Kann oder „darf“ man einen Film mit zumindest teilweise fiktiver
Handlung produzieren und in die – kommerziellen – Kinos bringen,
wenn es darum geht, eines der schlimmsten Verbrechen der letzten
zehn Jahren mit ideologischem Tathintergrund zu beschreiben? Der
Regisseur Alexandre Arcady ging auf jeden Fall ein Risiko, als
er sich entschloss, dem Foltermord an dem junge französischen
Juden Ilan Halimi ein Werk mit Spielfilmcharakter zu widmen. Er
kam am 30. April 2014 in die französischen Kinos. Aktuell läuft
er in einem Dutzend Pariser Säle, oft größeren
Kinos. Am Vorabend des diesjährigen 08. Mai (in Frankreich nach
wie vor ein gesetzlicher Feiertag, ausdrücklich wg. des
08.05.1945) etwa in einem der Säle in der Nähe des
Montparnasse-Kinos, der mit einem generations- und herkunftsmäßig
ziemlich gemischten Publikum gut gefüllt war.
24 jours lautet der Titel von Arcadys Film. Also „24
Tage“. So lange dauerte die Gefangenschaft des damals 23jährigen
Telefonverkäufers jüdisch-marokkanischer Herkunft Ilan Halimi.
Er war am 21. Januar 2006 durch eine Bande unter Anführung des
zwei Jahre älteren Youssouf Fofana, die sich in Bekennerbriefen
mit Geldforderungen selbst als Gang des barbares
bezeichnete, gekidnappt worden. Die kriminelle Gruppe, die
mitsamt Helfershelfern und mehr oder weniger eingeweihten
Mitwissern gut zwei Dutzend Personen umfasste, hielt ihn in
einem Kellerversteck in der Pariser Vorstadt Bagneux fest. Ihr
Motiv bestand vordergründig zunächst darin, Geld zu erpressen –
eine Lösegeldforderung in Höhe von 450.000 Euro wurde an die
Familie des Entführten gerichtet. Aber ein antisemitisches Motiv
floss insofern in die Tat ein, als die Auswahl des
Kidnapping-Opfers auf der Vorstellung beruhte, Juden hätten
grundsätzlich Geld.
Die Familie von Ilan
Halimi war keineswegs vermögend, der junge Mann selbst arbeitete
als Handyverkäufer und seine Mutter als Sekretärin. Vor der
Entführung Ilan Halimis hatte die Bande bereits seit mehreren
Monaten versucht, andere Geiseln zu nehmen. Unter den Opfern
waren zunächst weiße Franzosen und auch ein Schwarzer. Später
kam Fofana nach wiederholten Misserfolgen jedoch auf den
Einfall, man müsse es mit relativ wahllos ausgesuchten Juden
versuchen, da diese nun einmal reich seien - und wenn nicht,
dann gelte, dass sie „alle zusammen halten“. So formulierte
Fofana es in seinen vor Beleidigungen und Drohungen strotzenden
Anrufen an die Familie, während er seine Forderungen an diese
richtete. Später adressierte er auch ein Forderungsschreiben an
einen beliebig ausgewählten Rabbiner.
Während seiner
dreiwöchigen Gefangenschaft wurde Ilan Halimi kaum ernährt – wie
einige der festgenommenen Entführer später angaben, wollten sie
es sich ersparen, ihn in einem Eimer auf die Toilette gehen zu
lassen. Lediglich etwas flüssige Nahrung wurde ihm durch einen
Strohhalm eingeflößt. Er wurde mehrfach geschlagen, eine seiner
Wangen wurde für ein Foto im Bekennerschreiben mit einem Metzer
aufgeschnitten, und mindestens einmal wurden ihm Verbrennungen
mit einer Zigarette zugefügt. Die Entführer, die sehr
unterschiedlicher Herkunft waren, westafrikanischer,
algerischer, portugiesischer oder französischer – jedoch
gemeinsam hatten, in aller Regel Schulabbrecher aus
Sozialghettos in den Pariser Vorstädten zu sein – setzten dabei
auch Bilder von jihadistischer Gewalt ein. Insbesondere
Kriegsbilder aus dem damaligen Kampfgebiet im Iraq, um möglichst
großen Schrecken durch den scheinbar radikalsten Bezug zu
verbreiten. In einem der Videos, das die Entführer an die
Familie sandten, wurde zudem durch die Inszenierung auf die
Hinrichtung des US-Journalisten David Pearl genommen. Er war
2002 in Pakistan durch seine jihadistischen Entführer ermordet
worden, die ihn dabei filmten, wie sie ihm die Kehle
durchschnitten. Nach dreiwöchiger Geiselhaft gaben Ilan Halimis
Entführer dann die Hoffnung auf, noch an das Geld zu kommen. Sie
übergossen ihr Opfer mit Säure und einer brennbaren Flüssigkeit,
um DNA-Spuren zu vernichten, und ließen ihn vermeintlich tot in
einem Waldstück liegen. Er konnte sich jedoch noch bis zu einer
nahen Bahnlinie schleppen, starb aber kurz darauf auf dem Weg
ins Krankenhaus. Ende Februar 2006 demonstrierten daraufhin
mehrere Zehntausend Menschen in Paris „gegen Rassismus und
Antisemitismus“.
Wie verfilmt man nun
eine solche Schreckenstat, nicht als Dokumentarfilm, sondern als
Fiktion? Man hätte einige Befürchtungen bei der Ankündigung
eines solchen Kinofilms hegen können. Mindestens zwei
Verhängnisse drohten dabei: Würde das unmittelbare Erleben des
Opfers in den Mittelpunkt gestellt und die Gewalttätigkeit
seiner Entführer herausgestrichen, so könnte der Film zur
Gewaltorgie werden. In diesem Falle drohte er, wenn auch
unfreiwillig, den Voyeurismus eines bestimmten Publikums zu
unterhalten. Umgekehrt drohte ein nüchtern gehaltener, auf
Details zur Brutalität verzichtender und sich auf den
gesellschaftlichen Kontext konzentrierender Film, von der realen
Gewaltförmigkeit zu abstrahieren. Dies wiederum könnte er,
ebenfalls unfreiwillig, auf die Betrachterin eher verharmlosen
wirken.
Arcady hat es
geschafft, beide Gefahren gleichermaßen zu vermeiden und sich
gewissermaßen von beiden Klippen gleich weit entfernt zu halten.
Rohe Brutalität wird zwar immer wieder in seinen Film
eingespielt, aber jeweils für Sekunden, und füllt nicht total
die Wahrnehmung des Betrachters aus. Um einen gewaltorientierten
Voyeurismus zu befördern, nimmt diese Dimension einen zu kleinen
Teil der Gesamthandlung ein. Doch der Regisseur schaffte es auch
zu vermeiden, auf einer allgemeinen Diskursebene stehen zu
bleiben, die vom konkreten menschlichen Leid abstrahiert.
Er schafft dies
dadurch, dass er die dem Film innewohnende Spannung entlang der
Dialoge zwischen den wichtigsten handelnden Personen aufbaut. Im
Vordergrund stehen dabei einmal die Debatten zwischen den
Familienmitgliedern – vor allem den geschiedenen Eltern, Ruth
und Didier Halimi – sowie zwischen ihnen und den Ermittlerinnen
und Ermittlern. Mit wachsender Verzweiflung der Angehörigen
spitzen sich die Konflikte zwischen ihnen, dem die Ermittlung
leitenden Kommissar und der Polizeipsychologin zu. Die Mutter
will der Lösegeldforderung nachkommen, die Polizei ist
prinzipiell dagegen („Lösegeld wird nicht bezahlt, sonst haben
wir in Zukunft jeden Tag Entführungen“) und lässt sich dann auf
die Bezahlung einer kleineren als der geforderten Summe ein.
Unter der Bedingung, dass die Tasche mit einem Peilsender
ausgestattet wird. Doch die Übergabe scheitert nach mehreren
Anläufen. Zum Anderen gewinnt gegen Ende des Films eine andere
Konfliktebene an Bedeutung, nämlich die Frage, ob und inwieweit
bei den Strafverfolgungen auch ein antisemitisches Tatmotiv als
erschwerender und damit strafverschärfender Umstand
berücksichtigt wird.
In dem Film nimmt der
ermittelnde Staatsanwalt dazu die eine Position ein: Im
Vordergrund habe Geldgier gestanden, weshalb wegen Entführung,
Körperverletzung und Mordes zu ermitteln sei, während ein
ideologisches Tatmotiv wie Antisemitismus jedoch auszuklammern
sei. Die Gegenposition nimmt die parallel zu ihm ermittelnde
Untersuchungsrichterin ein, aber auch die Mutter Ruth Halimi:
Ihr Sohn sei entführt worden, weil er Jude gewesen sei.
Tatsächlich hat sich
auch „im wirklichen Leben“ ein Konflikt an dieser Frage
abgespielt. Wenige Tage nach Zerschlagung der Bande, deren
Mitglieder zum Großteil noch in der Woche nach dem Tod Ilan
Halimis verhaftet wurden – Youssouf Fofana wurde wenige Tage
später durch die Côte d’Ivoire, das Herkunftsland seiner Eltern,
ausgeliefert – änderten die zuständigen Justizbehörden ihre
Linie und nahmen ein antisemitisches Motiv als erschwerenden
Tatumstand in die Ermittlungen und in die spätere Anklage mit
auf.
Allerdings wird, um
dem Film seiner Dramaturgie zu geben, der inhaltliche
Widerspruch angesichts der Gemengelage von Tatmotiven als
Konflikt zwischen einzelnen Personen dargestellt. In
Wirklichkeit lässt er sich wohl nicht an bestimmten
Persönlichkeiten festmachen, da dieselben Individuen im Laufe
der Affäre oft ihre Position wechselten.
Kritikpunkte
Auch an anderen
Stellen lässt sich der zum Teil fiktive Charakter der Handlung
ablesen, die sich mitunter ein Stück weit vom realen Geschehen
entfernt. Im Film werden mehrere Versuche zur Geldübergabe
gezeigt. In Wirklichkeit ist es dazu nie gekommen: Youssof
Fofana, der sich während einem Teil der Dauer der Entführung in
die Côte d’Ivoire zurückgezogen hatte und von dort aus
telefonisch seine Anweisungen gab, wollte sich zunächst das
Lösegeld über den Finanzdienstleister Western Union nach
Westafrika transferieren lassen. Dies funktionierte jedoch aus
in der Öffentlichkeit noch nicht genau bekannten Gründen nicht.
Die Übergabeversuche, die in dem Film Alexandre Arcadys die
Spannung mit aufbauen, haben so nicht real stattgefunden. Kaum
realistisch ist zudem die Darstellung an dieser Stelle, da der
Vater Alexandre Arcady im rasenden Polizeiauto mit Blaulicht von
einem der durch die Entführer – die ihre Forderungen
diesbezüglich wiederholt ändern – vorgegebenen Übergabeort zum
nächsten transportiert wird. Kein Entführer wäre wohl so dumm,
einen im Polizeiwagen vorwahrenden Überbringer des Lösegelds als
Gesprächspartner zu akzeptieren. Auch die zwei mal knapp
gescheiterten Versuche zur Festnahme Youssouf Fofanas - zu
Zeitpunkten, an denen die Geisel noch lebt - sind Bestandteil
der Filmhandlung. In Wirklichkeit sind sie nicht belegt.
Der Film endet
zunächst mit Szenen von der Festnahme der einzelnen, über
zwanzig Mitglieder und Helfer der kriminellen Bande, und mit
ihrer Verurteilung. Dabei werden einzelne dokumentarische
Versatzstücke – aus der Fernsehreportage über die Auslieferung
Fofanas – in das Filmwerk integriert. Im Abspann erfährt man von
der Verurteilung von achtzehn der Tatbeteiligten, die oft
langjährige Gefängnisstrafen erhielten. An dieser Stelle hätten
sich noch aktuelle Zusatzinformationen einbauen lassen. Youssouf
Fofana, dem Experten psychopathische Züge attestieren, war in
der Haftanstalt wiederholt in Gewalthandlungen verwickelt. Im
Februar wurde er zu zusätzlichen drei Jahren wegen Gewalt gegen
einen Wärter verurteilt. Der prominente französische Antisemit
Dieudonné M’bala M’bala hatte im Jahr 2010 provokatorisch die
Freilassung Fofana gefordert. Seine damalige Erklärung wurde zum
Gegenstand eines Strafverfahrens wegen Volksverhetzung, endete
jedoch im Februar dieses Jahres mit einem Freispruch.
Anfang Mai 14 war Regisseur Alexandre Arcady in eine Talkshow
des öffentlich-rechtlichen zweiten Kanals im französischen
Fernsehen eingeladen. Dabei kam es zu einem heftigen Streit
zwischen ihm und dem Fernsehjournalisten Aymeric Cardon.
Letzterer warf Arcady vor, zu sehr auf die spezifisch
antisemitische Dimension der Tathintergründe abzuheben. Es gebe
ja auch andere Formen von Rassismus, und außerdem töte die Armee
Israels auch palästinensische Jugendliche. Dies führte zu einem
kurzen, aber scharfen Disput. Die gesamte Szene einschließlich
der Auslassungen Carons wurde bei der Ausstrahlung der Sendung
jedoch herausgeschnitten, im Anschluss jedoch durch die
neokonservative Journalistin Elisabeth Lévy skandalisiert. Sie
ist oft polemisch, traf jedoch mit ihrer Kritik an den
Äußerungen Carons in diesem Fall den Punkt. Arcady wiederum
wurde durch die französische Zeitung Rue89
kritisiert, weil er seinerseits durch die Äußerung „Kein
jüdischer Schüler besucht heute mehr eine öffentliche Schule im
Bezirk Seine-Saint Denis!“ die Dinge mehr als
überspitzte. Die Internetzeitung interviewt dazu mehrere
Schulleiter aus diesem Bezirk im nördlichen Pariser
Vorstadtgebiet, denen zufolge diese Aussage schlicht falsch ist.
Editorische
Hinweise
Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.
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