar 1813). Und diese Duldsamkeit ist kein einfaches „Kompromiß nach außen", sondern eine logische Folge des Agnostizismus, der in seiner „zarten Empire" mit mystisch panthe-istischem Horizont steckt. Man lese bloß das folgende Glaubensbekenntnis Fausts, das sicherhch die tiefsten Ueberzeugungen von Goethe ausdrückt, mit der sehr charakteristischen Replik Gretchens, wobei die in dieser Replik un­zweifelhaft verborgene Ironie unsere Feststellung keineswegs aufhebt:

Margarete: Glaubst du an Gott?
Faust: Mein Liebchen, wer darf sagen:
Ich glaub an Gott?
Magst Priester oder Weise fragen,
Und ihre Antwort scheint: nur Spott
Ueber den Frager zu sein.
Margarete: So glaubst du nicht?
Faust: Misshör mich nicht, du holdes Angesicht.
Wer darf ihn nennen?
Und wer bekennen:
Ich glaub ihn.
Wer empfinden
Und sich unterwinden
Zu sagen: Ich glaub ihn nicht?
Der Allumfasser,
Der Allerhalter,
Faßt und erhält er nicht
Dich, mich, sich selbst?
Wölbt sich der Himmel nicht da droben?
Liegt die Erde nicht hier unten fest?
Und steigen freundlich blickend
Ewige Sterne nicht herauf?
Schau ich nicht Aug' in Auge dir,
Und drängt nicht alles
Nach Haupt und Herzen dir,
Und webt im ewigen Geheimnis
Unsichtbar sichtbar neben dir?
Erfüll' davon dein Herz, so groß es ist,
Und wenn du ganz in dem Gefühle selig bist,
Nenn' es dann, wie du willst,
Nenn's Glück! Herz! Liebe! Gott!
Ich habe keinen Namen
Dafür! Gefühl ist alles;
Name ist Schall und Rauch,
Umnebelnd Himmelsglut.
Margarete: Das ist alles recht schön und gut;
Ungefähr sagt das der Pfarrer auch,
Nur mit ein bißchen anderen Worten."

4.

Diese Position Goethes bestimmt seine Stellungnahme zur entwickeltsten Form der dialektischen Methode, zur Philosophie Hegels. Goethe und Hegel standen einander zeitlebens persönlich nahe und schätzten einander gegenseitig sehr hoch ein. Und diese Freundschaft hatte auch eine — übrigens nie aus­gesprochene — Grundlage in der sehr ähnlichen Stellungnahme zu den großen internationalen Ereignissen ihrer Zeit: zur Periode Napoleons und seines Sturzes. Beide sahen im napoleonischen' Frankreich das staatliche und gesellschaftliche Ideal, das ihrer Klassenposition (der Großbourgeoisie als Führerin einer gesamitbürgerlichen Bewegung) entsprach; beide lehnten den deutschen „Frei­heitskrieg" mit seinem patriotischen Aufschwung kühl ab; beide standen im Grunde ablehnend zu den Restaurationsideologien der Romantik — allerdings nicht ohne daß sie beide viel aus der Romantik ihrem Denken angeeignet hätten usw. Jedoch hinter dieser verwandten Grundhaltung ist zugleich eine scharfe Differenz sichtbar. Goethe lehnte die französische Revolution leiden­schaftlich ab; dadurch wurde Napoleon in seinen Augen bloß zum Ueberwinder, nicht aber zum Erben der französischen Revolution; sein Bild erhielt damit etwas „Irrationales", „Dämonisches", wie Goethe zu sagen pflegte. Bei Hegel hingegen gehörte die französische Revolution notwendig in den Stufenbau der Geschichtephitosophie hinein und war dementsprechend für das ganze System Hegels ein notwendiges Moment der Entwicklung; freilich mit der Be­schränkung, daß für den reifen Hegel die französische Revolution' als Ver­gangenes (das in Deutschland nicht zur Gegenwart werden kann) diese Rolle erhielt.

Immerhin wurde damit die Revolution zum Bestandteil! der Hegelschen Dialektik. Hier kann freilich nur behauptet und nicht belegt werden, daß sowohl der Fortschritt der Hegelschen Dialektik im Vergleich zu allen ihrer Vorgänger, die neue Fassung der Einheit der Widersprüche als bewegendes Prinzip der Wirklichkeit (freilich idealistisch: als „Selbstbewegung des Begriffs"), ihre Durchführung in entscheidenden Uebergangskategorien (Quantität und Qualität, Auffassung der Reflexionsbestimmungen, Knotenlinie der Maßverhältnisse usw.), wie auch seine idealistischen Schranken., die zugleich Schranken der konse­quenten Durchführung der Dialektik sind, aufs engste mit dieser Auffassung der Revolution zusammenhängen. Aber die bloße Feststellung der Tatsache genügt, um die Differenz der Hegelschen Auffassung der Dialektik von allen früheren — Goethes mit inbegriffen — klarzulegen. Es kommt nur noch darauf an, an der Hand einiger Beispiele zu zeigen, wie diese Differenz bei Goethe zum Ausdruck kam und welche Folgen sie für seine Gesamtanschauung hatte.

Die klassenmäßig wohlfundierte Freundschaft zwischen Goethe und Hegel, ihre gegenseitige Diplomatie in ihren Aeußerungen macht dies etwas schwierig, aber nicht unmöglich. Nach Veröffentlichung der Hegelschen Logik besitzen wir eine intime Aeußerung Goethes über einen sehr wesentlichen neuen Punkt seiner Methode, des Umschlagens der Quantität in Qualität. „Es ist wohl nicht möglich etwas Monströseres zu sagen. Die ewige Realität der Natur durch einen schlechten sophistischen Spaß vernichten zu wollen, scheint mir eines vernünftigen Mannes unwürdig". (Briefkonzept an Seebeck 28. November 1812.) Wobei seine Empörung offenbar, wie aus dem von ihm angeführten Zitat er­sichtlich ist, das gewaltsame Umschlägen, das Untergehen der einen Gestalt durch die andere, an Stelle der rein evolutionären „Metamorphose" hervorrief. Ganz in derselben Richtung liegt, daß er, als die Berliner Naturforschende Versammlung (wahrscheinlich unter dem Einfluß Hegels oder seiner Schüler) seine schönen, echt dialektischen Verse: „Denn alles muß in Nichts zerfallen, wenn es im Sein beharren will", in goldenen Buchstaben ausgesteift hat, so­gleich ein Gegengedicht: „Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen" schrieb, um seine eigene „Dummheit" zu widerlegen. (Gespräch mit Eckermann 12. Februar 1829.) Daß es sich hier um eine entscheidende Differenz handelt, ist klar. Und Hegel hat, wenn ihm auch offenbar, infolge von Goethes Diplomatie dessen schroffe Ablehnung nicht bekannt wurde, sehr vorsichtig und diplomatisch den springenden Punkt ihrer Differenz, das Stehenbleiben Goethes beim Urphänomen, verursacht durch die Unfähigkeit, die lebendige, den Gegenständen innewohnende Einheit der Widersprüche immanent und nicht mystisch-agnostizistisch, transzen­dent zu fassen, hervorgehoben. So schreibt er über das Urphänomen: „Goethes Metamorphose der Pflanzen hat den Anfang eines vernünftigen Gedankens über die Natur der Pflanzen gemacht, indem sie die Vorstellung aus der Bemühung um bloße Einzelheiten zum Erkennen der Einheit des Lebens gerissen hat. Die Identität der Organe ist in der Kategorie der Metamorphose überwiegend; die bestimmte Differenz und die eigentümliche Funktion der Glieder, wodurch der Lebensprozeß gesetzt ist, ist aber die andere notwendige Seite zu jener sub-stanziellen Einheit." (Enzyklopädie Paragraph 345 Zusatz). Und in einem ausführlichen Brief an Goethe (24. Februar 1821) versucht er sehr vorsichtig die Urphänomene als bloße Uebergangsjormen zur dialektischen Erfassung des Gesamtzusammenhanges zu deuten. „In diesem Zwielichte (nämlich des Ur-phänomens), geistig und begreiflich durch seine Einfachheit, sichtbar oder greiflich durch seine Sinnlichkeit, begrüßen einander die beiden Welten": das dialektische Denken und „das erscheinende Dasein".(12).

Diese Differenz zwischen Goethe und Hegel setzt sich im ganzen Aufbau beider Systeme und Methoden durch. Sie hat zur Folge, daß Goethe gerade an der bedeutendtsten Neuerung in der Dialektik (an dem zweiten Teil der Logik des Wesens) achtlos vorbeiging, obwohl er gerade dort den Schlüssel zur philosophischen Lösung vieler Fragen, die ihn sein ganzes Leben lang beschäftigten und die er nie wirklich zu beantworten imstande war, hätte finden können. (Ding an sich, Ding und Eigenschaft, „Inneres" und „Aeußeres" usw.) Aber schon die Ablehnung des „plötzlichen" Uebergangs von Quantität in Qualität versperrte Goethe den Weg dazu, die Dialektik des Abstrakten und Konkreten, die Dialektik von Erscheinung und Wesen usw. zu begreifen. Quantität und Qualität blieben für Goethe „die zwei Pole des erscheinenden Daseins", die miteinander nicht dialektisch vermittelt werden können. Darum müssen für Goethe auch Physik und Mathematik voneinander getrennt bleiben. „Jene muß in einer entschiedenen Unabhängigkeit bestehen und mit allen liebenden, ver­ehrenden, frommen Kräften in die Natur und das heilige Leben einzudringen suchen, ganz unbekümmert, was die Mathematik von ihrer Seite tut und leistet". (Sprüche in Prosa, IV. Abt.) Zur selben Zeit also, wo Hegel den Versuch unternimmt, die Mathematik als Bestandteil der Gesamtdialektik aufzufassen, bleibt Goethe bei dieser genauen Trennung, bei der Verbannung der Mathematik aus der konkreten Naturforschung, bestenfalls also bei der Anerkennung der Mathematik neben der Naturwissenschaft, unabhängig von ihr, als eines der zwei Zweige der Erkenntnis stehen.(13)

Die, wenn auch noch so diplomatisch ausgedrückte, aber dem Wesen nach scharfe und treffende Kritik Hegels berührt also den Kernpunkt der Goethe-schen Dialektik: Goethe erkennt den Widerspruch in den Erscheinungen (und demzufolge auch im Denken) an, da er aber, aus klassenmäßigen Gründen, einseitig und ausschließend nur die Evolution, den allmählichen, sprunglosen, gewaltlosen Uebergang der einen Erscheinung in die andere anerkennen wollte, mußte er sich gerade vor dem Neuen und Bahnbrechenden in Hegels Dialektik verschließen (14). Das hat aber dann zur Folge, daß er, bei der Feststellung von einzelnen dialektischen Zusammenhängen in der Natur, bei den Urphänomenen stehen bleibt und für den Gesamtzusammenhang entweder die Erkennbarkeit ab­lehnt oder sich bei seiner gedanklichen Fassung in Mystik verlert. Wir führen nur ein charakteristisches Beispiel an:

Alle Wirkungen, von welcher Art sie seien, die wir in der Erfahrung bemerken, hängen auf die stetigste Weise zusammen, gehen ineinander über, sie undulieren von der ersten bis zur letzten. Daß man sie voneinander trennt, sie einander entgegensetzt, sie untereinander vermengt, ist unver­meidlich, doch mußte daher in den Wissenschaften ein grenzenloser Wider­streit entstehen. Starre scheidende Pedanterie und verflößender Mystizismus bringen beide gleiches Unheil. Aber jene Tätigkeiten, von der gemeinsten bis zur höchsten, vom Ziegelstein, der dem Dache entstürzt bis zum leuch­tenden Geistesblitz, der dir aufgeht und den du mitteilst, reihen sich an­einander. Wir versuchen es auszusprechen.

Zufällig,
Mechanisch,
Physisch,
Chemisch,
Organisch,
Psychisch,
Ethisch,
Religiös,
Genial.

(Nachträge zur Farbenlehre 31)."

Das ist in seinen Schlußfolgerungen romantischer Mystizismus. Es ist dabei sehr bezeichnend, daß Goethes Entwicklung der Stufenfolge, sobald sie zum Menschen kommt, allen geschichtlichen Zusammenhängen aus dem Wege geht und nur den Einzelmenschen in Betracht zieht. Dies ist eine grundlegende Schranke Goethes, die sowohl seine Dichtung wie sein Denken (auch sein Denken über die Natur, wie wir gesehen haben) aufs stärkste beeinflußte. Er, der scharfäugige Beobachter dialektischer Zusammenhänge in der Natur, im Einzeimensehen, im privaten Zusammenleben von Einzelmenschen, auch in der gesellschaftlichen Grundlage ihres privaten Seins, verschloß sich Zeit seines Lebens vor der Erkenntnis der Dialektik der Geschichte, der Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Er nahm Gesellschaft und Geschichte ate gegeben hin, mysti­fizierte — naturwissenschaftlich" — ein „ewiges Werden", eine Evolution in sie hinein, mystifizierte auch das Einzelechicksal, sobald' zu einem Verständnis die Erkenntnis gesellschaftlicher Zusammenhänge in ihrer Bewegung notwendig gewesen wäre, als „dämonisch" usw. (Ueber sich selbst, Napoleon, Byron usw., bei Eckermann, in „Dichtung und Wahrheit"). Bei all seiner Universalität war ihm die Oekonomie ein Buch mit sieben Siegeln, und wenn er auch ab und zu das Eindringen des Kapitalismus in die Landwirtschaft (z. B. in Wilhelm Meisters Lehrjahren) gut geschildert, so ist all dies nur so weit möglich, als es seinen evolutionistischen Gesamtrahmen: die friedliche Verschmelzung von Adel und Bourgeoisie nicht zu sprengen droht. Hegels Dialektik fußte auf einer — wenn auch idealistisch verzerrten — gedanklichen Durcharbeitung der französischen Revolution und der industriellen Revolution in England (Adam Smith, Ricardo). Diese Entwicklung hat Goethe nicht mitgemacht. Darum mußte er auch ituv gedanklichen Spiegelbilder ablehnen.

Anmerkungen

1) Vgl. darüber das glänzende Kapitel: „Kritische Schlacht gegen den französischen Materialismus" in „Heilige Familie", III. Band der Gesamtausgabe, 300 ff. und das — bis jetzt leider nur in der ganz schlechten Ausgabe von J. P. Meyer veröffentlichte — Kapitel über „Exploitationstheorie'' aus der "deutschen Ideologie", II, 428 ff.
2) „Heilige Familie", III., 301.
3) Bei Ricardo, sagt Marx, „entwickelt sich das Neue und Bedeutende mitten im ,Dünger' der Widersprüche''. Theorien über den Mehrwert, III, 94.
4) Die Naturphilosophie der Renaissance, vor allem Giordano Bruno, der hierin wiederum, was Hamann nicht wußte, auf Nicolaus Cusanus zurückging.
5) Vgl. die Rezension Hegels über Hamanns Werke. XVII, 83—85.
6) Jacobis Spinozabüchlein, Ausgabe Fr. Mautner, München, 1912. S. 70
7) VgL hierüber den Aufsatz von Hubert Röck im „Archiv für Geschichte der Philosophie", neue Folge, XXX.
8) Vgl. z. B. Schelling: System des transzendentalen Idealismus. Werk I, III, 600, über Freiheit-Notwendigkeit
9) Schelling a. a. O. 625. Vgl. dazu zahllose Aussprüche Goethes, z. B. „Das Schöne ist eine Manifestation geheimer Naturgesetze, die uns ohne diese Erscheinung ewig wären verborgen gewesen", Sprüche in Prosa, III. Abt.
10) Urphänomen als Letztes, als Grenze unserer positiven Erkenntnis: „Wenn ich mich an dem Urphänomen beruhige, so ist es doch auch nur Resignation; aber es bleibt ein großer Unterschied, ob ich mich an den Grenzen der Menschheit resigniere oder innerhalb einer hypothetischen Beschränktheit meines bornierten Individuums." (Sprüche in Prosa, IV. Abt.); „Der Mensch muß bei dem Glauben verharren, daß das Unbegreifliche begreiflich sei; er würde sonst nicht forschen" (ebenda) usw.
11) Ich verweise dabei für den jungen Schelling auf das Gedicht „Epikuräisches Glaubensbekenntnis" von Heinz Widerporst, Werke L, IV., 546.
12) Es ist für Goethes Zwischenstellung sehr charakteristisch, daß über dasselbe Urphänomen der subjektive Idealist, Schiller, so urteilte: „Das ist keine Erfahrung, das ist eine Idee" (nämlich im Kantschen Sinne), Goethes Annalen 1794.
13) „Ueber Mathematik und deren Mißbrauch" (1826). Diese Stellungnahme Goethes ist die genaue Parallele zu seiner Stelhingnahme zu Linne und Cuvier und hängt mit ihr aufs engste zusammen, in beiden Fällen handelt es sich um seine Unfähigkeit, die „Reflexionsbestimmungen" in seine Dialektik ein-zubeziehen. Er unterscheidet sich dabei freilich stark von der reaktionären Romantik, die im Kampf gegen den mechanischen Materialismus einer wüsten Mystik verfallen ist. Die mystischen Elemente sind allerdings auch bei Goethe vorhanden, und die Art seiner Rettung vor den ärgsten Konsequenzen geschieht eben auf Grundlage einer von Grund aus inkonsequenten Stellungnahme.
14) Der rechte Hegelianer Goeschel bemerkt richtig, daß Goethes Ablehnung des Vulkanismus in der Geologie mit seiner Ablehnung der Revolution in der Geschichte eng zusammenhängt. (Hegel und seine Zeit, S. 18—19.)

Editorische Hinweise

Der Aufsatz wurde erstveröffentlicht in: Der Marxist, Blätter der Marxistischen Abenschule, II. Jahrgang Heft 5, Sommer 1932, S. 13-24, OCR-scan red. trend