Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Demonstration(en) zum Gaza-Konflikt im Raum Paris
Straßenkämpfe und Polemiken. Probleme mit polizeilicher Brutalität, falscher Medienpropaganda und mit infiltrierten Antisemiten – und mehrmonatigen Haftstrafen wegen präventiver Generalrepression gegen Proteste in Paris! [Stand: 23. Juli 14 tagsüber]

07-2014

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Hinweis: Zwecks Leseerleichterung wurde hier die verbreitete, eingedeutschte Schreibweise „Gaza“ beibehalten. Richtiger, da lautlich näher am arabischsprachigen Original, ist die im englischen Sprachraum teilweise übliche Schreibweise „Ghaza“, wobei der Doppelbuchstabe „gh“ in der internationalen Lautschrift für einen Buchstaben ähnlich einem stimmlosen, ungerollten „R“ im arabischen Alphabet steht. Ihre arabischsprachigen Bewohner/innen sprechen den Namen der Stadt wie „Räsä“ aus, mit ungerolltem „r“ und sehr weichem „s“.

Am Sonntag, den 13. Juli sorgte in Paris erstmals eine Demonstration zum aktuellen militärischen Konflikt um Gaza für heftige Polemiken, die sich in der darauffolgenden Woche noch verschärften und zuspitzten. Eine neuerliche Demonstration in Paris, die für den folgenden Samstag – den 19. Juli - geplant wurde, wurde daraufhin durch die französische Zentralregierung untersagt, und das Verbot wurde gerichtlich bestätigt. De facto konnte sie jedoch für kurze Zeit stattfinden: Das Demonstrationsrecht konnte für kurze Zeit mit circa 7.000 bis 10.000 Teilnehmer/inne/n durchgesetzt werden, bevor es infolge polizeilichen Tränengaseinsatzes, aber auch das Wirkens kleiner Grüppchen von Krawallsuchenden und Steinewerfern zum Eklat und zur schnellen Eskalation kam. Am darauffolgenden Tag (Sonntag, den 20. Juli) kam es in der Pariser Vorstadt Sarcelles zu noch heftigeren Zusammenstößen.

Doch berichten wir der Reihe nach.

Verbotspolitik: Präzedenzfall Nizza

In einer französischen Stadt, dem rechtskonservativ regierten Nizza (der fünftgrößten Stadt des Landes), waren bereits am Montag, den 14. Juli sämtliche „pro-palästinensischen“ bzw. gegen den Gazafeldzug gerichteten Kundgebungen untersagt worden. Das Verbot erfolgte auf Anordnung des Präfekten, der vom amtierenden Bürgermeister Christian Estrosi dazu aufgefordert worden war.

Was immer man ansonsten vom Inhalt solcher Demonstrationen denken mag – es lässt sich nicht behaupten, dass Estrosi aus guten Gründen gehandelt habe. Ihm ging es vor allem darum, dass man nicht für ausländische Belange und „fremde Konflikte“ in seiner schönen Stadt defilieren solle - zumal am französischen Nationalfeiertag (14. Juli) stelle dies „eine Provokation“ dar.

Schon am 30. Juni 14, während der jüngsten Fußball-WM, hatte Estrosi in einer Anordnung das Vorzeigen aller „ausländischen Flaggen“ verboten. Die Verordnung, die vor allem auf Fans der algerischen Fußballmannschaft zielte (letztere kam bis ins Viertelfinale gegen Deutschland), wurde jedoch vom Verwaltungsgericht für rechtswidrig erklärt.

Estrosis Verordnungs- und Verbotspolitik ist nicht nur demokratiegefährdend – ebenso wie jene darauffolgende der französischen Zentralregierung -, sie ist im Übrigen auch nicht besonders wirkungsvoll. Am 14.07. setzten sich jedenfalls einige Hundert Menschen in Nizza über das Verbot hinweg, an pro-palästinensischen Kundgebungen teilzunehmen, und besetzten zwei Stunden lang friedlich einen zentralen Platz – die place Garibaldi – in der Stadt.

Gleichzeitig fanden am Sonntag und Montag, 13. und 14. Juli, ebenso wie am darauffolgenden Wochenende in mehreren französischen Städten wie Lille, Lyon, Toulouse, Annecy und anderswo Demonstrationszüge oder Kundgebungen statt. Diese verliefen ganz überwiegend reibungslos. Es war vor allem die Pariser Demonstrationen statt, die im Nachhinein für heftige Auseinandersetzungen sorgt. Dabei stimmt bei weitem nicht Alles, was dazu im Internet an Gerüchten gestreut wird. Und einige Darstellungen sind mindestens grob vereinfachend bis offen die Wirklichkeit verfälschend: in der Spannbreite von alarmistischen Schreien nach „Pogrom“ und Vorbereitung zum Judenmord“, wie man sie etwa bei deutschsprachigen Neokonservativen und Unterstützern der israelischen Rechten – darunter Angehörigen der ,antideutschen“ Spinnersekte - lesen kann, auf der einen Seite bis zu angeblichen „Manipulationen einer durch und durch pro-israelischen Presse“, laut französischen Muslimaktivisten auf der anderen Seite. Lassen wir einmal das Gegeifer von durch und durch ideologisch voreingenommenen Betrachter/inne/n bei Seite, können wir versuchen, einen Blick auf das tatsächliche Geschehen zu werden oder sich diesem anzunähern.

In Paris: Barbès-Bastille

In der französischen Hauptstadt gab es vergangene und diese Woche mehrere Aufrufe zu Protesten gegen eine Fortsetzung der militärischen Attacken auf den Gazastreifen. Dazu zähl(t)en eine Kundgebung, die eher aus der institutionellen Linken heraus unterstützt wurde, am Freitag, den 11. Juli sowie erneut am Mittwoch, den 16. Juli. Diese Ereignisse gaben zu keinen weiteren Streitigkeiten Anlass.

Anders stand es hingegen um die Demonstration von rund 20.000 Menschen, die am Sonntag, den 13. Juli am Nachmittag von der Kreuzung Barbès-Rochechouart ausgehend organisiert wurde. Diese zog zunächst durch das relativ stark von Einwanderung geprägte Barbès-Viertel – ein Stadtteil, den man ungefähr mit Kreuzberg in Berlin vergleichen könnte – und danach zu zwei zentralen Pariser Plätzen, der Place de la République und der Place de la Bastille. Blieb die Demonstration in ihrer ersten Hälfte vollkommen friedlich, so scherten kleine Gruppen oder Pulks ab der Höhe der Place de la République aus. In der Schlussphase kam es in der Nähe der Place de Bastille, unter anderem in der näheren Umgebung zweier in jenem Viertel gelegenen Synagogen, zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. An ihnen nahmen anfänglich einige Dutzend, insgesamt einige Hundert Personen teil.

Die Demonstration war im Durchschnitt ausgesprochen jung und zu circa 55 bis 60 Prozent weiblich. Im Unterschied zu den zuvor stattgefundenen Kundgebungen wurde sie nicht hauptsächlich durch politische Kräfte (überwiegend aus der Linken), organisierte NGOs oder Gewerkschaften getragen, sondern vor allem aus der moslemischen Einwanderungsbevölkerung. Neben vielen palästinensischen Flaggen wurden auch zahlreiche Fahnen der Hauptherkunftsländer von Einwanderern in Frankreich mitgeführt: Tunesien, Algerien, Marokko, Mauretanien… In politischer Hinsicht waren die organisierten Kräfte in der Minderzahl. 15 bis 20 Prozent der Demonstration zählten zur Linken unterschiedlicher Schattierungen, eine Mehrheit war offensichtlich unorganisiert, kam mit der Familie oder zum Teil auch mit Moscheeverbänden oder Stadtteilgruppen von Einwanderern. Auch eine linke bzw. pazifistische jüdische Organisation, die UJFP (Union juive française pour la paix), marschierte mit eigenen Fahnen und Flugblättern mit.

Politische Positionen oder konfessionelles Ressentiment?

1.000 bis 2.000 Personen schienen zu islamistischen Strömungen zu gehören. Zwei salafistische Fahnen waren zu sehen, und ein Demonstrationsblock wies seine Zugehörigkeit zu den ägyptischen Muslimbrüdern aus. (Er positionierte sich aber vor allem auch zu innenpolitischen Fragen in Ägypten, d.h. führte Transparente und Schilder gegen die Repression der militärgeführten ägyptischen Regierung – welche sich u.a. gegen die Muslimbrüder richtet – in ihren Reihen mit.) Ein Teil davon, besonders aus den salafistisch beeinflussten Pulks, trat dabei sichtlich aggressiv auf. Aber auch das martialische Auftreten der Polizei, die schon im oberen Teil der Demonstration Spalier rund um den Protestzug stand, als müsse sie Geschäfte schützen, während die (überwiegend von Algeriern betriebenen) Geschäfte am oberen Boulevard Barbès wohl kaum gefährdet waren, trugen zu einem angespannten Klima bei. Darauf hatten manche jungen Hitzköpfe, die vermutlich nach einem Blitzableiter für ihre Frustrationen und Energien suchten, wohl nur gewartet.

Es ist ein seit längerem zu beobachtender Zustand, dass Demonstrationen zum Thema „Palästina“ unterschiedliche Kräfte an einem Punkt zusammenziehen, die ansonsten eher wenig miteinander gemeinsam haben:

  • Linke, für die die Konflikte rund um Israel/Palästina als eine politische Frage betrachten (beispielsweise als ein Kolonialverhältnis interpretieren, ob dies nun richtig oder falsch sei) und für eine politische Lösung – Zwei-Staaten-Lösung oder binationaler jüdisch-arabischer Staat – eintreten;

  • arabische Nationalisten, die einen unabhängigen palästinensischen Staat, in welcher Form auch immer, ähnlich den Staatengründung nach der Entkolonialisierung in den 1950er und 1960er Jahren anstreben;

  • aber auch Islamisten, die eine Konfessionalisierung des Konflikts betreiben und einen – wie man im Französischen sagen würde – „identitären“ oder identitätsbezogenen Zugang (für ein Volk und gegen das andere, oder eher: für eine Religion und gegen die andere) zum Thema haben. Und die natürlich, mehr oder minder, die politischen Ziele von Hamas teilen; deren harter Kern wurde durch die ägyptischen Muslimbrüder gegründet.

Dabei kann, darf und muss man den vordergründigen, faulen Konsens kritisieren, mit dem oft über die Widersprüche hinweggegangen wird – Demonstrationen zum Thema „(Israel/)Palästina“ oder „Gaza“ mobilisieren einfacher und mehr Menschen als andere Proteste zu denkbar dramatischen Themen. Demonstrationen gegen Repression, Folter und Bürgerkrieg in Syrien etwa finden in Paris zwar ebenfalls statt, fallen aber kleiner aus und benötigen wesentlich mehr Vorbereitungszeit, weil die politischen Kräfte (vor allem jene in der arabischen Einwanderung) sich nicht so vordergründig leicht einigen können. Zudem gibt es dabei fort verquere und schwierige Fronten, wenn Linke sich mit sunnitischen Islamisten gegen das Assad-Regime scheinbar auf einer Seite wiederfinden, während arabische säkulare und „progressive“ Nationalisten sich eher auf die Seite dieses Regimes schlagen. Es ist durchaus fragwürdig, wie vermeintlich leicht eine gemeinsame Positionierung gegen das militärische Vorgehen Israels im Gazastreifen oder den besetzten Gebieten im Westjordanland da „Einigkeit“ zu stiften vermag. Nichtsdestotrotz gibt es auch gute Gründe, gegen diese staatliche Vorgehen einzutreten.

Die Spannbreite der Positionen wurde etwa an der Ecke des Boulevard Magenta (Verlängerung des Boulevard Barbès) und der rue Saint-Vincent-de-Paul sichtbar. Eine arabischsprachige Person hatte dort, überdeutlich sichtbar, mit dickem Filzschreiber und in arabischer Sprache an die Wand eines Geschäfts gekritzelt: „Tod Amerika, Tod Israel – Es lebe Palästina – Es lebe die Islamische Republik Iran“ (im Original: Al-maout lil-Amrika, al-maout li-Israil – Tahayat Filistin – Tahayat al-dschumhuriya al-islamiyya al-iraniyya). Doch eine andere, offenkundig ebenfalls arabischsprachige Person hatte mit einem anderen Stift den Anfang und das Ende des, offensichtlich von der libanesischen Hizballah importierten, Spruchs durchgestrichen und nur noch die Mitte („Es lebe Palästina“) stehen lassen.

Straßenkämpfe

Ihren dramatischten Ausdruck fanden die Spannungen jedoch im Schlussteil des Nachmittags, kurz nach dem offiziellen Abschluss der Demonstration auf der place de la Bastille. Rund um den Platz scherten kleine Gruppen von einigen Dutzend Personen – aufgeheizte Jugendliche und salafistisch beeinflusste Aktivisten – aus, und suchten nach Konfrontationsmöglichkeiten.

Zugleich war eine Konfrontation auch von entgegengesetzter Seite vorbereitet worden. Seit Tagen hatte die rechtsradikale „Jüdische Verteidigungsliga“ (LDJ, Ligue de défense juive) in die unmittelbare Umgebung des Bastille-Viertels mobilisiert(1).

Die LDJ ist eine offen rassistische Organisation und der französische Ableger der rechtsextremen „Kach“-Bewegung des 1990 in New York getöteten Meir Kahana. Ihr gehörte etwa auch der Massenmörder Baruch Goldstein an. Infolge des von ihm 1994 in Hebron angerichteten Massakers wurden mehrere Ableger der internationalen Organisation wegen rechtsterroristischer Gefährdung aufgelöst. Heute sind ihre Unterorganisationen in Israel selbst und in den USA verboten, aber erstaunlicherweise nicht in Frankreich. Die LDJ dürfte im Raum Paris aus rund 200 Personen bestehen, um die sich ein erweitertes Umfeld lagert. Es handelt sich um ein Milieu mit derselben Mentalität wie jene Leute, die in den vergangenen Wochen in Israel zu Lynchaktionen gegen „Araber“ aufriefen. Auch in Frankreich kam es seit 2002 wiederholt zu solchen Lynchversuchen. Erstmals waren am Rande einer pro-israelischen Demonstration am 7. April 2002 in Paris offen gewalttätige Aktionen aus dieser Ecke zu verzeichnen (damals wurde ein Polizist mit einem Messer angestochen und ein spanischer Kameramann lebensgefährlich verletzt), welche sich seitdem immer wieder ereigneten.

Die LDJ, die für die jüdische Bevölkerung ungefähr das darstellt, was die „Grauen Wölfe“ für die türkische Minderheitsbevölkerung sind, unterhält auch Beziehungen zur „klassischen“ extremen Rechten (jener der Mehrheitsbevölkerung). Ihr damaliger Chef Anthony Attal nahm etwa am 11. November 2006 in Le Bourget am „Präsidentschaftskonvent“ von Jean-Marie Le Pen teil – zeitgleich mit dem mittlerweile hauptberuflichen Antisemiten Dieudonné M’bala M’bala. Sie mögen, liebe Leser/innen, nicht den Verfasser dieser Zeilen danach fragen, wo die Kohärenz (Stimmigkeit) darin liegen soll, das müssen diese Leute schon selbst wissen bzw. mit sich ausmachen…

Die Ankündigung dieser Organisation, „zum Abschluss der pro-palästinensischen Demonstration“ vom 13. Juli gegen 18.30 Uhr im Bastille-Viertel anwesend zu sein, wirkte wie ein Magnet auf die aufgeheizten Jungmänner der entgegengesetzten Seite. Und natürlich benötigten einige Aktivisten auf der vordergründig pro-palästinensischen Seite, wie etwa selbsternannte „Glaubenskämpfer“ salafistischen Zuschnitts, keine Sondereinladung, um in die Konfrontation zu ziehen.

Die Eskalation war also gewissermaßen vorprogrammiert, und sie war an jenem Sonntag Nachmittag nicht allein durch eine Seite gesucht und eingeleitet worden. In der rue de la Roquette – eine breite Straße, die von der Place de Bastille in Richtung Nordosten führt - hatte–die LDJ zusammen wie mit weiteren militanten Gruppen (Betar) Aufstellung bezogen. Zwischen mehreren Dutzend, in der Gesamtschau wohl sogar mehreren Hundert Personen kam es daraufhin zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, als kleine Pulks von der inzwischen aufgelösten Gaza-Demonstrationen herüberzogen (und die Einladung zur Konfrontation willig annahmen).

Ein Anwohnervideo dokumentiert die Zusammenstöße wohl am besten. In dem knapp sechsminütigen Video sieht man zunächst – geographisch betrachtet, von rechts kommend – die Aktivisten der rechtsradikalen „Jüdischen Verteidigungsliga“. Sie sind mit Stühlen und anderen Gegenständen bewaffnet und rufen Palestine, on t’encule! (pardon für die Übersetzung, doch dies bedeutet: „Palästina, wir ficken Dich in den A…“). Aus der Gegenrichtung, in diesem Falle rein geographisch von links kommend und ab circa der zweiten Minute ins Bild rückend, drängen dann allmählich Gegendemonstranten heran. Sie halten es mit eher klassischen „Allahu akbar“-Rufen. Vgl. zu der Gesamtszene das Video: http://www.citizenside.com?

Nach diesen Szenen zogen sich die Aktivisten von LDJ und Betar in Richtung der ebenfalls in der rue de la Roquette gelegenen Synagoge zurück, wohin ihre Gegner von der anderen Seite ebenfalls nachrückten. Zwischenzeitlich hatte sich die Polizei zwischen beiden Parteien positioniert. Diese versuchte vor allem beide Streitparteien zu trennen, deckte jedoch faktisch auch den Rückzug der LDJ deckte und ging jedenfalls nicht gegen diese Seite vor (sondern bezog mit dem Rücken zu ihr Stellung).

Festzuhalten bleibt, dass es an jenem Sonntag am frühen Abend relativ spektakuläre und hässliche Kampfszenen gab, die von einer (um nochmals den französischen Begriff zu benutzen) „identitär“ – identitätspolitisch - aufgeladenen Atmosphäre zeigt. Das Herangehen nicht einer einzelnen, sondern mehrerer Gruppen, die darauf insistieren, dass vor allem die Interessen ihrer eigenen Bevölkerungsgruppe respektive ihre eigene Konfession zählen und Vorrang haben, hat bereits heute zu einer erheblichen Eskalation geführt.

Diesen Zustand zu beklagen und zu bekämpfen, ist eine notwendige und richtige Sache. Anders sieht es mit falschen und verzerrenden Darstellungen aus, die von vornherein eine klare und einseitige Schuldzuweisung einschließen – und deren Vertreter sowieso immer schon wussten, auf welcher Seite ausschließlich die Guten (und natürlich rein Guten) stehen, qua essenzialistisch zugeschriebener ethno-konfessioneller Zugehörigkeit. So sind für manche selbsternannten Israelfreunde, unter ihnen so genannte „Antideutsche“, als „Juden“ definierte Menschen immer und überall gut und/oder Opfer. Umgekehrt gibt es in bestimmten, sich als muslimisch verstehenden Kreisen eine Dämonisierung von jüdischen Menschen, die in einem Kurzschluss von vornherein mit Einflüssen der israelischen Politik identifiziert werden.

Es handelt sich bei den kritikwürdigen Szenen vom 13. Juli in Paris weder um ein Pogrom, das die gesamte jüdische Bevölkerung getroffen und in Angst und Verschrecken versetzt hätte, noch um eine manipulative Anklage einer angeblich „total pro-israelischen“ Presse. Zwei politisch-ideologisch Gruppen, die gleichermaßen gefährlich und borniert sind, hatten sich gesucht, gefunden und waren auf quasi vorprogrammierte Weise aufeinandergetroffen. Ihren Einfluss gilt es in jedem Falle zurückzudrängen, sollen weitere Eskalationen vermieden werden. Handele es sich um Salafisten, LDJ-Faschisten, Rassisten oder andere Fanatiker.

Wochenende des 19./20. Juli: präventives Generalverbot von Demos im Raum Paris. Repression und mehrmonatige Haftstrafen

Am Samstag Nachmittag (19. Juli) kamen im Pariser Barbès-Viertel erneut zwischen 7.000 und 10.000 Menschen zusammen, trotz eines durch die französische Zentralregierung verhängten Verbots, das am Vorabend gerichtlich bestätigt worden war. Die Regierung hatte an sechzig Orten in Frankreich (außerhalb von Paris) Demonstrationen zugelassen, aber allen Demos zum Thema im Raum Paris die Genehmigung verweigert. Vier Demonstrationen wurden verboten, von denen zwei dann jedoch stattfanden. Zuerst jene am Nachmittag des Samstag im Pariser Barbès-Viertel, zu welcher die radikale Linke aufgerufen hatte.

Dabei kam es jedoch schnell zur Eskalation zwischen der Polizei und einzelnen Demonstrantengruppen, i.d.R. aufgeheizten Jugendlichen meist mit Migrationshintergrund. Im Anschluss zogen polizeiliche Greiftrupps in Zivil durch den 18. Pariser Bezirk und nahmen Verhaftungen unter allen, die nach Protestierern aussahen, vor.

Das präventive Verbot jeglicher Demonstration zu dem Thema gilt Vielen als gefährlicher Präzendenzfall (und manche Gewerkschafter/innen sprechen etwa von einer „Strategie der Spannung“, welche Eskalationen von vornherein einprogrammiert habe). Und selbst sozialdemokratische und grüne Abgeordneten - d.h. Parlamentarier aus dem Regierungslager - nahmen am vergangenen Donnerstag in deutlicher Form Stellung dazu. Die Demonstration wurde überwiegend aus der radikalen Linken organisatorisch getragen.

Ein weiteres Problem, neben der polizeilichen Problem, war das der Anwesenheit von antisemitischen Aktivisten. Die Strömung um Alain Soral und Dieudonné M’bala M’bala, die ein geschlossen antisemitisches Weltbild propagiert, hatte im Vorfeld im Internet eine Konferenz zum Thema Gazakrieg im Pariser ,Thêâtre de la main d’Or‘ (das im Besitz von Dieudonné steht) für den Samstag, 26. Juli angekündigt. Zur Teilnahme an Demonstrationen rief sie nicht offen auf. Allerdings wird vielfach vermutet, dass diese Strömung hinter einer vor kurzem aufgetauchten Facebookseite unter der Bezeichnung Jeunes révolutionnaires français („Junge französische Revolutionäre“) steht, die v.a. junge Leute mit arabischstämmigem Migrationshintergrund anzuziehen scheint.

In der (verbotenen) Demonstration vom 19. Juli war ein nicht durch explizite politische Kennzeichen ausgezeichneter, ausschließlich mit Palästinaflaggen ausgestatteter kleinerer Block sichtbar. Kurz nach dem Start an der Métrostation Barbès fiel dem Autor dieser Zeilen auf, dass aus einen Reihen kurzzeitig eine akustisch schwer verständliche Parole gerufen wurde, die wahrscheinlich lautete: Juifs, vous êtes des salauds! (Ungefähr: „Juden, Ihr seid Schweinehunde!“) Diese Parole wurde aber schnell durch Umsetzende und den Ordnerdienst durch andere Slogans, die sich gegen die Bombardierungen und gegen die israelische Staatsmacht, aber keinesfalls gegen Juden „als solche“ richteten, überdeckt und übertönt. Gleichzeitig sammelten sich die Ordnerdienste von Antifa- un linken Gruppen. Kurz darauf kam es ohnehin an der Métrostation Château-Rouge zur Eskalation, und folglich zur Aufsprengung der Demonstration und ihrer Auflösung in kleinere mobile Gruppen.

Die Repression wütete unterdessen gegen Teilnehmer/innen der verbotenen Demonstration, und zwar ziemlich unabhängig von ihrer etwaigen politisch-ideologischen Gesinnung. In der rue de Clignancourt im 18. Pariser Bezirk konnte der Verfasser dieser Zeilen etwa zwanzig- bis dreißigköpfige polizeiliche Greifkommandos in Zivil beobachten, die ans Werk gingen. In letzter Minute vor dem Zugreifen streiften deren Angehörige sich dabei – wie das Gesetz es im Falle von Festnahmen vorschreibt – ein orangefarbenes Armband mit der Aufschrift ,Sécurité‘ oder ,Police‘ über. Zuvor hatten sie sich als vermeintliche Demonstrant/inn/en ausstaffiert, und als sie aktiv wurden, holten viele von ihnen etwa unter Palästinensertüchern verborgene Knüppel zum Vorschein. Sie machten Jagd auf Alles, was nach „Protestierer/inne/n am falschen Ort“ aussah, und setzten etwa einer jungen Frau mit Palästinaflagge mit mehreren Dutzend Zivilbeamten nach.

In einem Bericht nimmt die anarchokommunistische Vereinigung Alternative Libertaire (AL) – die zu den vernünftigsten Gruppen auf der radikalen Linken zählt und stark in Antifa-Aktivitäten involviert ist -, sowohl zur polizeilichen Repression als auch zu den Infiltrationsversuchen von Antisemiten Stellung. AL schreibt, man habe Individuen aus der vorgenannten Ecke (Dieudonné-Fans oder Sympathisanten Sorals) beobachtet; diese seien aber deutlich marginalisiert und durch andere Demonstrierende zurückgewiesen worden. Vgl. dazu http://revolutionarabe.over-blog.com/

Zu befürchten ist allerdings, dass am kommenden Samstag (26. Juli) – an dem eine erneute Demonstration stattfinden, und auch diesmal ggf. trotz Verbots durchgesetzt werden soll – diese Strömung verstärkt auftauchen könnte. Jedenfalls, wenn sie im Anschluss an ihre Konferenz in Dieudonnés Theater versuchen sollte, die Demonstration dazu zu nutzen, öffentlich in Erscheinung zu treten. In dieser Hinsicht wird Wachsamkeit erforderlich sein!

Am Sonntag, den 20. Juli kam es in Sarcelles, nordöstlich von Paris, infolge einer ebenfalls verbotenen Demonstration zu relativ heftigen gewaltsamen Auseinandersetzungen. Sarcelles ist ein relativ hartes Pflaster; in dieser Stadt im Pariser Umland waren schon ab 1954 die allerersten Hochhaustürme und Plattenbauten errichtet worden.

Um 17.59 Uhr behauptete die konservative Tageszeitung ,Le Figaro', dass eine Synagoge im Département Val d’Oise (95) - wo Sarcelles liegt - brenne; vgl. http://www.lefigaro.fr(bereits teilkorrigierte Fassung). Die Zeitung konnte aber laut eigenen Angaben nicht einmal die Stadt innerhalb des Bezirks nennen, sondern schrieb, es könne sich „um Garges oder Sarcelles handeln“ - was bedeutet: Es handelte sich um ein Gerücht! Um 18.48 Uhr folgte dann das Dementi: Es handele sich um die Synagoge von Sarcelles, aber sie brenne nicht, es sei allerdings ein Feuerwerkskörper in ihre Richtung geflogen. Vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu]

Kurz darauf war beim sozialliberalen Wochenmagazin Le Nouvel Observateur Präziseres zu lesen, und auch in Form von Fotos zu sehen (vgl. http://tempsreel.nouvelobs.com/): Es habe neben der Demonstration für Gaza auch eine Gegendemo von einigen Dutzend jungen Leuten „mit Knüppeln und Eisenstangen sowie einer Israelflagge“ stattgefunden. Das Wochenmagazin berichtete auch von den üblichen subtilen Slogans wie Palestine, on t'encule („Palästina, wir f... dich in den A..."). Auf diese Leute, die sich da versammelt hatten - und die unzweifelhaft von der rechtsradikalen LDJ waren - flog demnach ein Feuerwerkskörper.

Unterdessen kam es ab dem Montag, 21. Juli bereits zu den ersten Prozessen im Blitzverfahren der ,comparution immédiate‘ – einem Eilverfahren vor Gericht, das bei „Flagrantidelikten“ Anwendung finden kann. Am ersten Prozesstag forderte die Staatsanwaltschaft mehrmonatige Gefängnisstrafen von vier bis sechs Monaten OHNE Bewährung, sowie sofortige Haftüberstellung ab Gerichtssaal, gegen drei Individuen. Unter ihnen ein junger Ingenieur mit drei Kindern, nicht vorbestraft, sowie ein weiterer Familienvater ohne Vorstrafen. Ihnen wurden ausschließlich „Teilnahme an einer verbotenen Demonstration“ sowie „Widerstand gegen die Staatsanwalt“ zur Last gelegt (Letzteres, weil sie sich ihrer Festnahme widersetzt hätte, wobei die Betreffenden beim Zugriff von Personen in Zivil zunächst gar nicht wussten, dass es sich um Polizisten handelte), sowie in einem Falle Verbergen des Gesichts“. Dem Dritten wurde eine „Gewalttat“ vorgeworfen, welche aber lediglich darin bestand, eine polizeiliche Tränengasgranate an die Absender zurückbefördert zu haben. Letztendlich wurden mehrmonatige Haftstrafen auf Bewährung gegen die drei verhängt; vgl. http://www.lemonde.fr/

Am darauffolgenden Tag (Dienstag, den 22. Juli) forderte die Staatsanwaltschaft Haftstrafen bis zu acht Monaten OHNE Bewährung gegen drei junge Männer im Alter von 19, 20 und 27 Jahren wegen angeblichen Richtens von Wurfgeschossen auf die Polizei. Außer den Aussagen von Polizeizeugen liegen aber offenbar keinerlei Beweise gegen die drei vor; vgl. dazu die AFP-Meldung: http://www.lefigaro.fr/flash-actu/ Das Urteil steht zur Stunde, beim vorläufigen Abschluss dieses Artikels, noch aus.

In einem weiteren, besonders schrägen Fall wurde ein junger Mann mit Ingenieursstatus dem Pariser Gericht vorgeführt, der am 19. Juli fernab von der Barbès-Demonstration (in der Nähe der Place de la Bastille) aufgegriffen worden war. Er war in eine Streiterei mit Polizisten verwickelt worden und trug vermeintlich ein Palästinensertuch – höchst verdächtig! Es stellte sich allerdings heraus, dass der junge Mann syrischer Kurde war, ein kurdisches Tuch trug und vor Gericht zu Protokoll gab: „Ich habe mit Palästina nichts am Hut, weil die libanesische Hizballah in Syrien das Regime unterstützt und ihrerseits ,für Palästina‘ eintritt.“ Dennoch forderte die Staatsanwaltschaft vier Monate Haft auf Bewährung gegen ihn. In diesem Falle konnte es das Gericht allerdings nicht überzeugen, das der Strafforderung nicht folgte, sondern in dem Fall auf Freispruch erkannte, vgl. http://www.liberation.fr/

Am selben Tag wurden in Sarcelles in drei Fällen die ersten Haftstrafen OHNE Bewährung verhängt, bis zu zehn Monaten (davon vier Monate auf und sechs Monate ohne Bewährung), mit sofortiger Inhaftierung ab Gerichtssaal. Den Betroffenen wurden Wurfgeschosse gegen die Polizei zur Last gelegt (vgl. http://www.lefigaro.fr/ ). Die Anhörungen zeigten vor allem ein Bild, wie es sich meistens im Zusammenhang mit Riots ergibt - von weitestgehend politisch orientierungslosen jungen Leuten, die aus gegebenem Anlass herbeikommen, um einen „Dampfablass“ für ihre Frustration zu finden, sich mit der Polizei anzulegen und eventuell an der einen oder anderen Plünderungsaktion teilzunehmen.

Die konservativ-wirtschaftsliberale UMP, stärkste Oppositionspartei in Frankreich (aber im Kopf-an-Kopf-Rennen mit dem rechtsextremen Front National), steigert sich unterdessen geradezu in ein repressives Delirium hinein. Am Dienstag, den 22. Juli erklärte am frühen Vormittag Ex-Arbeitsminister Xavier Bertrand – Kandidat für den künftigen Parteivorsitz – im Rundfunkinterview bei ,Radio France Inter‘, er verstehe nicht, warum bei den Prozessen am Vortag überhaupt Bewährungsstrafen verhängt worden seien. Nur Haftstrafen ohne Bewährung, sowie eine Festnahme der Organisator/inn/en der samstäglichen Demonstrationen, schienen in seinen Augen in Betracht zu kommen. Im selben Atemzug zog Xavier Bertrand eine gerade Verbindungslinie von den Teilnehmer/inne/n an den ungenehmigten Demonstrationen über „das Auspfeifen unserer Hymne in Stadien“ bis zu Jihadisten/„Terroristen“, die sich (aus Frankreich und anderswo) auf den Weg zu den Bürgerkriegsschauplätzen in Syrien begeben.

Am selben Tag forderte der Ex-Landwirtschaftsminister und frühere Regierungssprecher Bruno Le Maire (UMP) gefälligst „abschreckende Strafen“, vgl. http://www.lefigaro.fr/ Und der Fraktionsvorsitzende der UMP im Parlament, Christian Jakob, verlangte ebenfalls am Dienstag, die Staatsanwaltschaft solle gegen die angeblich zu milden Strafen „Berufung einlegen“ – und zwecks Erreichens von Haftstrafen ohne Bewährung in die Revisionsinstanz gehen, vgl. http://www.lefigaro.fr/

Am heutigen Mittwoch, den 23. Juli um die Mittagszeit tat die Staatsanwaltschaft i.Ü. denn auch genau dies, vgl. http://www.lefigaro.fr/flash-actu/] Anmerkung: Die Staatsanwaltschaften in Frankreich unterliegen Weisungen aus dem Justizministerium der jeweiligen Regierung.

Am Abend desselben Tages (Mittwoch), nach Abschluss dieses Artikels, wird unterdessen eine erneute Demonstration in Paris stattfinden; dieses Mal mit amtlicher Genehmigung. Diese wird um 18.30 Uhr von der Métro- und Regionalzug-Station Denfert-Rochereau im Pariser Süden aus starten. Dieses Mal wird die Demonstration allerdings nicht durch Einwandererviertel ziehen, wie im Barbès-Viertel im Pariser Norden, sondern durch „gehobenere“ bis reiche Stadtteilen im Pariser Südwesten und im Zentrum. Aus Sicht der Regierung scheint dies die Gewähr zu bieten, dass alles unter Kontrolle bleibt bzw. kanalisiert werden kann. Zunächst war angekündigt worden, dass der Gewerkschaftsdachverband CGT den Ordnerdienst stellen werde – ihre Ordnertruppen sind nicht unbedingt immer speziell für Zartbesaitetheit bekannt -, doch diese wurde dann am Dienstag Abend dementiert: Die CGT werde lediglich ihre eigenen Demoblöcke schützen, vgl. http://www.lefigaro.fr/

Preisfrage

Wenn man (was notwendig und legitim ist) Synagogen schützen will, warum sollen da unmittelbar vor ihnen oder auf ihrem Gelände rechtsradikale Kundgebungen bzw. Gegenkundgebungen stattfinden, die dann programmgemäß hot spots oder Anziehungspunkte für trouble bilden? Die Polizei soll die Synagogen schützen, ja, aber die Rechtsradikalen müssen wegbleiben oder verhaftet werden, und die LDJ endlich verboten werden - wie ihre Pendants in den USA und selbst in Israel!

Unterdessen geht die Mordbrennerei in Ghaza (Gaza) weiter, wo bis zum Abschluss dieses Artikels bereits 700 Tote verzeichnet wurden. Und auch in Frankreich folgt Fortsetzung bestimmt…

Anmerkungen

1) Vgl. dazu einen Aufruf auf ihrer Webseite:
http://www.liguedefensejuive.com/dimanche-13-juillet-rassemblement-de-soutien-a-israel-2014-07-11.html oder ergänzend als nachträglich aufbereitenden Artikel:
http://www.lecourrierdelatlas.com/749814072014La-Ligue-de-defense-juive-avait-annonce-sa-presence-a-la-fin-de-la-manifestation-pro-palestinienne.html

Editorische Hinweise

Den Text bekamen wir vom Autor für diese Ausgabe.