Genetischer Strukturalismus
Das Subjekt der Kulturschöpfung


von Lucien Goldmann

7/2017

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Wenn ich dieses Thema gewählt habe, so dar­um, weil es mir am geeignetsten scheint, die Konvergenzen und zugleich die Divergenzen zu beleuchten, die zwischen der soziologisch-dia­lektischen und der psychoanalytischen Unter­suchung von Kulturschöpfungen bestehen. Es kommt nämlich ebensosehr darauf an, den Bei­trag, den die Psychoanalyse — auch aus der Sicht eines Soziologen — zum Verständnis des Menschen und des kulturellen Schaffens leisten kann, zu berücksichtigen, wie die Gegensätze nicht um eines ebenso eklektischen wie vagen Irenismus willen zu verwischen, der der For­schung nur schaden kann.

Zunächst, worin bestehen die Gemeinsam­keiten? Dialektische Soziologie und Psycho­analyse gehen in der Tat beide von einem ge­meinsamen Grundsatz aus: daß nämlich im menschlichen Bereich nie irgend etwas ohne Bedeutung ist. Das besagt nicht, wie man es vom Hegelianismus oft behauptet hat, daß die Dialektik ein Panlogismus wäre (zumal man angesichts der gegenwärtigen Entwicklung der formalen Logik leicht in Gefahr geriete, die­sem Terminus einen zu engen Sinn zu geben). Vielleicht sollte man, um hier einen Begriff zu prägen, besser nicht von «Logik», sondern von «Bedeutung» (signification) ausgehen und von Pansignifikanz sprechen. Unter der Bedingung freilich (diesen Gedanken habe ich schon gele­gentlich einer Diskussion mit Paul Ricceur in Montreal entwickelt), sich dessen bewußt zu bleiben, daß Bedeutung nicht beim Menschen und noch weniger beim Denken und Sprechen beginnt und vor allem nicht immer bewußt ist. [...]

Worauf es ankommt, ist die Tatsache, daß beim Menschen seit seinem Entstehen die Bedeutung immer durch das (wahre oder falsche) Bewußt­sein, durch die Kommunikation in Rede un Sprache vermittelt wird. Wir finden dies signifikante Bewußtsein daher jedesmal dann vor, wenn wir es mit menschlicher Realität zu tun haben, sei diese nun zeitgenössisch oder vergangen (sofern sie genügend Spuren und Zeugnisse hinterlassen hat, die eine Unter­suchung möglich machen).

Gemeinsam nun ist Denkern wie Hegel, Marx, Lukacs, Freud - und ich glaube hinzufügen zu können, auch Piaget - folgender Grundsatz: Jedesmal wenn wir ein menschliches Verhalten einen sprachlichen Ausdruck, einen geschriebe­nen Satz, irgendein Kommunikationsindiz(1) vo uns haben, welchen unmittelbaren Eindruck dies Fragment oder dies Verhalten auch immer hervorrufen mögen - und selbst wenn wir nicht sogleich seine Rationalität, seinen mög­lichen Beitrag zur Lösung eines Problems er­kennen —: immer handelt es sich um ein Sinn­fragment, das sich, wenn es uns gelingt, es in den Komplex einzubeziehen, zu dem es gehört, als signifikativ erweisen wird. Daher laufen sowohl die Analysen von Marx wie diejenigen Freuds (handle es sich um Öko­nomie, Ideologiekritik, politische Geschichte, Geschichte der Literatur, der Philosophie, der Religion und des wissenschaftlichen Denkens oder um die Analyse von Träumen, Neurosen oder Fehlleistungen) darauf hinaus, den signi­fikativen - d. h. den zugleich strukturellen, und funktionalen — Charakter dieses oder jenes menschlichen Dokuments oder Verhaltens zu beleuchten, das ursprünglich mehr oder weni­ger, manchmal sogar gänzlich bedeutungslos erschien.

Dies ist eine erste Gemeinsamkeit. Die zweite liegt in der Art und Weise wie Hegel, Marx, Lukacs und Freud den Sinn eines Fragments rekonstruieren, das nicht in sich selbst signifikativ ist oder auf den ersten Blick eine andere Bedeutung zu haben scheint als diejenige, die die dialektische oder psychoanalytische Untersuchung schließlich erhellen wird. Der Weg, auf dem man zu dieser Bedeu tung gelangt, ist für alle diese Denker die Ein beziehung des Untersuchungsgegenstandes in eine größere relative Totalität, ob man sie nun Struktur, soziales Leben, Bildwelt oder unbewußtes Seelenleben nennt. (...)

Eine dritte Gemeinsamkeit: der Gedanke, ddie Strukturen nicht invariabel und perman
sind, sondern das Ergebnis eines Prozesses darstellen. Deshalb kann man das Bedeutsame einer Struktur nur von der Gesamtheit der Situationen aus begreifen, innerhalb derer diese Struktur entstand. Sie entstand als Versuch des durch sein bisheriges Werden selbst schon strukturierten Subjekts, die bestehenden Strukturen zu modifizieren, um auf die durch die gegenwärtigen Situationen aufgeworfenen Probleme zu antworten — ein Beantwortungsversuch, der in dem Maße, wie äußere Einflüsse oder das Verhalten des Subjekts und seine Ein­wirkung auf die Umwelt die Situationen ver­ändern und neue Probleme aufwerfen, die gegenwärtige Strukturierung des Subjekts fort­schreitend modifizieren wird.

Kurz, sowohl das Denken Freuds wie das von Marx (und wohlgemerkt, diese beiden Namen stehen für jede dialektische, positive Soziolo­gie wie für jede Psychoanalyse Freudscher Richtung) sind genetische Strukturalismen. Dies festgestellt, muß man jedoch auch auf den Unterschieden bestehen, die Marxismus und Psychoanalyse trennen. Diese scheinen mir an erster Stelle an dem Punkte deutlich zu wer­den, den ich heute behandeln will: in der Frage nach dem Subjekt menschlichen Verhaltens und, von da ausgehend, der Signifikation und der signifikativen Sprache; die Frage nach dem Subjekt dieses Verhaltens und dieser Sprache impliziert die Frage nach dem Subjekt der Kulturschöpfung.

Der wesentliche Unterschied zwischen jeder dialektischen Soziologie und dem Freudschen Denken scheint mir in der Auffassung vom Subjekt zu liegen. Aus zwei einander ergän­zenden Gründen hat Freud nämlich, so scheint mir, gedacht, das Subjekt sei immer und über­all ein Individuum. Er hat dies zunächst des­halb gedacht, weil er noch in der Nachfolge der Aufklärung stand(2) und weil die aufklärerische Philosophie — die mehrere Jahrhunderte lang die vorherrschende Denkform des Abendlandes war — immer in irgendeiner Weise vom Indi­viduum ausging. Cartesianisches oder Husserl-sches Cogito, Sensualismus oder protokollie­rendes Urteilen der Empiristen: immer war es das Individuum, das als das einzig mögliche Subjekt des Handelns, Denkens und Verhaltens angesehen wurde. [... ]

Diese individualistische Position wurde bei Freud noch dadurch verstärkt, daß er gerade auf dem Gebiet seiner großen Entdeckungen, namentlich des Unbewußten (durch die er über das Denken der Aufklärung wesentlich hinaus­gelangte und auf dem Wege zu einer dialek­tischen Konzeption der Persönlichkeit war), an­gesichts der Sexualität in erster Linie vor dem biologischen oder unmittelbar vom Biologischen abgeleiteten Aspekt dieser Persönlichkeit stand: vor dem, was man hier «Begierde» ge­nannt hat, was man aber besser, um jede Verwechselung mit Hegeischen Begriffen zu ver­Weiden, mit dem Ausdrude Libido bezeichnen sollte.

Selbst wenn die Struktur der Libido oder der Begierde nicht genital begrenzt ist — und Freud hat als erster entdeckt und gelehrt, daß sie es durchaus nicht ist —, so glaube ich doch, daß man sie auf ziemlich strenge Weise dadurch definieren kann, daß sie ausschließlich solche Triebe umfaßt, deren Subjekt, biologisch be­trachtet, ein Individuum ist, für welches die anderen Individuen nur Objekte sein können, genauer: Objekte der Befriedigung oder deren Hindernisse — so zum Beispiel die Mutter und der Vater im Oedipus-Komplex. Es ist jedoch klar, daß diese Tendenzen, sobald sie einmal in eine des symbolischen Denkens und der Sprache fähige Persönlichkeit inte­griert sind, komplexer werden und gewisse neue Charakteristika entwickeln. Sie haben vor allem die Möglichkeit, sich in ein reflexives Bewußtsein zu integrieren, das Ich zu denken und nun aus ihm das Objekt des Triebs zu machen. So gelangt man zum Narzißmus, der eine menschliche Besonderheit ist und sich da­durch auszeichnet, daß er auf der Stufe des individuellen Subjekts — das unserer Meinung nach nur ein sekundärer Faktor im kulturellen Schaffen ist — eine der wichtigsten Besonder­heiten des maximal entwickelten Kollektiv­bewußtseins antizipiert: die Identität von Sub­jekt und Objekt.

Aus welchen Gründen auch immer, es bleibt festzuhalten, daß die Freudschen Analysen der Kulturschöpfung eine strenge, nur in einigen sekundären Punkten geringfügig modifizierte Übernahme der Analysen des individuellen Verhaltens und der individuellen Libido dar­stellen.

Wenn nun die strukturalistische Psychologie bis zu einem gewissen Punkte zweifellos begründet ist — wir haben dies selbst zu Beginn dieses Vortrags hervorgehoben —, so erscheint uns doch die Übernahme des Begriffs vom individuel­len Subjekt aus dem biologischen und libidina-len Bereich in das soziale Leben und kulturelle Schaffen als höchst problematisch, und wir fürch­ten, daß sie jedes positive und wissenschaftliche Interesse an solcherart Analysen in Frage stellt. [...]

Was das Problem betrifft, das uns beschäftigt, so hat es Freud selbst in «Das Unbehagen in der Kultur» aufgeworfen. Er stellt dort nämlich fest, daß die freie Befriedigung der Libido-Tendenzen — die sich auf die ersten Wesen, die dem Kinde begegnen, auf Mutter und Vater, fixieren — die Entstehung sehr kleiner auto­nomer Gruppen zur Folge haben und jede Bil­dung größerer Gesellschaften verhindern würde.

Nun haben die Menschen aber solche Gesell­schaften geschaffen, und zu diesem Zweck haben sie unter anderem die Befriedigung der intensivsten Libido-Triebe, eben derjenigen, die dem Oedipus-Komplex entsprechen, unter Ver­bot gestellt. Das Inzestverbot ist eine der am weitesten und allgemeinsten verbreiteten sozia­len Institutionen, die wir kennen. Freud wirft die Frage auf, was die Menschen dazu gebracht haben mag, freiwillig eine so schwere und schmerzliche Frustration hinzunehmen, um das soziale Leben und die Zivilisation zu schaffen. Er meint, dies sei eines der wichtigsten Pro­bleme der Wissenschaften vom Menschen, zu dessen Lösung die Wissenschaftler bisher keine ernstzunehmende Hypothese formuliert hätten. Nun, die Antwort, die allerdings den ganzen Freudschen Individualismus in Frage stellt, hatte das marxistische Denken längst for­muliert.

Mit der Entwicklung der symbolischen Funk­tion, der Sprache und der Kommunikation, waren völlig neue und 'revolutionäre Mittel aufgetaucht, jenes andere Grundbedürfnis des Menschen neben der Libido, das Bedürfnis nach Schutz des Lebens (vor Hunger, Kälte, usw.) zu befriedigen. Wir fassen die Gesamtheit der diesem zweiten Bedürfnis entsprechenden Ver­haltensweisen mit dem Ausdruck «Natur­beherrschung» zusammen.

Während nun die Libido — trotz aller Ent­wicklung und Modifikation durch das Auf­treten des Bewußtseins, der symbolischen Funktion und der Sprache — immer individuell blieb, wandelte sich das Verhalten, das dem Bedürfnis entsprach, durch Naturbeherrschung die Lebensbedingungen zu verbessern, von Grund aus. Mit der Kommunikation und der Sprache entwickelte sich die Möglichkeit einer Arbeitsteilung, die ihrerseits wiederum auf die symbolische Funktion zurückwirkte, und so fort (dies ist es, was Plaget den «Rückstoß» [le choc en retour] genannt hat) und erzeugte so etwas völlig Neues und bis dahin Unbekann­tes: das durch mehrere Indioiduen konstitu­ierte Subjekt.

Wenn ich einen sehr schweren Tisch mit mei­nem Freund Jean anhebe, so bin nicht ich es, der den Tisch hebt, noch ist es Jean. Das Sub­jekt des Handelns, im strengsten Sinne des Wortes, ist durch Jean und mich konstituiert. [... ] Die Beziehungen zwischen Jean und mir sind nicht Subjekt-Objekt-Beziehungen wie im Libido-Bereich, z.B. dem des Oedipus-Kom­plexes, noch sind sie intersubjektive Bezie­hungen, wie die individualistischen Philoso­phen meinen, die die Individuen als absolute Subjekte betrachten. Sie sind das, was ich mit einem Neologismus als intrasubjektiue Be­ziehungen zu bezeichnen vorschlagen möchte, d. h. Beziehungen zwischen Individuen, deren jedes ein partielles Element des wirklich han­delnden Subjekts darstellt. Aber um den Tisch gemeinsam anheben zu können, müssen wir imstande sein, ihn zu bezeichnen — ihn und eine ganze Reihe anderer Dinge; es muß also ein theoretisches Denken geben. Und so wird alles, was auf theoretischer Ebene gesagt wird (in dem Maße, wie es mit dem Verhalten verbunden bleibt, das die natür­liche Umwelt oder auch andere menschliche Gruppen zum Gegenstand des Denkens macht), einen Bereich bilden, in dem das Subjekt über­individuell sein wird und jede Kommunika­tion zwischen Jean und mir betreffs des Tisches, den wir gerade anheben, eine Kom­munikation innerhalb des Subjekts, eine, wie wir eben sagten, intrasubjektive Kommunika­tion bleibt.

Hier scheint mir der fundamentale Bruch zwi­schen der dialektischen Soziologie und der Psychoanalyse zu liegen. Freud, der den Bereich der unbewußten Triebe und der zu ihrer Be­friedigung bestimmten Verhaltensweisen ent­deckte, hat natürlich ebensogut den Bereich der durch die Gesellschaft geschaffenen oder doch assimilierten Triebe gesehen, deren Be­friedigung wesensmäßig an das Bewußtsein gebunden ist; d.h. er sah im Grunde den Be­reich der direkt oder indirekt auf Natur­beherrschung und Kulturschöpfung gerichteten Verhaltensweisen. Leider aber hat er nicht den Wandel in der Natur des Subjekts bemerkt, der sich beim Übergang von den einen zu den anderen Trieben vollzieht, und darum hat er diese immer auf ein individuelles Subjekt be­zogen. Es ist höchst charakteristisch, daß er sie mit dem umfassenden Ausdruck Ich-Triebe bezeichnet hat, während doch das Entstehen des Menschen, der Zivilisation und das damit verbundene Auftreten des Bewußtseins und der Arbeitsteilung sich gerade dadurch aus­zeichnen, daß sie die Entwicklung eines Lebens­und Verhaltenssektors mit überindiuidueJIem und unendlich ausdehnbarem Subjekt ermög­licht haben — einem Subjekt, das, wie erinnert sei, nicht nur auf die natürliche Welt, sondern auch auf andere Menschen und andere Grup­pen von Menschen einwirkt, die sodann das Objekt seines Denkens und Handelns bilden. Der wirkliche Widerstreit besteht nicht, wie Freud dachte, zwischen den Trieben des Es (als eines individuellen Subjekts mit dem Vorherrschen des Unbewußten und Biologi­sehen) und den Trieben des Ich [als eines gleichfalls individuellen Subjekts, aber mit dem Vorherrschen des Bewußtseins und der Sozialisierung). Er wird ausgetragen zwischen den Trieben des Es und denen, die das Bewußt­sein eines Wesens strukturieren, welches zwar biologisch ein Individuum bleibt, aber, als be­wußtes und sozialisiertes Wesen, nurmehr ein partielles Element eines transzendierenden Subjekts darstellt. [... ]

Zusammenfassend läßt sich sagen: Der Sinn, den die Psychoanalyse in auf den ersten Blick absurd scheinenden menschlichen Verhaltens­weisen (Fehlleistungen, Träumen, Neurosen) ermittelt, und die objektiven Bedeutungen, die die soziologische Analyse hinter den schein­baren Bedeutungen oder der scheinbaren Be­deutungslosigkeit sozialer, historischer und kultureller Tatsachen entdeckt, beziehen sich nicht auf dieselben Subjekte. Im ersten Falle handelt es sich um ein individuelles Subjekt, das sich mit dem biologischen Subjekt deckt, im zweiten um ein überindividuelles oder, wenn man will, pluralisches Subjekt. Um jedes Mißverständnis zu vermeiden, sei hinzugefügt, daß das pluralische Subjekt, wel­ches das theoretische Denken und die Welt­anschauungen ausbildet, unter gewissen Be­dingungen auch eine individuelle Anschauung ausbilden kann; diese ist dann um nichts we­niger kollektiv als alle anderen Denkformen. Der auf seiner Insel isolierte Robinson ist keine weniger kollektive Schöpfung als die Anschauungen und Denkformen, die dem Indi­viduum jede Realität abstreiten. Natürlich ist jene Form intrasubjektiver Ge­meinschaft, wie ich sie der Vereinfachung halber beschrieb, die Beziehung zwischen zwei Personen, die einen Tisch anheben wollen, idyllisch und von der effektiven sozialen Wirklichkeit sehr weit entfernt. Doch genügte sie zur Veranschaulichung des Problems, denn ich kann nicht bei den mannigfaltigen For­men sozialer Pathologie verweilen, die in erster Linie von Marx und den marxistischen Denkern, aber auch von vielen anderen Sozio­logen und Historikern, namentlich von Adorno und der Frankfurter Schule analysiert worden sind. Man wird in konkreten Untersuchungen die verschiedenen sozialpathologischen Formen analysieren müssen, und zwar bei den zeit­genössischen westlichen Gesellschaften nament­lich die Verdinglichung, die Verdrängung des Qualitativen und Menschlichen durch das Quantitative, die Pathologien der bürokratisch-technokratischen Organisation. Aber welches auch immer die sozialpathologischen Formen sein mögen, sie sind von den pathologischen Formen der Libido grundverschieden; denn die einen sind Pathologien des überindividuellen

Subjekts der arbeitsteiligen Kooperation, die anderen solche des Individuums. [... ] Wie verhalten sich Interpretieren (Verstehen) und Erklären zueinander? Ich glaube, daß ich Ihnen eine Antwort vorschlagen kann. Es han­delt sich hier in der Tat um eine wichtige Frage, die, so scheint mir, meist auf höchst fragwürdige Weise behandelt worden ist. Hat man doch künstlich das Erklären, als ins Res­sort der kausalen, physikalisch-chemischen Wissenschaften fallend, dem Interpretieren entgegengesetzt, das Sache der Geisteswissen­schaften sei und in den Bereich der Anteil­nahme, des Dialogs, ja zuweilen der Affektivi-tät gehöre.

Für ein dialektisches Denken stellt sich das Problem anders dar. Verstehen ist ein intellek­tueller Prozeß(3): die Beschreibung dessen, was an einer signifikativen Struktur wesentlich und spezifisch ist. Das Signifikative eines Kunst­werks, eines philosophischen Werks oder eines gesellschaftlichen Prozesses, den immanenten Sinn ihrer Strukturierung beleuchten, heißt, diese Schöpfungen verstehen, indem man zeigt, daß sie Strukturen mit eigener Kohärenz sind. Erklären heißt, diesen Strukturen als Elemen­ten in größeren, umgreifenden Strukturen einen Platz anzuweisen. Die Erklärung bezieht sich immer auf eine Struktur, roelche die unter­suchte Struktur einbezieht und über sie hinaus­reicht.

Wenn ich die innere Kohärenz von Pascals «Pensees» untersuche, so verstehe ich sie mit­tels einer streng intellektuellen Tätigkeit. Wenn ich aber denselben «Pensees» einen Platz innerhalb des extremen Jansenismus oder des Jansenismus überhaupt anweise, so oerstehe ich den Jansenismus und erkläre die Ent­stehung der «Pensees». Ebenso: wenn ich die Stelle ermittle, die die Struktur des Janse­nismus in der Gesamtheit der Klassenbezie­hungen im Frankreich des 17. Jahrhunderts oder im Amtsadel jener Zeit einnimmt, so »erstehe ich die Entwicklung des Amtsadels, und ich erkläre die Entstehung des Jansenis­mus und so fort [... ]

Über diesen Punkt hatte ich kürzlich in Mon­treal eine Diskussion, die ich hier erwähnen möchte, weil sie ein Mißverständnis deutlich machte, das es zu vermeiden gilt. Nach einem Referat über soziologische Ästhetik, in dem ich das Beispiel der französischen Tragödie des 17. Jahrhunderts herangezogen hatte, haben einige meiner Zuhörer — übrigens Literatur-historiker von Beruf — einen unerwarteten Einwand erhoben: «All das ist schön und gut, und wir geben es gerne zu, aber können ihre soziologischen Kategorien das Ästhetische er­fassen, oder müßte man sie dazu nicht durch spezifisch literarische Kategorien ergänzen?» Nun, ich habe nie daran gedacht, soziologische Kategorien zum Verstehen des Werks zu ver­wenden. Das Ästhetische des Werkes hängt in erster Linie ab von seinem Reichtum, seiner signifikativen Kohärenz und der Kohärenz zwischen seiner Welt und der Form im engeren Sinne. Nur: um diese innere Bedeutung und Kohärenz zu erhellen, muß ich mich erklärender Methoden bedienen, die seine Einbeziehung in eine größere, d. h. gesellschaftliche Struktur implizieren. Aber indem ich dies tue, will ich keineswegs und in keinem Falle soziologische Elemente innerhalb des Werkes finden. Dieses ist nichts anderes als ein Text, der eine kohä­rente Struktur hat oder nicht hat. Ich erinnere noch einmal an das, was ich gestern sagte: wenn es Sich darum handelt, die «Orestie» zu interpretieren, so kann man sicherlich zu er­klärenden Methoden greifen und das Werk in eine umgreifende Struktur einbeziehen, in die Psyche des Äschylos zum Beispiel oder in die athenische Gesellschaft. Aber man hat nicht das Recht, auch nur eine Zeile oder ein Wort dem hinzuzufügen, was geschrieben steht. Die «Orestie» kann also eventuell mit Äschylos' Unbewußtem oder mit den athenischen Sozial­strukturen erklärt werden, aber man kann ihm nicht ein eigentliches Unbewußtes unterstellen, solange man nicht im Text einen Satz gefun­den hat, der die Existenz dieses Unbewußten bestätigt, und ebensowenig kann man in den Text soziologische Kategorien einschmuggeln. Kurz, in den Fällen, in denen die Libido-Be-deutung vorherrscht, muß der Forscher zum Erklären greifen, um interpretieren zu können. Im Falle der Kulturschöpfung sind Interpre­tieren und Erklären komplementäre Vorgänge. Sie fördern sich gegenseitig im Verlaufe der Untersuchung, sind aber nichtsdestoweniger verschiedene Vorgänge. Das Individuelle kann in das Kunstwerk, ohne es zu schwächen oder zu zerstören, nur in dem Maße eingehen, wie es sich in die kollektive Bedeutung eingliedert. Daraus ergibt sich, daß der Psychoanalytiker, wenn er in dem Werk, das er betrachtet, indi­viduelle Bedeutung sucht, sicherlich welche finden wird — manchmal sogar sehr viele, doch immer nur, indem er es zerstückelt und seine Gesamtstruktur und seine wesentliche Proble­matik beiseite läßt.

Ob es sich um den «Moses» von Michelangelo handelt oder um das Lächeln der Anna und Marie in «Heilige Anna Selbdritt», wesentlich ist nicht zu wissen, was in Leonardos Leben, in seinen Beziehungen zum Papst oder zu seinem Vater ihn dazu bringen konnte, sie so zu malen - denn analoge Libido-Beziehungen können in einem anderen historischen Augen­blick und in einer anderen Gesellschaft existiert haben -, sondern was bewirkt hat, daß dieser Ausdruck individueller Triebe sich m eine Struktur und in ein Kunstwerk eingliedern konnte, das im Gemalten selbst einen höchsten Grad signifikativer Kohärenz erreicht hat. Beziehungen zwischen einem Bruder und einer Schwester, ähnlich denen zwischen Pascal und Jacqueline, gibt es vielleicht tausendfach. Aber in einem gewissen Augenblick und in einem gewissen Kontext hat sich diese Beziehung als besondern geeignet erwiesen, um auf einem Niveau äußerster Kohärenz, dem des philo­sophischen Systems, eine ganze Weltanschauung auszudrücken, die sich in Port-Royal, in Saint-Cyran und darüber hinaus innerhalb einer besonderen sozialen Gruppe, bei den Spitzen des Amtsadels in Frankreich ausgebildet hat. Dies bringt uns auf ein besonders wichtiges Problem: dasjenige der Natur des ästhetischen Genusses. Ist doch in diesem ästhetischen Genüsse ganz offensichtlich ein Element von Lust enthalten. Vorhin fragte mich jemand: «Was halten Sie von dem Vergnügen, das man angesichts eines Kunstwerkes empfindet? Es ist doch von derselben Art wie das der Libido, von der Freud spricht!»

Ja und nein, wie jedesmal, wenn es sich um die Beziehung zwischen Psychoanalyse und Dialek­tik handelt. Ja insofern, als eine enge Ver­wandtschaft besteht zwischen der sozialen Funktion des Kunstwerks und der individuellen Funktion des Imaginären, des Traums und des Wahns, wie Freud sie beschrieben hat. Beide Phänomene entstehen aus der mangelnden Über­einstimmung zwischen den Ansprüchen des Subjekts und der Realität. Um die Frustrationen zu ertragen, die ihm die Realität auferlegt, muß der Mensch sie durch eine imaginäre Schöpfung kompensieren, die übrigens im Falle einer normalen, nicht-pathologischen psychischen Struktur seine Eingliederung in die Umwelt begünstigt. Nein insofern, als im individuellen Bereich diese Frustrationen fast immer ein Objekt (meist einen als Objekt fungierenden Menschen) betreffen, dessen Besitz dem in­dividuellen Subjekt versagt blieb. Im Bereich des überindividuellen Subjekts hingegen richtet sich das Verlangen nicht, oder doch nicht in erster Linie, auf ein Objekt, sondern auf eine signifikative Kohärenz, und die Frustration wird dadurch gestiftet, daß die Realität jedem von uns einen gewissen Grad von Inkohärenz und Kompromittierung aufzwingt. Diese Inkohärenz und Kompromittierung resul­tiert nicht nur aus der Beziehung zwischen dem kollektiven Subjekt und der Umwelt, sondern auch aus der Struktur dieses Subjekts selbst, das aus Individuen zusammengesetzt ist, die einer Vielzahl verschiedener sozialer Gruppen angehören und in deren Bewußtsein (Freud hat es uns hinlänglich gezeigt) noch Libido-Momente auftreten. Die Individuen stellen somit Mischun­gen dar, und das überindividuelle Subjekt bil­det eine Gruppe, die zu kohärenter Bedeutung tendiert, ohne sie je wirklich zu erreichen. Daher scheint uns die wichtigste Funktion der literarischen und künstlerischen Schöpfung darin zu liegen, daß sie auf imaginärer Ebene jene Kohärenz herstellt, die den Menschen im wirk­lichen Leben versagt bleibt, genauso wie im individuellen Bereich die Träume, die Wahn­vorstellungen und das Imaginäre dem In­dividuum das Objekt oder einen Ersatz für das Objekt verschaffen, das es in Wirklichkeit nicht besitzen konnte.

Es besteht jedoch ein großer Unterschied zwischen der - übrigens nicht immer auf den expliziten Sinn reduzierbaren - Kohärenz einer bewußten Struktur, die auf ein kollektives Sub­jekt bezogen ist, und der latenten Kohärenz einer auf das individuelle Subjekt bezogenen Libido-Struktur.

Wie schon gesagt, hat die imaginäre Schöpfung in beiden Fällen die Funktion, eine Frustration
zu kompensieren, nur handelt es sich im Falle des individuellen Subjekts und der von Freud
untersuchten Libido-Frustrationen darum, die Zensur des Bewußtseins zu umgehen und in
dieses Elemente einzuschmuggeln, die es sich weigerte zuzulassen und die es verdrängt hatte. Im Falle der Kulturschöpfung hingegen stiftet das Kohärenzverlangen eine explizite oder implizite Bewußtseinstendenz, die keineswegs ver drängt wird. Der Schaffensvorgang bestärkt
hier das Bewußtsein in seinen immanenten Tendenzen, während die Libido meist versucht, es
zu umgehen und fremde, seiner Natur entgegengesetzte Elemente in es einzuschleusen. [... ]

Abschließend möchte ich dem ausgezeichneten Referat von Roger Bastide, das wir heute vor-
mittag gehört haben, eine Bemerkung hinzufügen. Ich bin nämlich nicht sicher, daß die Er-
setzung des Quantitativen durch das Qualitative auf eine Rückkehr zu archaischen Werten
hinausläuft; ich bin nicht sicher, daß es sich hier nur um Archaismus und nicht vielmehr auch um sein Gegenteil, um Zukunft und Erneuerung handelt. Da die menschlichen Bedürfnisse naturgemäß an den qualitativen Aspekt der Gegenstände gebunden sind, ist es möglich, daß das Wiedererschijinen der qualitativen Beziehungen zu Dingen und Menschen im menschlichen Bewußtsein — unter formalem Gesichtspunkt — eine Rückkehr zu archaischen Werten, zugleich aber auch eine wirkliche und wesentliche Ausrichtung auf Möglichkeiten menschlicher Zukunftsentwicklung darstellt.

Anmerkungen

1) Dieser Grundsatz ist auch auf biologisches Verhalten anwendbar, denn im menschlichen Bereich wird das Biologische selbst signifikant auf der symbolischen Ebene, wenigstens wird es, wie Sartre sagt, «Selbst-Bewußtsein» (conscience de soi) und kann in der Folge reflexives Bewußtsein werden.

2) Dies erklärt unter anderem seine tief eingewurzelte Feindschaft gegenüber der Religion (bei aufklärerischen Philosophen ein häufig anzutreffender Zug) und den gedanklichen Kurzschluß, durch den er die Religion auf Selbsttäuschung und Ideologie reduzierte.

3) Das heißt nicht: ein rein theoretisches Verhalten, denn jedes theoretische Verhalten ist zugleich theoretisch­praktisch.

Editorischer Hinweis

Der Text wurde entnommen aus: alternative, Zeitschrift für Literatur und Diskussion, Berlin, Oktober 1966, S. 8-13. Die Übersetzung besorgte Gerhard Göbel. Der Text wurde als Vortrag auf dem Kolloquiuum " Literatur und Gesellschaft"  am 10.-12. Dezember 1965 an der Freien Universität Brüssel gehalten. Infos zum Autor siehe bei Wikipedia unter Strukturalismus.