Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Zur Einwanderungspolitik in Frankreich und einigen aktuellen Migrantenkämpfen

07/2015

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Anmerkung: Dieser Artikel wurde ursprünglich am 23. Juni 15 verfasst für die ,Sozialistische Zeitung’ (SoZ), wo sein Erscheinen in ihrer Juli-Ausgabe geplant war. Die Publikation wurde jedoch aus organisatorischen Gründen auf die Ausgabe von September 15 verschob; bis dahin werden sicherlich einige erhebliche Aktualisierungen fällig sein.

In der vorliegenden Fassung befindet der Artikel sich auf dem Stand vom Dienstag, den 23.06.15. Am selben Tag widmete die französische Tageszeitung ,La Croix’ ihr Titelthema den Migranten an der französisch-italienischen Grenze und meldete, zu dem Zeitpunkt seien 300 von ihnen dort blockiert. Am 29. Juni 15 erklärte der Conseil d’Etat (,Staatsrat’), das höchste französische Verwaltungsgericht, diese Praxis inzwischen für rechtens/,juristisch gerechtfertigt’. – Fortsetzung folgt.

In Italien zeigt man sich schwer erzürnt. „Wenn Frankreich“, gemeint sind die offiziellen Repräsentanten des Staates, „redet wie Madame Le Pen“, titelt die Turiner Tageszeitung La Stampa. „Die egoistischen Staaten machen kein Europa“ (Gli stati egoisti non fanno Europa) steht auf Plakaten, die die sozialdemokratische Regierungspartei PD verkleben lässt. // Vgl. http://www.francetvinfo.fr/monde/europe/migrants/migrants-pourquoi-la-france-commence-serieusement-a-agacer-l-italie_959055.html // Und der amtierende Senatspräsident Pietro Grasso sekundiert: „Der Traum einer solidarischen Europäischen Union, der in den 1920er Jahren geboren wurde, droht auf den Felsen von Ventimiglia zu sterben.“

Gegenstand der Empörung ist die französische Migrationspolitik, die an der gemeinsamen Grenze auf der Höhe zwischen Nizza und Ventimiglia (französisch Vintimille) darin besteht, systematisch alle aufgegriffenen Migranten in Richtung Italien zurückzuschieben. Zwar erlaubt das Schengen-Abkommen Kontrollen in Zügen und anderen Verkehrsmitteln in einer Dreißig-Kilometer-Zone beiderseits einer innereuropäischen Grenze. Doch verletzt die derzeitige Praxis, die de facto auf eine Wiedereinführung systematischer Grenzkontrollen für unerwünschte Reisende – etwa Flüchtlinge aus Eritrea, dem Sudan und anderen afrikanischen Staaten oder aus Syrien – hinausläuft, bestehende EU-Abkommen zur Freizügigkeit. Auch wenn diese Reisefreiheit für die Angehörige von „Drittstaaten“ stets eine relative war, ist doch die derzeitige französische Staatspraxis nur schwer in Einklang mit der Theorie zu bringen.

Rund 8.000 Migranten, die einen Asylantrag stellen könnten, sollen seit Jahresbeginn 2015 und bis Mitte Juni dieses Jahres über die italienisch-französische Grenze eingereist sein, 6.000 wurden zurückgeschickt. Am 19. Juni 15 waren es über 200 binnen anderthalb Tagen. In der Woche zuvor hatten um die fünfzig Geflüchtete, überwiegend aus Staaten am Horn von Afrika, deswegen auf einem Felsen im Meer auf der Höhe von Ventimiglia campiert und demonstrativ gegen die rigorose Rückschiebungspraxis protestiert. Auf der italienischen Seite wiederum versammelten sich rund 100 von ihnen zu einem Sit-in (vgl. http://www.lefigaro.fr ).

Die Polizei zerstreute auf französischer Seite die protestierenden Migranten, die meisten von ihnen kümmerten sich in der Folgezeit vor allem um inoffizielle Möglichkeiten zur Weiterreise. Seitdem ist die Abschottungspraxis an der Grenze in den Meeralpen zum Politikum geworden. Der italienische Europaparlamentarierin Nicola Danti (PD) spricht davon, dass „der Sieg von Marine Le Pen, noch bevor sie in den Wahlurnen gewonnen hat“, offenbar bereits „in den Herzen und Köpfen der französischen Sozialisten stattgefunden hat“.

Auch Italien hat dabei keine ganz reine Weste: Auch dort gibt es starke rassistische Kräfte, das „Fini-Bossi-Gesetz“ genannte Einwanderungsgesetz – verabschiedet unter einer Koalition aus Rechten und Rechtsextremen vor knapp zehn Jahren – zählt zu den härtesten in der EU. Und die damals mitregierende Lega Nord punktete soeben bei den Regionalparlamentswahlen vom 31. Mai dieses Jahres (bis in den Süden Italiens hinein). Doch aufgrund seiner geographischen Situation ist Italien, mit seinen ausgedehnten Mittelmeerküsten, ein Durchreiseland für viele Geflüchtete. MigrantInnen, die nicht unbedingt dort bleiben möchten, sondern lieber auf die britischen Inseln – deren Arbeitsmarkt als relativ durchlässig gilt -, nach Skandinavien oder nach Frankreich oder Deutschland weiterreisen möchten. Aus familiären Gründen, aus sprachlichen, oder weil in den betreffenden Ländern bereits eine Community aus ihren Herkunftsländern lebt. In den Küstenregionen zeigt sich die örtliche italienische Bevölkerung oft in Teilen hilfsbereit und bewegt von den menschlichen Schicksalen der Migranten. Zugleich ist ein Teil der politischen Klasse sicherlich auch dadurch motiviert, Reisefreiheit für die Migranten zu fordern, dass man insgeheim aufatmet, wenn die Menschen nach einer mehr oder minder kurzen Verweildauer in Italien weiterreisen.

Brutaler ist unterdessen die Praxis der französischen Polizei und der hinter ihr stehenden Regierung. Züge werden gestoppt, Bahnfahrpläne werden durcheinandergeworfen, um Migranten zu desorientieren oder au den Verkehrsmitteln holen zu können. Die Angestellten der staatlichen Bahngesellschaft SNCF sind dazu angehalten, Migranten, die offensichtlich „illegal“ unterwegs seien, ihre Fahrkarten abzunehmen. Energisch protestiert hat unterdessen die Eisenbahner-Branchengewerkschaft der französischen CGT. In einem offenen Brief fordert sie die abhängig Beschäftigten der französischen Eisenbahngesellschaft zum „Ungehorsam“ gegenüber einer solchen Politik auf. // Vgl. http://danactu-resistance.over-blog.com //

Migrant/inn/en leben unterdessen in Calais, an der französischen Ärmelkanalküste – von wo aus sie gern nach England übersetzen möchten – in als „Jungles“ bezeichneten Camps. Am Wochenende des 20./21. Juni 15 fanden sowohl Solidaritäts- als auch rassistische Kundgebungen in Calais statt, für und gegen die Anwesenheit der MigrantInnen und Hilfeleistungen für ihre Versorgung.


In Paris entstanden in den letzten Monaten ähnliche informelle Camps. Bis in der zweiten Juniwoche 2015 wuchs ein solches, das rund 200 GefLüchtete meist aus dem Sudan und Eritrea aufnahm – entweder Asylsuchende, die im viel zu unterversorgten bestehenden Asylsystem keinen Aufnahmeplatz in Flüchtlingsheimen finden konnten, oder die aufgrund der so genannten Dublin-Vereinbarung ihren Asylantrag in Italien oder Griechenland als erstem Durchreiseland der EU stellen müssten. Also in Ländern, die selbst tief in der Krise stecken und, jedenfalls im Fall Griechenlands, keine dieses Namens würdigen Asylverfahren aufweisen.

Unter dem Vorwand, unhygienischen Bedingungen ein Ende zu setzen, wurde das Camp an der Métrostation La Chapelle – in Sichtweite vom Pariser Nordbahnhof aus gelegen – am 10./11. Juni d.J. durch die Polizei geräumt. Als Ersatz wurden den rund 200 Betreffenden allerdings nur Notaufnahmeplätze für Obdachlose, die jeweils nur für eine Nacht belegt werden können, angeboten. Örtlich entstand eine aktive und relativ breite Unterstützungsbewegung (aus Teilen der Anwohnerschaft, Initiativen, „Linksfront“, NPA), die mit den Migranten zusammen mehrere Besetzungen unternahm – eine Feuerwehrkaserne, leerstehende städtische Gebäude und ein Park in der rue d’Aubervilliers wurden nacheinander besetzt. Infolge ihres Kampfes konnte erreicht werden, dass 227 Menschen Angebote für eine zeitlich unbefristete Unterbringung gemacht wurden, von wo aus jene, die es wollen, einen Asylantrag in Frankreich stellen können. Fünfzig der Betreffenden kehrten allerdings schnell an den Ausgangspunkt, den Ort ihrer Besetzung, zurück: Ihre Unterbringung im Pariser Vorort bot einen ,wunderschönen’ Ausblick auf den Stacheldraht des dort liegenden Abschiebegefängnisses. Kleinere Gruppen besetzen weiterhin einen Teil der Parkanlage in der rue d’Aubervilliers. Weitere Berichte folgen..

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel vomn Autor für diese Ausgabe.