Das Unbehagen in der sozialen Kompetenz

von Martin Gohlke

07/2015

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Soziale Kompetenz gilt als unverzichtbar, um in der modernen Warengesellschaft zurecht zu kommen – auch wenn unklar ist, welche Fähigkeiten darunter zu verstehen sind, und auch wenn dabei Affirmation um den Preis der Individualität betrieben wird.

Soziale Kompetenz ist in aller Munde, sie erscheint so sehr als eine Inkarnation des Guten, dass sie für Sonntagsreden geradezu prädestiniert ist. Die Konzepte der Sozialkompetenz werden lobend wie drohend überall verbreitet, kaum jemand kann sich ihr entziehen. Sie sind Futter für jede erfolgreiche Selbstdarstellung – mit sozialer Kompetenz auf der Zunge und in der Gemütsausstrahlung lebt es sich erfolgreicher; man kommt besser ran an die Jobs, die erträglich sind.

Fragend ergeben sich neue Sichtweisen, versuchen wir es. Was ist eigentlich besser: Sozial kompetent das Falsche zu tun oder sozial inkompetent das Richtige? Und: Wie war das noch mit den Nazigrößen, die in vorzüglicher Sozialkompetenz Büros leiteten, welche die Ausrottung der Juden organisierten?

Die Fragen verlangen nach einer Begriffsdefinition. Ob bei Wikipedia oder in der Fachliteratur, die Begriffserläuterungen werden stets auf dem Boden des Kritischen Rationalismus durchgeführt, die Überschneidungen fallen somit schnell ins Auge. Soziale Kompetenz, längst ein Studienfach und ein Berufsbild und oft synonym für Soft Skills verwendet, beinhaltet die Fähigkeit, die eigenen Handlungsziele mit denen von anderen in Einklang zu bringen. Die Begriffsbestimmung der beiden Wissenschaftler Rüdiger Hinsch und Ulrich Pfingsten bringt notwendige Komplexitätserfassung und wünschenswerte Klarheit zusammen: Soziale Kompetenz wird als "Verfügbarkeit und Anwendung von kognitiven, emotionalen und motorischen Verhaltensweisen bezeichnet, die in bestimmten Situationen zu einem langfristig günstigen Verhältnis von positiven und negativen Konsequenzen für den Handelnden führen." Sucht man in der Literatur nach den konkreten Kenntnissen und Fähigkeiten, die ein sozial kompetentes Individuum im Umgang mit anderen und mit sich selbst haben sollte, kann man Hilfsbereitschaft, Mitgefühl und Einfühlungsvermögen (Empathie), Kompromissfähigkeit, Toleranz, Wertschätzung, Respekt, Selbstwertgefühl, Urvertrauen, Kommunikationsfähigkeit und Großmut finden.

Ganz schön viel an Anforderungen. Aber die Liste sozialer Kompetenzen ist noch länger, was den Eindruck verstärkt, dass das Bild eines moralischen Übermenschen produziert wird, ein Problem, um das die Sozialkompetenzler zwar wissen, aber das sie nicht immer mit Nachdruck problematisieren. Die Möglichkeit, das man in die innere Unfreiheit stürzt, wenn man den mannigfachen Ansprüchen der sozialen Kompetenz versucht gerecht zu werden, ist erheblich. Und die Gefahr, dass das in psychologisierendem Gerede oder lähmenden Mindfuck endet, ebenso.

Einige Sozialkompetenzler betonen, das Milieus und Gesellschaften soziale Kompetenz unterschiedlich definieren und die Operationalisierung der sozialen Kompetenz mit den Begriffen Toleranz, Wertschätzung usw. kritisch hinterfragt werden kann. In der Tat. Zivilcourage kommt oft intolerant daher, gleichzeitig erfährt sie eine gewisse gesellschaftliche Achtung, was nun? Widerspenstigkeit kann die Verletzung von Gefühlen anderer nicht ausschließen, zugleich kann sie Widersprüche erfolgreich zum Tanzen bringen und Gutes einleiten, was dann? Wer schreit, der hat Unrecht, heißt es und als in der Regel sozial zumindest unpassend gilt es auch. Aber was ist, wenn die verbale Deutlichkeit ein gelähmtes und ätzendes Miteinander produktiv auflösen konnte, weil der mit Argumenten laut Sprechende sich inhaltlich als Autorität erwies, den Nagel auf den Kopf traf und ohne Lautstärke die Anwesenden gar nicht mehr zur Aufmerksamkeit fähig gewesen wären?

An Gründen für sozial inkompetentes Verhalten können derer viergenannt werden. Grund Eins: Schlechte Lebensbedingungen. Hören wir Friedrich Engels: "Marx entdeckte ... die bisher unter ideologischen Überwucherungen verdeckte einfache Tatsache, dass die Menschen zuerst essen, trinken, wohnen und sich kleiden müssen, ehe sie Politik, Wissenschaft, Kunst, Religion usw. treiben können." Engels bringt es mit diesem Satz, ein Stolz des Materialismus, auf den Punkt; das Begriffsinventar der Sozialkompetenz und ein upgedatetes Erkenntnis- und Kulturniveau einbezogen, könnte man frei nach ihm sagen: Die Menschen müssen zuerst essen, trinken, wohnen, sich kleiden, Internet-User und sich bilden, ab und zu tiefenentspannt und eines Orgasmus fähig sein können, bevor sie sinnvolle Tätigkeiten ausüben und dabei empathisch und hilfsbereit sein können. Wer wollte einer solchen Kausalität nicht etwas abgewinnen können?

Soziale Kompetenzen gibt es also nicht voraussetzungslos, sie erfordern soziale Bedingungen. Aber wann sind soziale Verhältnisse eigentlich gegeben? Und wer entscheidet darüber, wann sie gegeben sind? Im Gegensatz zur Bewertung des Engels-Zitates dürfte die Zunft der Sozialkompetenzler hier nicht mehr mit einer Zunge sprechen, zu viele gedankliche Voraussetzungen liegen quer zueinander. Wenn eine hochqualifizierte Frau bei einer Bewerbung den Nachzug gegenüber einer anderen, eindeutig schlechter qualifizierten Bewerberin erhält, weil der Chef unbewusst eine Mitarbeiterin bevorzugt, die er im Konfliktfall beherrschen kann (Foucault), und anschließend die abgewiesene Bewerberin sich in eindeutig beleidigender Form zeigt – tja, ist sie mit dieser Reaktion gegenüber Menschen, denen die Beleidigungen egal sein können, dann sozial inkompetent oder achtet sie, um nicht den ihr sozial sehr verbundenen eigenen Partner zur Schnecke machen zu müssen, eher vorzüglich auf einen zeitnahen und somit in hohem Maße erfolgversprechenden Aggressionsabbau? Wenn Arbeitskräftewenig feinfühlig auf eine ihnen übel mitspielende Vorgesetzte reagieren – ist es angesichts ihrer Machtlosigkeit und einer möglicherweise fragwürdigen Gesellschaftlichkeit ihres Handlungsrahmens wirklich auszuschließen, dass sie sozial im Bereich der legitimen Möglichkeiten agierten?

Die zweite Antwort auf die Frage, warum sich Menschen sozial ungewöhnlicher verhalten, nimmt Erkenntnisse der Individual-Psychologie auf. Wer von den Eltern in den ersten Lebensjahren nicht gehalten wurde, dem fehlt es in aller Regel an der Sozialkompetenz des Urvertrauens. Wer von Papa erniedrigt wurde, kann in der Regel nur mit viel Aufwand die Sozialkompetenz der Wertschätzung leben. Und so weiter, und so fort. Die erste Kritikerin der Individual-Psychologie, die Kritische Psychologie, negiert solche Beobachtungen nicht, aber sie besteht auf die gesellschaftliche Bedingtheit persönlichen Verhaltens und sieht gute Arbeits- und Lebensbedingungen und relative Zukunftssicherheit als Voraussetzung, damit die Menschen ihr Leben nicht in einem "Universum permanenter Verteidigung und Aggression fristen müssen. Dann bräuchten sie in der Regel den ganzen psychologischen Reparaturaufwand nicht." (Götz Eisenberg) Zu einfach? Nein, die Kritische Psychologie besteht lediglich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse als gedanklichen Schwerpunkt, vom dem aus eventuell weitergehend problematisiert werden muss.

Die Bedeutung der dritten Antwort auf die Frage nach den Gründen für ungewöhnliches Verhalten wird oft unterschätzt. Es geht um die Naturverhaftung des Menschen. Wir stammen von den Tieren ab und schleppen aus der Evolution Verhaltensweisen mit uns rum, die den heutigen Zivilisationsbemühungen eher abträglich sind. Die Ablösung von der Natur sei sogar, so ist der Aufklärungskritiker Norbert Trenkle zusammen mit Horkheimer und Adorno überzeugt, weitgehend misslungen. Dabei könne von dem von Immanuel Kant so hervorgehobenen freien Willen des Menschen nicht die Rede sein, eher davon, dass wir unserem Verhalten ausgeliefert sind. Somit können wir "tierisches" Verhalten nicht verhindern, wir können lediglich versuchen, im zeitlichen Abstand zum Geschehen, wenn wir die Situation bewusst reflektieren können, selbstkritisch zu sein. Diese Auffassung würde dafür sprechen, in dem gesellschaftlich hoch anerkannten Ritual von erstens Entschuldigung und zweitens Annahme der Entschuldigung mit dem Versuch des anschließenden Vergessens des Vorfalls ein Stück erfolgreich gelebte Kultur zu sehen. Infrage gestellt wurde die Auffassung von einem freien Willen des Menschen übrigens insbesondere von dem Psychoanalytiker Sigmund Freud. Wobei er, was weniger bekannt ist, nicht in erster Linie den Sexualtrieb, sondern die von ihm auch nach heftiger Kritik vehement verteidigte These eines von der Natur mitgegebenen Aggressions- und Todestriebes als so bedeutend für das Verhalten einschätzte, dass seines Erachtens der Mensch definitiv nicht "Herr im eigenen Hause ist".

Die Frage nach den Gründen für dissoziales Verhalten ist noch nicht ausreichend beantwortet. Ein weiterer Begründungszusammenhang wendet sich den gesellschaftlichen Verhältnissen zu und kann den bisher genannten Gründen als vorgesetzt angesehen werden. Gibt es einen besonderen gesellschaftlichen Bezugsrahmen, in welchem die Menschen sich heutzutage bewegen, der ihr Verhalten ganz wesentlich konstituiert? Oder agieren sie frei davon, sozusagen als pure Individuen?

Als Monty Python in Das Leben des Brian ausrufen lässt "Wir sind doch alle Individuen" fühlte sich der Zuschauer sehr gelungen komisch unterhalten, sofern er um folgenden Sachverhalt wusste: In der kapitalistischen Moderne existiert der Mensch in der quasi doppelten Person des Warensubjekts und des Individuums. Der Mensch bewährt sich in der modernen Gesellschaft dadurch, dass er erfolgreich kauft und verkauft, ob es sich nun um seine Arbeitskraft handelt oder um eine andere Ware. Er hat gelernt, die Ergebnisse seiner diesbezüglichen Anstrengungen stets als Folge seiner Fähigkeiten bzw. seiner Schwächen zu betrachten. Wie sich der Mensch sieht, hängt entscheidend davon ab, wie erfolgreich er sich unter der gegebenen Matrix von Kauf und Verkauf bewegt. Dabei ersehnt sich der Mensch als ein starkes Subjekt, man kann sagen als Warensubjekt, denn es geht "in der Realität" ja immer um Waren, insbesondere um den gelingenden Verkauf der eigenen Ware Arbeitskraft. Klappt das mit der Selbstaufstellung als starkes Subjekt nicht, melden sich Scham- und Schuldgefühle, die der Mensch abzuwehren versucht.

Nun erfährt der Mensch seine Zweiteilung in unabweisbarer Art, einmal ist er die Person als Warensubjekt und das andere Mal die Person als Individuum. Er benötigt unbedingt beide Personen in sich, denn nur so kann er seine negativen Gefühle beherrschen. Verhält er sich bspw. in seinem Dasein als konkurrierendes Warensubjekt dissozial, so kann er seine Schuldgefühle mit der Beruhigung überwinden, dass ihn die von der Gesellschaft gesetzten Rahmenbedingungen dazu getrieben haben und dass das mit seinem wahren Ich als Individuum nichts zu tun hat.

Nach dem Psychologen Meinhardt Creydt (folgende Zitate von ihm) gibt es vier Typen der zweigeteilten Lebensführung in Warensubjekt und Individuum, die allesamt "eine kräftige Quelle der Verschwendung von Aufmerksamkeit und Energie bedeuten und zuverlässig für Aversionen und Zermürbungen sorgen". Typus Nummer Eins betrifft das Dasein des Warensubjekts durch einen Habitus der Überlegenheit. Das Gefühl, dem Ideal als erfolgreiches Warensubjekt nicht zu genügen, bearbeitet das Ego in diesem Fall damit, dass es sich auf die vermeintlichen Schwächen anderer konzentriert. Die erste Variante, aus sich selbst durch einen Blick auf die Schwächen anderer mehr zu machen, ist der helfende Stil, mit dem bspw. das im Konkurrenzkampf als Schwäche erfahrende eigene Anlehnungsbedürfnis durch besondere Fürsorge für andere kompensiert wird. Eine andere Möglichkeit ist eine Haltung, die das eigene Handeln meidet und sich ganz der Musterung anderer verschreibt. Entsprechend dem Wissen, dass wer handelt auch Fehler macht, wird stets das beobachtende Verhalten gesucht, dass sich schlauer darstellen kann als die Handelnden, da es mit der Fehlerquelle Praxis wenig oder nichts zu tun hat. In der Arbeitsgesellschaft ist dieses Verhalten insbesondere bei Personen anzutreffen, die aus Gründen der Stabilisierung einer gewünschten Betriebshierarchie in Positionen geraten sind, die sie mangels Qualifikationen nur selektiv ausfüllen können.

Der zweite Typus des nach Anerkennung als Warensubjekt geifernden Individuums betrifft das Subjekt sein durch die Dienste anderer. Gemeinsam ist hier allen Varianten, dass das Ego schwach ist; der Betroffene kann sich dessen durchaus bewusst sein. Das Ego ist zu gering, um sich an irgendetwas abzuarbeiten oder sein Leiden an der eigenen Subjektschwäche zu relativieren und es zu hinterfragen. Der Betroffene erscheint anderen Menschen oft anbiedernd oder heruntergekommen. Mehrere Strategien hat er zur Verfügung: Er kann sich egozentrisch als eine Art "Liebling des Schicksals" fühlen, der in verwöhnter Manier ganz selbstverständlich die Unterstützung Anderer annimmt. Oder er kann sich ein Machtgefühl dadurch komponieren, dass er sich Schwierigkeiten grundsätzlich entzieht; "er betont dabei die eigene Hilfsbedürftigkeit. Beim Adressaten soll ein schlechtes Gewissen entstehen". Erhält der Betroffene die Hilfe nicht, schraubt er seine Bedürfnisse lieber radikal herunter statt sich in anderer Weise als Warensubjekt aufzustellen, denn dazu reicht sein Ego nicht. Diese Strategie ist prädestiniert dafür, im Alkohol oder anderer Drogenabhängigkeit zu enden.

In einer dritten Form, sich zwischen den Ansprüchen als Warensubjekt und seinem realen Individuum selbst zu verorten, ist die Distanz zu Beidem stilbildend– Subjekt sein durch Unbetroffenheit. Der Gegensatz zwischen Individuum und Warensubjekt soll nicht ausgehalten werden müssen, um besser Abhängigkeiten und Enttäuschungen zu verhindern. "Die Maxime lautet dann 'Ich bin einer, dem kann keiner' ... Wer allein ist, hat es gut, keiner da, der ihm was tut (Wilhelm Busch)". Kultiviert wird die "Skepsis aus Angst vor dem Irrtum ... Coolness erscheint als Ausdruck von Souveränität." Ironie wird zum bevorzugten Mittel der Distanzierung. "Abgeklärtheit ... erfüllt (den Ironiker) mit Durchblickerstolz." Der Betroffene lebt die Illusion, nicht im Gegensatz zwischen Individuum und Warensubjekt gefangen, sondern Herr des Geschehens zu sein.

Die vierte Form (Subjekt sein durch Inszenierung) bemüht sich, dass die anderen Menschen den Unterschied zwischen Warensubjekt und Individuum bei ihm nicht wahrnehmen können. Der Betroffene schauspielert zu diesem Zweck; wenn er sich überhaupt positioniert, dann nie in belastbarer Form; er erfindet sich gern ständig neu, um die Wandlungsfähigkeit, die ihm als Ausdruck der eigenen Subjektstärke gilt, zum Rückzug zu nutzen. Nie ist er etwas wirklich, er ist immer gleichzeitig noch unendlich vieles Andere. "Er betrachtet es als eine Vergewaltigung, ernst genommen zu werden, weil er die jeweilige Gegenwart nicht mit seiner unendlichen Freiheit verwechseln lassen will" (Carl Schmitt, 1919). Diesen Typus tituliert die Umwelt oft mit aalglatt oder schmierig.

Alle vier Subjektformen sind in der dargelegten Weise mit dem Gedankengebäude der Individual-Psychologie unterlegt, ein Tatbestand, den man bei einer Präferenz für die Kritische Psychologie ebenso aufmerksam wie kritisch zur Kenntnis nimmt. Wenn man dabei weiß, dass es schon ernsthafte Versuche der Verbindung von Individual-Psychologie und Materialismus gegeben hat, kann man die psychologischen Argumente jedoch neugierig aufnehmen und sich um eine Einordnung bemühen: Die Vorstellung des vereinzelten Einzelnen, "sein Leben" leben zu können, "seinen Weg" gehen zu können, ist eine Illusion. Keiner kann sich der Matrix der Warengesellschaft, in der er hineingeboren wird, entziehen; ob man will oder nicht, man muss sich am Prinzip des Kaufens und Verkaufens beteiligen; selbst Strategien der Verweigerung stehen vor der Aufgabe, sich gegenüber dem Prinzip zu verhalten. Da Kauf und Verkauf, gemessen an den gesellschaftlich gültigen Ansprüchen für ein gelingendes Leben, im eigenen Untergang enden kann, entstehen für die Psyche Herausforderungen, die der Mensch "an sich" nicht beherrschen kann. Seelische Deformationen sind somit eine normale Reaktion. Auch der Mensch "für sich" (in Anlehnung an Marx heißt das: mit hohem Bewusstsein) kann sich der warengesellschaftlichen Subjektivität mit den entsprechenden Verhaltensweisen schwer entziehen, insbesondere dann, wenn er sich ohne größere Freiräume auf Zwänge wie Lohnarbeit und Familie und den damit einhergehenden gesellschaftlichen Konventionen einlassen muss.

Sozialkompetenz, so wie sie sich in der wissenschaftlichen Grundliteratur und somit auch für jeden Studierenden des gleichnamigen Weiterbildungsgangs zeigt, problematisiert die gesellschaftliche Matrix des Kaufens und Verkaufens, in welcher sich die Menschen in der Moderne begegnen, nicht ausdrücklich als ein herausragendes Thema ihrer Profession. Täte sie es, wäre sie im besten Sinn kritische Wissenschaft, die sich den stummen und bei einem positivistischen Blick auf das Geschehen verborgen bleibenden Voraussetzungen ihres Gegenstandes annimmt. Ob ein Sozialkompetenzler in seinem beruflichen Wirkungsbereich positives bewirken kann, hängt entscheidend davon ab, ob er die große Bedeutung des Daseins als Warensubjekt für menschliche Verhaltensweisen verinnerlicht und für seine Tätigkeit operationalisiert hat.

Sozialkompetenz, welche die verhaltensprägende Rolle der zweigeteilten Persönlichkeit in Warensubjekt und Individuum negiert oder schlicht nicht um sie weiß, ist in einem schlechten Sinn bürgerlich. Denn sie bezieht sich affirmativ auf die in der bürgerlichen Gesellschaft den Ton angebende Wirtschaftslehre, die den kapitalistischen Tausch, der sich als Akt des Kaufens und Verkaufens darstellt, als Teil der menschlichen Natur interpretiert. Eine so geleitete Sozialkompetenz bleibt blind gegenüber der Einordnung von Verhaltensweisen, die sich aus dem Tatbestand erklären können, dass jemand ein tiefes Unbehagen gegen sein Schicksal spürt, keine andere Möglichkeit zu haben als bei etwas mitzumachen, unter deren deformierende Wirkung er leidet. Sein bewusster oder unbewusster Widerwille, sich als Warensubjekt aufzustellen, kann ihn zu auffälligen Verhaltensweisen treiben. Dabei ist er konfrontiert damit, dass er mit seiner Nicht-Abgestumpftheit als ein gesellschaftliches Problem wahrgenommen wird. Denn es übersteigt den Horizont des gesellschaftlich etablierten Bewusstseins, dass so etwas scheinbar Natürliches und Banales wie das Kaufen und Verkaufen ein grundlegendes Problem für das soziale Miteinander der Menschen darstellt.

Es wäre eine unzulässige Komplexitätsreduzierung, die Mechanismen der Warengesellschaft in Ausschließlichkeit für dissoziale Verhaltensweisen verantwortlich zu machen. Kann sein, dass es neben Tiefenpsychologie und der menschlichen Vergangenheit als Tier auch noch andere Gründe gibt. Aber es ist keine Glaubensfrage, welcher Faktor hervorzuheben ist. Es gilt die Erkenntnis, dass der ungeschriebene Zwang zur Selbstbehauptung als Warensubjekt für ein soziales Zusammenleben ein großes Problem ist.

Literatur:

Gerald Abl, Kritische Psychologie, Stuttgart 2–2010.
Meinhardt Creydt, Selbstbehauptung als Subjekt, in: Streifzüge, 58/2013.
Götz Eisenberg, Medialer Zynismus a la FAZ, Nachdenkseiten, 2. März 2015.
Friedrich Engels, Das Begräbnis von Karl Marx, in: MEW Bd. 19, Berlin 1987.
Rüdiger Hinsch, Ulrich Pfingsten:Das Gruppentraining sozialer Kompetenzen, Weinheim 2007.
Beate Lakotta, Triebwerk im Keller der Seele, Spiegel, 18/2006.
Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur, Stuttgart 2010.
Soziale Kompetenz, in: Wikipedia. Abgerufen am 20.06.2015.
Steig hinab, Moses, Spiegel-Titelgeschichte zu Freud, 51/1959.
Norbert Trenkle, Kritik der Aufklärung. Acht Thesen, in: Streifzüge, 56/2012.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe. Er wurde am 23.8.2015 gegen eine leicht überarbeitete Fassung ausgetauscht. Der Autor schickte uns noch folgende Zusatz-Infos:

1. Ich habe den Aufsatz auch als Vortrag auf einem Treffen von materialistisch orientierten Erwachsenenbildnern am 8. August 2015 in Braunschweig gehalten.

2. Der Aufsatz erscheint in der nächsten Ausgabe der Philosophie-Zeitschrift Lichtwolf (Nummer 51). Erscheinungsdatum: 22. September 2015.