Kommentare zum Zeitgeschehen

Im germanozentrischen Vollrausch

von
Antonin Dick

07-2014

trend
onlinezeitung

Der ökonomische und politische Riese Deutschland taumelt auf dem von ihm beherrschten Kontinent. Auf den brasilianischen Fußballfeldern, die mit dem Blut der Arbeiter errichtet wurden, tanzte er. Der 10. Juli 2014 könnte Epoche machen für die neuen Deutschen: Im Bundestag, und zwar von ganz links bis ganz rechts, begrüßten alle Volksvertreter die von großem Tamtam begleitete Ausweisung eines US-Geheimdienstverantwortlichen aus Deutschland. Der Anlass ist nichtig, wie der Finanzminister mit stolz geblähter Brust verkündet. Damit sind inzwischen alle Mächte der Anti-Hitler-Koalition düpiert, disqualifiziert, in die Schranken verwiesen. Erst Frankreich, ökonomisch in die Knie gezwungen, Genosse Hartz wird jetzt vom Genossen Holland nach Frankreich eingeladen, Ordnung in die Unterwerfung der Arbeitslosen zu bringen. Dann Russland, mit Hilfe der anderen Teilnehmer der Anti-Hitler-Koalition in Sachen Ukraine clever ausmanövriert. Dann Großbritannien, im Gefolge von EU-Querelen mit Unschuldsmiene elegant vom Kontinent gefegt. Jetzt die Staaten. „Ausweisung nach Textbuch“, schreibt einen Tag später der Tagesspiegel lakonisch. Wie heißt es in der Präambel des Zwei-plus-Vier-Vertrages vom 12. September 1990? Die wiedervereinigten Deutschen verpflichten sich zur „Zusammenarbeit in Europa“ und „zu Vertrauen“, zur „Bereitschaft, sich gegenseitig nicht als Gegner zu betrachten“ und dazu, „Gegensätze endgültig zu überwinden.“ Das Gegenteil ist eingetreten.

Niemand auf der Welt hatte die Deutschen gedrängt, sie sollen die DDR abschaffen. Jetzt wird sie dringend gebraucht, selbst eine mit Stasi-Seilschaften. Als die Kommunistin Margot Honecker 1990 nach Chile emigrierte, sagte sie den widervereinigten Deutschen ein böses Ende voraus. Man lachte sie aus. Aber bewegen wir uns nicht Schritt für Schritt exakt auf diese Wahrheit zu? Anlässlich einer anderen „Wiedervereinigung“, der vom Januar 1871, prognostizierte der französische Dichter Arthur Rimbaud in seinem Gedicht „Soir historique“ (Historischer Abend): „À sa vision esclave, – l‘ Állemagne s’échafaude vers des lune…“ („Deutschland in seiner knechtischen Vision baut ein Blutgerüst hoch in die Monde.“) Es kam exakt so. Als dieses Blutgerüst von den Alliierten der Anti-Hitler-Koalition gestürmt und zum Einsturz gebracht wurde, hielt ein anderer Emigrant Ende Mai 1945 in der Library of Congress in Washington eine bemerkenswerte Rede, in der er ausdrücklich vor einer Wiederauflage eines wie auch immer gearteten deutschen Staatsgebildes im Herzen Europas warnte. Es war Thomas Mann, der seine Deutschen kannte wie kein anderer.

Sein Resümee lautete:

„Der deutsche Drang zur Einigung und zum Reich, von Bismarck in preußische Bahnen gelenkt, war mißverstanden, wenn man nach gewohntem Muster eine Einigungsbewegung national-demokratischen Gepräges in ihm sah …Aber es erwies sich, dass der europa-übliche national-demokratische Weg zur Einigung der deutsche Weg nicht war. Bismarcks Reich hatte im Tiefsten nichts mit Demokratie und also auch nichts mit Nation im demokratischen Sinn dieses Wortes zu tun. Es war ein reines Machtgebilde mit dem Sinn der europäischen Hegemonie, und unbeschadet aller Modernität, aller nüchternen Tüchtigkeit knüpfte das Kaisertum von 1871 an mittelalterliche Ruhmeserinnerungen, die Zeit der sächsischen und schwäbischen Herrscher an. Dies eben war das Charakteristische und Bedrohliche: die Mischung von robuster Zeitgemäßheit, leistungsfähiger Fortgeschrittenheit und Vergangenheitstraum, der hochtechnisierte Romantizismus. Durch Kriege entstanden, konnte das unheilige Deutsche Reich preußischer Nation immer nur ein Kriegsreich sein. Als solches hat es, Pfahl im Fleische der Welt, gelebt, und als solches geht es zugrunde.“

Editorische Hinweise

Den Kommentar erhielten wir vom Autor für dieses Ausgabe.

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