„Aus
dem Unterholz hervorkommen“, und ins
Freie vordringen: So nennt man im Französischen die
Übung, welcher sich der rechtsextreme Front National
(FN) mitsamt seiner Verbündeten im Europaparlament
nun unterziehen kann, aber auch unterziehen muss.
Infolge des britischen Abstimmungsergebnisses vom 23.
Juni 16, mit dem erstmals ein Mitgliedsland der EU
seinen Austritt aus der Union beschloss, ist die
Ausstiegsforderung der nationalistischen Rechten auf
einmal zur „konkreten Utopie“ geworden. Statt eine
rein ideologische Dimension aufzuweisen, wird die
Forderung nach EU-Austritt nun zur konkret
umsetzbaren Maßnahme, die einzelne Umsetzungsschritte
nach sich ziehen kann, dadurch aber auch konkret
erlebbare Folgen hervorruft.
Zunächst
einmal: Um Missverständnissen sofort vorzubeugen -
nein, nicht alle 51,9 % der an der britischen
Abstimmung teilnehmenden und für den Austritt
stimmenden Wähler/innen sind Rassisten und
Nationalisten. Nein. Aber alle Rassisten und
Nationalisten, oder fast alle, stimmten für den
Austritt. Um ihr politisches Lager, und nur um
dieses, soll es in den folgenden Zeilen gehen.
Ja, es
stimmt: Auch ein starkes Drittel der
Wähler/innen/schaft der britischen Labour party
(37 %) stimmte für den EU-Austritt; zum Teil aus
sozialen und wirtschaftlichen Gründen, zum Teil waren
diese auch vermischt mit einer xenophob aufgeladenen
Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt. Ja, soziale- und
wirtschaftspolitische Motive spielten eine Rolle.
Wobei allerdings die Ablehnung der neoliberalen EU
mit einem Großbritannien, das künftig im Namen
nationaler Konkurrenzfähigkeit noch stärker
neoliberal durchstrukturiert sein wird, erkauft
werden wird. Finanzminister George Osborne kündigte
unmittelbar nach dem Ausgang des Referendums bereits
an, die britische Körperschaftssteuer, welche auf
Unternehmen erhoben wird und die im Jahr 2010 noch 28
% betrug, derzeit 20 % beträgt, nunmehr auf „unter 15
%“ gesenkt werden solle. Und die Wortführer der
Brexit-Kampagne hießen nun einmal Boris Johnson und
Nigel Farage. Dort, wo es bei der Abstimmung über den
EU-Verfassungsvertrag in Frankreich im Mai 2005 ein
„Nein von Links“ und ein „Nein von Rechts“ ohne
größere Berührung zueinander gab – das Non de
gauche und das non de droite -
, dort waren die konservative und die reaktionäre
Rechte in der britischen Brexit-Kampagne eher
hegemonial.
Aber in den
folgenden Ausführungen wird es nicht um die britische
Referendumskampagne (und ihre Auswirkungen) im
Allgemeinen gehen, sondern um ihre Rückwirkungen auf
die nationalistische Rechte als solche.
Rechtskräfte, Risiko, Rücktritte
Eine Chance
für die Rechtskräfte – oder ein Risiko? Dies wird die
nähere Zukunft erweisen müssen. Dass nun nicht
einfach die Zeit anbricht, in der Milch und Honig
fließen, scheinen einige der Anführer der britischen
Leave– oder Pro-Brexit-Kampagne
jedoch zu erahnen. Nachdem bereits der konservative
Wortführer auf Seiten der Brexit-Befürworter, Boris
Johnson, in den Tagen nach dem Referendum seine
Kandidatur für den Posten des Regierungschefs
faktisch zurückzog – inzwischen wurde er allerdings
zum Außenminister ernannt -, erklärte nun am 04. Juli
der Chef der rechtsnationalen UKIP („Partei für die
Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs“), Nigel
Farage, überraschend seinen Rücktritt. Die beiden
führenden Köpfe der Abstimmungskampagne für den
EU-Austritt haben sich damit unmittelbarer
politischer Verantwortung für die nächste Zukunft
entzogen.
Nichtsdestotrotz haben die rechten Rivalen Farages im
Europäischen Parlament – Marine Le Pen vom
französischen FN und ihre Fraktionspartner,
namentlich von der niederländischen „Freiheitspartei“
(PVV) oder der österreichischen FPÖ – vorläufig auf
Triumph umgeschaltet. Nigel Farage und Marine Le Pen
stehen jeweils eigenen Fraktionen im Europaüparlament
vor, die sich in ihrem Profil mindestens in Nuancen
unterscheiden. Der eher nationalkonservative EU- und
Einwanderungskritiker Nigel Farage, ein früherer
Börsenmakler, der tendenziell auf das politische Erbe
Margaret Thatchers spekuliert, gründete nach den
Europaparlamentswahlen vom Mai 2014 als Erster der
beiden eine Fraktion. Dafür gewann er unter anderem
die politisch eher undefinierbare
„Fünf-Sterne-Bewegung“ des italienischen
Kabarettisten und Polit-Clowns Beppe Grillo, die sich
als „weder links noch rechts“ definieren möchte, und
aus Deutschland die Abtrünnige der früheren
AfD-Delegation, Beatrix von Storch. (Die Mehrheit der
siebenköpfigen AfD-Delegation, die 2014 gewählt
wurde, mit fünf Abgeordneten blieb dem
Ex-Parteivorsitzenden und Wirtschaftsliberalen Bernd
Lucke treu. Dagegen orientieren sich zwei der
gewählten Europaparlamentarier an der neuen, nach
rechts gerückten Parteispitze der AfD. Allerdings
schloss sich von Storch dem britischen
Nationalkonservativen Farage an. Hingegen tendiert
ihr Abgeordnetenkollege Markus Pretzell eher zu
Marine Le Pen, und kooperiert inzwischen auch offen
mit ihr.)
Nigel
Farage schlossen sich ferner auch Rechtsparteien an,
die früher mit FN und FPÖ verbündet waren, und
besonders die rechtsextremen „Schwedendemokraten“
(SD). Diese Partei war 1988 als Neonazibewegung
gegründet worden, versucht sich heute jedoch
geläutert zu geben. Hingegen umgibt sich Marine Le
Pen mit einer Fraktion, die sie erst im Oktober 2015
gründen konnte – zuvor fehlte es ihr an Abgeordneten
aus ausreichend viel Mitgliedsländern – und der
„traditionell“ rechtsextreme Kräfte wie die FPÖ, der
belgisch-flämische Vlaams Belang (VB) sowie die
rassistische Regionalpartei Lega Nord aus Italien
angehören. Auch der niederländische frühere
Rechtsliberale Geert Wilders von der PVV, der sich
seit Gründung der Partei im Jahr 2006 nach rechts
radikalisiert hat, gehört ihr an.
Wilders
forderte infolge der Abstimmung auf den britischen
Inseln, ein baldiges Referendum in Holland über einen
„Nexit“ oder niederländischen EU-Austritt
anzuberaumen. Und der österreichische
Bundespräsidentenkandidat Norbert Hofer von der FPÖ –
infolge der Annullierung der Wahl am 1. Juli d.J.
wird er nun Anfang Oktober d.J. erneut gegen
Alexander van der Bellen antreten – kündigte
seinerseits Anfang Juli 16 an, werde er gewählt,
könnte er ebenfalls ein Referendum über die
Zugehörigkeit seines Landes zu EU abhalten lassen.
Heikle Lage für Marine Le Pen & Co.
Besonders
für den französischen FN ist diese Situation dennoch
heikel, auch wenn er dies öffentlich nie einräumen
würde. Denn nach zähen inenrparteilich Debatten war
die alte Kernforderung nach EU-Austritt soeben, zu
Anfang dieses Jahres, hintan gestellt worden. Die
rechtsextreme Partei hatte in Frankreich sowohl bei
den Bezirksparlamentswahlen im März 2015 (mit 25,2
Prozent im ersten Wahlgang) als auch bei den
Regionalparlamentswahlen im Dezember vorigen Jahres
(mit 27 Prozent) in der ersten Runde jeweils hohe
Ergebnisse erzielt – doch dann in den Stichwahlen
keinen einzigen Bezirk und keine einzige Region
übernehmen können. Die Ursachen dafür wurden
innerhalb der Partei in kontroversen Diskussionen
analysiert, vom 05. bis 07. Februar dieses Jahres
wurden die führenden Funktionäre eigens zu einem
„Strategieseminar“ versammelt. Relevante Teile der
Parteiführung kamen damals zu dem Ergebnis, die
Forderung nach EU-Austritt schrecke eventuelle
konservative Wechselwähler ab und verängstige Renter,
die um ihr Erspartes fürchte, ebenso wie die
umworbenen mittelständischen Unternehmer. Während der
eher für betonte sozialpolitische Demagogie
zuständige Vizevorsitzende Florian Philippot dabei
blieb, man müsse die Forderung nach einem Ausstieg
aus der EU beibehalten, da sich die gesamte
Wirtschafts- und Sozialpolitik der Partei aus der
„Wiedererlangung finanz- und währungspolitischer
Souveränität“ ableite, relativierten etwa die
FN-Abgeordnete Marion Maréchal-Le Pen und der
Vizevorsitzende Louis Aliot die Austrittsforderung
erheblich.
Parteichefin Marine Le Pen entschied sich damals für
einen Formelkompromiss: So, wie der britische Premier
David Cameron die Frage nach Zugehörigkeit oder
Nichtzugehörigkeit des Vereinigten Königreichs den
britischen Wählern vorlegen werde, so wolle man es
auch beim Front National halten. Da Cameron zugleich
im Februar 2016 erst Sonderzugeständnisse für sein
Land in Brüssel heraushandelte – dazu zählte der
Ausschluss von EU-Ausländern von bestimmten
Sozialleistungen in Großbritannien für eine
siebenjährige periode – bevor er selbst schließlich
dazu aufrief, für den Verbleib in der EU zu votieren,
so wollte auch Le Pen erklärtermaßen zunächst
„Verhandlungen eröffnen“. Bei diesen gelte
es, das Maximum für die „nationalen Interessen“
herauszuholen. Im Anschluss dann wolle der FN – nach
solchen Verhandlungen, die die ersten sechs Monate
nach einem Wahlsieg ihrer Partei ausfüllen würden -
„das französische Volk fragen“, was es
von deren Ergebnissen hält, und eine Abstimmung
anberaumen. Ihr Ausgang solle dann die gültige
Entscheidung über Verbleib oder Austritt darstellen.
Dadurch, dass Marine Le Pen sich auf die Forderung
nach Verhandlungen sowie nach einem Referendum
fokussierte, vermied sie es mehrere Monate hindurch,
selbst Stellung zur Frage nach „Drinbleiben oder
rausgehen“ zu beziehen. Dies hielt sie für eine
Positionierung, die geeignet sei, eventuelle
Befürchtungen in Teilen der Gesellschaft zu
beruhigen.
Doch heute
ist diese Position nun Makulatur. Das Ergebnis des
britischen Referendums hat zu einer neuerlichen
Vereindeutigung in den Stellungnahmen des FN geführt.
Sei es, dass das relativ klare Ergebnis es aus seiner
Sicht nicht mehr erlaubt, bei Halbheiten zu bleiben -
sei es, dass er sich nunmehr vom „Volkswillen“
getragen glaubt, wie die Briten ihn bereits zum
Ausdruck gebracht hätten und die Franzosen es noch
tun würden. Jedenfalls bleibt es nicht mehr bei der
Forderung nach eienr Abstimmung, sondern die
Ergebnisse des britischen Referendums werden auch in
der Sache lautstark begrüßt.
Auch die
Abgeordnete Marion Maréchal-Le Pen, die zu Anfang des
Jahres noch eher zu den Skeptikern zählte, erklärte
am 24. Juni 16 über Twitter: „Vom Brexit zum
Frexit – Es ist jetzt Zeit, die Demokratie in unser
Land zu importieren. Die Franzosen müssen wählen
können!“ Ihre Tante und Parteivorsitzende,
Marine Le Pen, gab ein Plakat des FN in Druck, auf
dem zu lesen steht: Brexit, et maintenant la
France! Also: „Brexit, und jetzt ist
Frankreich dran!“ Anlässlich einer Pressekonferenz am
Parteisitz in Nanterre – unweit von Paris - gab
Marine Le Pen sich triumphierend. Sie erklärte:
„Im Gegensatz zu dem, was Altparteien und
etablierte Medien endlos wiederkäuen, um die Leute in
die Resignation zu treiben, ist die Zugehörigkeit zur
EU ebenso wenig unumkehrbar wie die zum Euro.“
Allerdings wiederholte sie kurz darauf bei der
Presse auch wieder ihre Forderung danach, Brüssel
müsse erst mit Paris verhandeln, dann solle es eine
Abstimmung in Frankreich über die Ergebnisse geben.
Bei der
Einweihung einer neuen örtlichen Parteizentrale in
Suresnes, in der Nähe von Nanterre, erklärte Marine
Le Pen am 29. Juni d.J.: „Wir sind dabei,
Geschichte zu schreiben! Wir zittern mit den Briten
mit, die diese außergewöhnliche Gelegenheit ergriffen
haben, um aus der Knechtschaft auszutreten.“
Am Vortag hatte sie im Europaparlament den
bürgerlichen Abgeordneten entgegen geschleudert:
„Eure spitzen Auschreie, Eure
Apokalypse-Drohungen, Eure Börsenkurse – den Briten
war es egal, sie haben es souverän an sich abgleiten
lassen.“
Doch die
liberale Pariser Abendzeitung Le Monde
warnt die FN-Chefin vor, ein Satz, den sie in
Suresnes aussprach, könne zweideutiger ausgelegt
werden, als ihr lieb sein könne. Marine Le Pen sagte
dort auch: „Der wirtschaftliche und politische
Erfolg eines Landes, das die EU verlassen hat, wäre
ein anschaulicher Beweis für ihre schädliche Natur.“
Umgekehrt gilt jedoch: Sollte Großbritannien
eine Wirtschaftskrise durchlaufen, oder aber sollte
die zum Brexit-Votum aufrufende wirtschaftsliberale
Rechte nun soziale Grausamkeiten durchziehen – sowohl
Johnson als auch Farage sind etwa Befürworter einer
Privatisierung der Krankenversicherung (NHS) -, dann
könnte dies auch auf den FN zurückschlagen. Konkrete
Utopie, live erlebt. Oder aber: mitgegangen,
mitgefangen, mitgehangen?
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