Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Tod eines Juden
Ein französischer Film über den „Fall“ Ilan Halimi

07-2014

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Kann oder „darf“ man einen Film mit zumindest teilweise fiktiver Handlung produzieren und in die – kommerziellen – Kinos bringen, wenn es darum geht, eines der schlimmsten Verbrechen der letzten zehn Jahren mit ideologischem Tathintergrund zu beschreiben? Der Regisseur Alexandre Arcady ging auf jeden Fall ein Risiko, als er sich entschloss, dem Foltermord an dem junge französischen Juden Ilan Halimi ein Werk mit Spielfilmcharakter zu widmen. Er kam am 30. April 2014 in die französischen Kinos. Aktuell läuft er in einem Dutzend Pariser Säle, oft größeren Kinos. Am Vorabend des diesjährigen 08. Mai (in Frankreich nach wie vor ein gesetzlicher Feiertag, ausdrücklich wg. des 08.05.1945) etwa in einem der Säle in der Nähe des Montparnasse-Kinos, der mit einem generations- und herkunftsmäßig ziemlich gemischten Publikum gut gefüllt war.

24 jours lautet der Titel von Arcadys Film. Also „24 Tage“. So lange dauerte die Gefangenschaft des damals 23jährigen Telefonverkäufers jüdisch-marokkanischer Herkunft Ilan Halimi. Er war am 21. Januar 2006 durch eine Bande unter Anführung des zwei Jahre älteren Youssouf Fofana, die sich in Bekennerbriefen mit Geldforderungen selbst als Gang des barbares bezeichnete, gekidnappt worden. Die kriminelle Gruppe, die mitsamt Helfershelfern und mehr oder weniger eingeweihten Mitwissern gut zwei Dutzend Personen umfasste, hielt ihn in einem Kellerversteck in der Pariser Vorstadt Bagneux fest. Ihr Motiv bestand vordergründig zunächst darin, Geld zu erpressen – eine Lösegeldforderung in Höhe von 450.000 Euro wurde an die Familie des Entführten gerichtet. Aber ein antisemitisches Motiv floss insofern in die Tat ein, als die Auswahl des Kidnapping-Opfers auf der Vorstellung beruhte, Juden hätten grundsätzlich Geld.

Die Familie von Ilan Halimi war keineswegs vermögend, der junge Mann selbst arbeitete als Handyverkäufer und seine Mutter als Sekretärin. Vor der Entführung Ilan Halimis hatte die Bande bereits seit mehreren Monaten versucht, andere Geiseln zu nehmen. Unter den Opfern waren zunächst weiße Franzosen und auch ein Schwarzer. Später kam Fofana nach wiederholten Misserfolgen jedoch auf den Einfall, man müsse es mit relativ wahllos ausgesuchten Juden versuchen, da diese nun einmal reich seien - und wenn nicht, dann gelte, dass sie „alle zusammen halten“. So formulierte Fofana es in seinen vor Beleidigungen und Drohungen strotzenden Anrufen an die Familie, während er seine Forderungen an diese richtete. Später adressierte er auch ein Forderungsschreiben an einen beliebig ausgewählten Rabbiner.

Während seiner dreiwöchigen Gefangenschaft wurde Ilan Halimi kaum ernährt – wie einige der festgenommenen Entführer später angaben, wollten sie es sich ersparen, ihn in einem Eimer auf die Toilette gehen zu lassen. Lediglich etwas flüssige Nahrung wurde ihm durch einen Strohhalm eingeflößt. Er wurde mehrfach geschlagen, eine seiner Wangen wurde für ein Foto im Bekennerschreiben mit einem Metzer aufgeschnitten, und mindestens einmal wurden ihm Verbrennungen mit einer Zigarette zugefügt. Die Entführer, die sehr unterschiedlicher Herkunft waren, westafrikanischer, algerischer, portugiesischer oder französischer – jedoch gemeinsam hatten, in aller Regel Schulabbrecher aus Sozialghettos in den Pariser Vorstädten zu sein – setzten dabei auch Bilder von jihadistischer Gewalt ein. Insbesondere Kriegsbilder aus dem damaligen Kampfgebiet im Iraq, um möglichst großen Schrecken durch den scheinbar radikalsten Bezug zu verbreiten. In einem der Videos, das die Entführer an die Familie sandten, wurde zudem durch die Inszenierung auf die Hinrichtung des US-Journalisten David Pearl genommen. Er war 2002 in Pakistan durch seine jihadistischen Entführer ermordet worden, die ihn dabei filmten, wie sie ihm die Kehle durchschnitten. Nach dreiwöchiger Geiselhaft gaben Ilan Halimis Entführer dann die Hoffnung auf, noch an das Geld zu kommen. Sie übergossen ihr Opfer mit Säure und einer brennbaren Flüssigkeit, um DNA-Spuren zu vernichten, und ließen ihn vermeintlich tot in einem Waldstück liegen. Er konnte sich jedoch noch bis zu einer nahen Bahnlinie schleppen, starb aber kurz darauf auf dem Weg ins Krankenhaus. Ende Februar 2006 demonstrierten daraufhin mehrere Zehntausend Menschen in Paris „gegen Rassismus und Antisemitismus“.

Wie verfilmt man nun eine solche Schreckenstat, nicht als Dokumentarfilm, sondern als Fiktion? Man hätte einige Befürchtungen bei der Ankündigung eines solchen Kinofilms hegen können. Mindestens zwei Verhängnisse drohten dabei: Würde das unmittelbare Erleben des Opfers in den Mittelpunkt gestellt und die Gewalttätigkeit seiner Entführer herausgestrichen, so könnte der Film zur Gewaltorgie werden. In diesem Falle drohte er, wenn auch unfreiwillig, den Voyeurismus eines bestimmten Publikums zu unterhalten. Umgekehrt drohte ein nüchtern gehaltener, auf Details zur Brutalität verzichtender und sich auf den gesellschaftlichen Kontext konzentrierender Film, von der realen Gewaltförmigkeit zu abstrahieren. Dies wiederum könnte er, ebenfalls unfreiwillig, auf die Betrachterin eher verharmlosen wirken.

Arcady hat es geschafft, beide Gefahren gleichermaßen zu vermeiden und sich gewissermaßen von beiden Klippen gleich weit entfernt zu halten. Rohe Brutalität wird zwar immer wieder in seinen Film eingespielt, aber jeweils für Sekunden, und füllt nicht total die Wahrnehmung des Betrachters aus. Um einen gewaltorientierten Voyeurismus zu befördern, nimmt diese Dimension einen zu kleinen Teil der Gesamthandlung ein. Doch der Regisseur schaffte es auch zu vermeiden, auf einer allgemeinen Diskursebene stehen zu bleiben, die vom konkreten menschlichen Leid abstrahiert.

Er schafft dies dadurch, dass er die dem Film innewohnende Spannung entlang der Dialoge zwischen den wichtigsten handelnden Personen aufbaut. Im Vordergrund stehen dabei einmal die Debatten zwischen den Familienmitgliedern – vor allem den geschiedenen Eltern, Ruth und Didier Halimi – sowie zwischen ihnen und den Ermittlerinnen und Ermittlern. Mit wachsender Verzweiflung der Angehörigen spitzen sich die Konflikte zwischen ihnen, dem die Ermittlung leitenden Kommissar und der Polizeipsychologin zu. Die Mutter will der Lösegeldforderung nachkommen, die Polizei ist prinzipiell dagegen („Lösegeld wird nicht bezahlt, sonst haben wir in Zukunft jeden Tag Entführungen“) und lässt sich dann auf die Bezahlung einer kleineren als der geforderten Summe ein. Unter der Bedingung, dass die Tasche mit einem Peilsender ausgestattet wird. Doch die Übergabe scheitert nach mehreren Anläufen. Zum Anderen gewinnt gegen Ende des Films eine andere Konfliktebene an Bedeutung, nämlich die Frage, ob und inwieweit bei den Strafverfolgungen auch ein antisemitisches Tatmotiv als erschwerender und damit strafverschärfender Umstand berücksichtigt wird.

In dem Film nimmt der ermittelnde Staatsanwalt dazu die eine Position ein: Im Vordergrund habe Geldgier gestanden, weshalb wegen Entführung, Körperverletzung und Mordes zu ermitteln sei, während ein ideologisches Tatmotiv wie Antisemitismus jedoch auszuklammern sei. Die Gegenposition nimmt die parallel zu ihm ermittelnde Untersuchungsrichterin ein, aber auch die Mutter Ruth Halimi: Ihr Sohn sei entführt worden, weil er Jude gewesen sei.

Tatsächlich hat sich auch „im wirklichen Leben“ ein Konflikt an dieser Frage abgespielt. Wenige Tage nach Zerschlagung der Bande, deren Mitglieder zum Großteil noch in der Woche nach dem Tod Ilan Halimis verhaftet wurden – Youssouf Fofana wurde wenige Tage später durch die Côte d’Ivoire, das Herkunftsland seiner Eltern, ausgeliefert – änderten die zuständigen Justizbehörden ihre Linie und nahmen ein antisemitisches Motiv als erschwerenden Tatumstand in die Ermittlungen und in die spätere Anklage mit auf.

Allerdings wird, um dem Film seiner Dramaturgie zu geben, der inhaltliche Widerspruch angesichts der Gemengelage von Tatmotiven als Konflikt zwischen einzelnen Personen dargestellt. In Wirklichkeit lässt er sich wohl nicht an bestimmten Persönlichkeiten festmachen, da dieselben Individuen im Laufe der Affäre oft ihre Position wechselten.

Kritikpunkte

Auch an anderen Stellen lässt sich der zum Teil fiktive Charakter der Handlung ablesen, die sich mitunter ein Stück weit vom realen Geschehen entfernt. Im Film werden mehrere Versuche zur Geldübergabe gezeigt. In Wirklichkeit ist es dazu nie gekommen: Youssof Fofana, der sich während einem Teil der Dauer der Entführung in die Côte d’Ivoire zurückgezogen hatte und von dort aus telefonisch seine Anweisungen gab, wollte sich zunächst das Lösegeld über den Finanzdienstleister Western Union nach Westafrika transferieren lassen. Dies funktionierte jedoch aus in der Öffentlichkeit noch nicht genau bekannten Gründen nicht. Die Übergabeversuche, die in dem Film Alexandre Arcadys die Spannung mit aufbauen, haben so nicht real stattgefunden. Kaum realistisch ist zudem die Darstellung an dieser Stelle, da der Vater Alexandre Arcady im rasenden Polizeiauto mit Blaulicht von einem der durch die Entführer – die ihre Forderungen diesbezüglich wiederholt ändern – vorgegebenen Übergabeort zum nächsten transportiert wird. Kein Entführer wäre wohl so dumm, einen im Polizeiwagen vorwahrenden Überbringer des Lösegelds als Gesprächspartner zu akzeptieren. Auch die zwei mal knapp gescheiterten Versuche zur Festnahme Youssouf Fofanas - zu Zeitpunkten, an denen die Geisel noch lebt - sind Bestandteil der Filmhandlung. In Wirklichkeit sind sie nicht belegt.

Der Film endet zunächst mit Szenen von der Festnahme der einzelnen, über zwanzig Mitglieder und Helfer der kriminellen Bande, und mit ihrer Verurteilung. Dabei werden einzelne dokumentarische Versatzstücke – aus der Fernsehreportage über die Auslieferung Fofanas – in das Filmwerk integriert. Im Abspann erfährt man von der Verurteilung von achtzehn der Tatbeteiligten, die oft langjährige Gefängnisstrafen erhielten. An dieser Stelle hätten sich noch aktuelle Zusatzinformationen einbauen lassen. Youssouf Fofana, dem Experten psychopathische Züge attestieren, war in der Haftanstalt wiederholt in Gewalthandlungen verwickelt. Im Februar wurde er zu zusätzlichen drei Jahren wegen Gewalt gegen einen Wärter verurteilt. Der prominente französische Antisemit Dieudonné M’bala M’bala hatte im Jahr 2010 provokatorisch die Freilassung Fofana gefordert. Seine damalige Erklärung wurde zum Gegenstand eines Strafverfahrens wegen Volksverhetzung, endete jedoch im Februar dieses Jahres mit einem Freispruch.

Anfang Mai 14 war Regisseur Alexandre Arcady in eine Talkshow des öffentlich-rechtlichen zweiten Kanals im französischen Fernsehen eingeladen. Dabei kam es zu einem heftigen Streit zwischen ihm und dem Fernsehjournalisten Aymeric Cardon. Letzterer warf Arcady vor, zu sehr auf die spezifisch antisemitische Dimension der Tathintergründe abzuheben. Es gebe ja auch andere Formen von Rassismus, und außerdem töte die Armee Israels auch palästinensische Jugendliche. Dies führte zu einem kurzen, aber scharfen Disput. Die gesamte Szene einschließlich der Auslassungen Carons wurde bei der Ausstrahlung der Sendung jedoch herausgeschnitten, im Anschluss jedoch durch die neokonservative Journalistin Elisabeth Lévy skandalisiert. Sie ist oft polemisch, traf jedoch mit ihrer Kritik an den Äußerungen Carons in diesem Fall den Punkt. Arcady wiederum wurde durch die französische Zeitung Rue89 kritisiert, weil er seinerseits durch die Äußerung „Kein jüdischer Schüler besucht heute mehr eine öffentliche Schule im Bezirk Seine-Saint Denis!“ die Dinge mehr als überspitzte. Die Internetzeitung interviewt dazu mehrere Schulleiter aus diesem Bezirk im nördlichen Pariser Vorstadtgebiet, denen zufolge diese Aussage schlicht falsch ist.

Editorische Hinweise

Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.