Für eine »Neue Klassenpolitik«

von Sebastian Friedrich

7/2017

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Über die Notwendigkeit, die soziale Frage zu stellen, wird in der Linken gestritten. Doch was bedeutet eine Klassenpolitik »auf Höhe der Zeit«? »Neue Klassenpolitik« reflektiert zwei zentrale Einsichten: Rassismus, Geschlechterverhältnisse und Imperialismus haben wesentlichen Einfluss auf die Klassenverhältnisse - und Klasse entsteht im Kampf.

Ob Donald Trump in den USA, Hans-Christian Strache in Österreich, Marine Le Pen in Frankreich oder Alexander Gauland in Deutschland: Die Rechten präsentieren sich zunehmend als Kümmerer, stellen die soziale Frage - und beantworten sie nationalistisch und rassistisch. Sie machen aus einem Konflikt zwischen Klassen mit unterschiedlichen Interessen einen zwischen innen und außen. Die Rechten verbinden ihre im Kern kapitalfreundliche Wirtschafts- und Sozialpolitik mit symbolischen Zugeständnissen in Richtung der unter Druck geratenen - einheimischen - Arbeiter*innen. Als Gegenstück zu den Erzkonservativen, Rechten und Fundamentalist*innen erscheinen Wirtschaftsliberale, modernisierte Konservative, Sozialdemokrat*innen und linksliberale Kosmopolit*innen. Diese Polarisierung verläuft entlang kultureller bzw. gesellschaftspolitischer Konfliktlinien. Sozialistische Gesellschaftskonzepte stehen gegenwärtig nicht zur Debatte. Kaum jemand kann sich vorstellen, dass die Organisation von Arbeit und die Verteilung von Gütern auch anders gestaltet werden könnte.

Verlust der Klassenperspektive

Dass linke Alternativen zum Kapitalismus keinen Eingang in das Bewusstsein vieler Menschen finden und im Alltag kein Platz ist für umfassende Solidarität, hängt nicht zuletzt mit der zuletzt vielfach gestellten Diagnose zusammen: Die europäische und nordamerikanische Linke hat in den vergangenen Jahrzehnten der Klassenpolitik den Rücken gekehrt. Viele ältere Linke verabschiedeten sich generell von linker Politik, die jüngere linke Generation hat kaum Klassenpolitik gemacht. Zwar gibt es in Deutschland mit der Partei Die Linke eine parlamentarische Kraft, deren Markenkern eine linke Sozialpolitik ist, aber auch hierzulande fehlt es weitgehend an einer klassenpolitischen Praxis. Begriffe wie Klassenkampf, Ausbeutung oder Klasse sind selbst innerhalb linker Kreise in Vergessenheit oder gar in Verruf geraten, das bloße Aussprechen dieser Wörter hat häufig verächtliches Augenrollen zur Folge. Sicher spielt die soziale Zusammensetzung der Linken in Deutschland hier eine Rolle: Gerade seit den 1970er Jahren rekrutieren Linke ihren Nachwuchs vermehrt aus der Mittelklasse. Arbeiterkinder berichten immer wieder, wie fehl am Platze sie sich in linken Zusammenhängen fühlen. Daneben gibt es weitere Gründe, die es seit den 1970er Jahren auch für Linke schwer machen, die Klassenperspektive einzunehmen. Der Übergang von der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft hat die Vereinzelung der Lohnabhängigen begünstigt. Sie sind in geringerem Ausmaß politisch organisiert, sie treten viel seltener kollektiv auf, um ihr gemeinsames Interesse zum Ausdruck zu bringen. Das liegt nur zum Teil an der veränderten Arbeitswelt. In den USA, in Großbritannien und etwas schleichender in Deutschland haben rechte wie linke Regierungen die Gewerkschaften systematisch geschwächt. Hinzu kommt eine Individualisierungsideologie, die alles Kollektive als Zwang denunziert, Lebensglück als Privatangelegenheit definiert und Einsamkeit produziert hat. Manche mögen das Klischee im Kopf haben, Arbeiter*innen seien auch heute ausschließlich weiße Männer, die schwere körperliche Tätigkeiten verrichten, den ganzen Tag mit Schiebermütze und im Blaumann unterwegs sind. Da man im Verlauf der vergangenen Jahrzehnte immer weniger muskulöse, rußverschmierte Arbeiter auf der Straße sah, verbreitete sich das Gerücht, die Arbeiterklasse sei irgendwie verschwunden. Obdachlose, Reinigungskräfte, Krankenpfleger*innen und Paketzusteller*innen waren freilich immer mehr zu sehen, doch passten nicht ins Bild.

Kein Zurück zur »alten« Klassenpolitik

Sicher ist es falsch, der gesamten Linken in Deutschland eine Abkehr von der Klassenfrage zu unterstellen. Allerdings hat insbesondere die »Kulturlinke« die Klassenfrage lange zugunsten ihres notwendigen, aber meist isolierten Kampfes gegen Rassismus, Sexismus und Nationalismus vernachlässigt. Letztlich ist ein Teil der Linken ein gewolltes oder ungewolltes Bündnis mit dem »weltoffenen Neoliberalismus« eingegangen - auch und gerade im Sinne des eigenen sozialen Aufstiegs. Die gesellschaftlichen Strukturen gerieten aus dem Blick, im Fokus steht seitdem das Individuum. Der französische Soziologe Didier Eribon bringt dies in seinem Buch »Rückkehr nach Reims« auf den Punkt: »Die sozialistische Linke unterzog sich einer radikalen, von Jahr zu Jahr deutlicher werdenden Verwandlung und ließ sich mit fragwürdiger Begeisterung auf neokonservative Intellektuelle ein, die sich unter dem Vorwand der geistigen Erneuerung daranmachten, den Wesenskern der Linken zu entleeren. Es kam zu einer regelrechten Metamorphose des Ethos und der intellektuellen Koordinaten. Nicht mehr von Ausbeutung und Widerstand war die Rede, sondern von notwendigen Reformen und einer Umgestaltung der Gesellschaft. Nicht mehr von Klassenverhältnissen oder sozialem Schicksal, sondern von Zusammenleben und Eigenverantwortung.« Linke Politik sollte beide Dimensionen aufnehmen: den Kampf um Freiheit auf gesellschaftspolitischer Ebene und den um Gleichheit auf sozialer und ökonomischer Ebene - oder wie es die US-amerikanische Feministin Nancy Fraser in Bezug auf die USA fordert: sich der falschen Alternative von progressivem Neoliberalismus und reaktionärem Populismus zu verweigern. Sie schreibt: »Dazu müssen wir die Leiden von Frauen und Schwarzen Menschen mit jenem Leid in Beziehung bringen, das so viele Trump-Wähler quält. Auf diese Weise könnte eine revitalisierte Linke das Fundament für eine machtvolle neue Koalition legen, die sich vornimmt, Gerechtigkeit für alle zu erkämpfen.« Die Klassenperspektive einzunehmen, heißt gewiss nicht, zur traditionellen Klassenpolitik zurückzukehren. Die klassische Arbeiterbewegung fokussierte auf das Industrieproletariat, deren höhere Schichten aufgrund der historisch spezifischen ökonomischen und politischen Situation in den westlichen Industriestaaten im Fordismus im Vergleich zu anderen Teilen der Arbeiterklasse eine privilegierte Rolle genossen. Insofern hat eine Neue Klassenpolitik nicht die Retro-Klassengesellschaft des westdeutschen Rheinischen Kapitalismus als Ziel vor Augen. Weitere Überlegungen zu einer Neuen Klassenpolitik müssen zwei zentrale Einsichten reflektieren, die in den vergangenen Jahrzehnten von unzähligen Autor*innen bereits betont wurden: Die eine betrifft die strukturellen Spaltungen der Klassen, die zweite die Entstehung und Entwicklung des Klassenkampfes.

Feministisch, antirassistisch - und internationalistisch

Erstens stellt eine Neue Klassenpolitik Geschlechterverhältnisse, Rassismus und globale Ungleichheit nicht hinter die Klassenverhältnisse. Im Gegenteil: Kämpfe des Feminismus, des Antirassismus und des linken Antiimperialismus sind ihr Ausgangspunkt. Frauen bilden mit ihrer spezifischen Position in der Gesellschaft keine eigene Klasse: Zu unterschiedlich sind die Klassenpositionen. Aber: Frauen besitzen nicht automatisch die Klassenposition der Männer. Es sind zum Beispiel vor allem Frauen, deren Arbeitskraft in der Hausarbeit sich die Kapitalseite unentlohnt aneignet - so etwa im männlichen Ernährermodell des Fordismus: Um den Mehrwert zu erhöhen, wurde die Reproduktion der Ware Arbeitskraft ins Private ausgelagert. Für Essen kochen, Kinder erziehen, Kopf des von der Arbeit erschöpften Mannes streicheln und vieles mehr waren (und sind) in erster Linie Frauen zuständig. Was da hinter den Türen der Privatwohnungen geschieht, war im Fordismus Voraussetzung für die Lohnarbeit am Arbeitsplatz und Teil des verlängerten Fließbandes der Mehrwertproduktion. Das ist auch heute noch gültig, obwohl die vom Kapitalismus geschaffene Figur der Hausfrau an Bedeutung verloren hat und Reproduktionstätigkeiten zunehmend kommodifiziert werden. So expandiert seit Jahren der Arbeitsmarkt für gering bezahlte Arbeitskräfte in der häuslichen 24-Stunden-Pflege. In diesem Bereich sind in Deutschland vor allem Arbeitsmigrantinnen aus Mittel- und Osteuropa tätig. Frauen sind es, die überproportional in schlechter entlohnten und geringer angesehenen »Frauenberufen« beschäftigt sind - diese umfassen vor allem Tätigkeiten im Care-Bereich. Und auch bei gleicher Qualifikation wie die männlichen Kollegen werden Frauen im Schnitt geringer entlohnt. In kapitalistischen Gesellschaften sind Migrant*innen in prekären Jobs häufiger vertreten. Sie werden im Schnitt schlechter entlohnt. Wie durch gezielte, von der Kapitalseite forcierte, Migration eine Klassenfraktion entstehen kann, zeigt das Beispiel der »Gastarbeiter« im Nachkriegswestdeutschland. Sie waren insgesamt politisch und gesellschaftlich ausgegrenzt sowie im Beruf ökonomisch schlechter gestellt und unsicherer beschäftigt als ihre deutschen Kolleg*innen. Es bildete sich eine Unterklasse heraus, die im Wesentlichen die Funktion einer Reservearmee einnahm, die je nach konjunktureller Schwankung eingesetzt werden konnte. Diese »Unterschichtung« der Arbeiterklasse in den 1960er und 1970er Jahren wirkt bis heute auf die Klassenzusammensetzung nach. Weil in Deutschland die soziale Herkunft maßgeblich für die soziale Stellung ist, finden sich die Nachfahren der »Gastarbeiter«-Generation weitaus häufiger in Arbeitslosigkeit oder schlechter bezahlten Berufen wieder. Manche, die Teil der Mittelklassen geworden sind, beuten jetzt neue Arbeitsmigrant*innen aus. Auch aktuell nutzt die Kapitalseite Migration, um die Konkurrenz zwischen den Lohnabhängigen zu verschärfen, um so die Ausbeutung intensivieren zu können. Wirtschaftsverbände schlagen die Aussetzung des Mindestlohnes für Geflüchtete vor, und Unternehmen stellen Migrant*innen aus anderen EU-Staaten über Leiharbeit oder das Dienstleistungsentsendegesetz juristisch legal zu extrem niedrigen Löhnen an. Während der Einfluss von Geschlechterverhältnissen und Rassismus in den Diskussionen um eine Neue Klassenpolitik noch relativ häufig Gegenstand von Analysen und Auseinandersetzungen ist, fällt hingegen die weltweite Arbeitsteilung meist unter den Tisch. Auch in Bezug auf die Klassenposition gilt: Wir leben in einer geteilten Welt. In einigen Staaten des globalen Südens werden die Produkte hergestellt, die hierzulande konsumiert werden. Produktion und Konsumtion fallen in der globalisierten Welt so weit auseinander wie nie zuvor. In Ländern in Südostasien, aber auch zum Teil in Osteuropa kann unter schlechteren Arbeitsbedingungen produziert werden. Durch die niedrigeren Produktionskosten und die Verlagerung der Konsumtion in den anderen Teil der Erde entsteht so etwas wie ein verborgener Wert. So schuften in der Textilproduktion in Bangladesch vor allem Arbeiterinnen und Minderjährige bis zu 16 Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, meist für umgerechnet nicht mehr als 35 Euro im Monat. Die Waren, die dann beispielsweise in Deutschland verkauft werden, verschaffen der Kapitalseite eine höhere Profitrate. Doch auch die hiesigen Konsument*innen profitieren von den billigeren Preisen. Sexismus, Rassismus und Nationalismus sind also mehr als nur Ideologien zur Spaltung der Klasse. Die Arbeiterklasse ist vielmehr strukturell gespalten durch geschlechtliche, ethnische und globale Widersprüche. Zwar haben Lohnabhängige weltweit abstrakt ein gleiches Interesse: die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen. Doch je konkreter die Kämpfe darum, desto wirkmächtiger werden die genannten Klassenfragmentierungen. Der Schlüssel für eine Klassenpolitik auf der Höhe der Zeit liegt darin, die strukturell unterschiedlichen Positionen und Widersprüche innerhalb der Arbeiterklasse nicht zu verwischen, sondern sie zum Ausgangspunkt für die Analyse und die Praxis zu machen.

Klassenpolitik der Praxis

Eine zweite Einsicht einer Neuen Klassenpolitik ist: Klasse entsteht nicht am Reißbrett, auf Grundlage mathematischer Berechnungen, und wird nicht ausschließlich durch neue Produktivkräfte und veränderte Produktionsverhältnisse hervorgebracht. Klasse besitzt nicht nur eine objektive Dimension, sondern auch eine subjektive. Sie basiert nicht nur auf einer ähnlichen Klassenposition, sondern auf gemeinsamen Erfahrungen und gemeinsamem Handeln. Lohnarbeiter*in sein alleine ist noch kein Programm. Der britische Historiker Edward P. Thompson betonte 1963 in seiner Arbeit zur Entstehung der englischen Arbeiterklasse, dass sich die Klasse durch den Kampf zusammensetzt. Die Produktionsverhältnisse bestimmen weitgehend die Klassenerfahrung, doch daraus resultiert kein automatisches Handeln. Vielmehr entsteht Klasse, »wenn Menschen aufgrund gemeinsamer Erfahrungen ... die Identität ihrer Interessen empfinden und artikulieren, und zwar sowohl untereinander als auch gegenüber anderen, deren Interessen von ihren eigenen verschieden (und diesen gewöhnlich entgegengesetzt) sind«, so Thompson. Das Ziel einer Neuen Klassenpolitik besteht darin, Erfahrungen zu bündeln, und aufzuzeigen, dass trotz geschlechtlicher, ethnischer oder nationalstaatlicher Grenzziehungen überschneidende Interessen bestehen, gemeinsame Kämpfe möglich sind und erfolgreich sein können.

Quelle: Spiegelung von "Kontakt" - Debattenblog der iL & Friends

Sebastian Friedrich ist Redakteur bei ak - analyse & kritik