Der Hamburger G20-Gipfel und die Riots

PRESSESCHAU

7/2017

trend
onlinezeitung

G20 Protest: Was sie nicht erzählen
Acht Thesen von marx21 zu den G20-Protesten in Hamburg

13.7.2017

1. Angela Merkel hat den G20-Gipfel nach Hamburg geholt, um Deutschlands globalen Führungsanspruch zu untermauern. Doch die Ergebnisse werden das Leben der Menschen auf diesem Planeten nicht verbessern – die G20-Gipfel müssen ersatzlos abgeschafft werden.

Der G20-Gipfel hat mindestens 180 Millionen Euro gekostet und die Hansestadt Hamburg in einen mehrtägigen Ausnahmezustand versetzt. Waren es die Ergebnisse wert? Die Antwort lautet: Nein. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer des G20-Gipfels konnten sich erst nach stundenlangen Verhandlungen einstimmig auf eine Abschlusserklärung einigen. Die Erklärung ist vage – weil die zunehmende wirtschaftliche und militärische Konkurrenz der Staaten kaum noch eine gemeinsame Grundlinie der größten kapitalistischen Nationen zulässt.

Die amerikanische Regierung hat ihre Ablehnung des Pariser Klimaabkommens bekräftigt und wurde dabei von der Türkei unterstützt. Damit ist selbst das völlig unzureichende Pariser Klimaschutzabkommen Makulatur. Trump und Putin haben über einen Waffenstillstand in Syrien gesprochen, real führen sowohl Russland, als auch die USA ihre militärischen Operationen an der Seite ihrer jeweiligen Bündnispartner im Nahen und Mittleren Osten fort – unter großen Opfern der dortigen Bevölkerung. Über die Weltwirtschaftsordnung wurde auch gesprochen – aber nicht darüber, wie die obszöne und zunehmende Kluft zwischen arm und reich geschlossen werden kann, sondern über die »Erhaltung des freien Welthandels«. Herausgekommen ist nichts: Die USA behält sich weiterhin vor, Strafzölle zu erheben, die EU behält sich vor, mit ebensolchen zu antworten.

All das zeigt: Die G20-Gipfel sind ein großes Spektakel, bei dem sich die Herrschenden als »Retter der Welt« inszenieren wollen, die drängende Probleme der Welt lösen sie nicht. Im Gegenteil: Ihr System zerstört die Welt. Seit die G20-Gipfel im Jahr 2008 aus dem Kreis der G7-Staaten ins Leben gerufen wurden, hat sich die globale politische Lage weiter verschärft: Es gibt mehr Kriege, die soziale Spaltung erreicht weltweit dramatische Ausmaße, alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren, Millionen Menschen sind auf der Flucht und die aktuelle Klimapolitik kann die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen nicht aufhalten. Das hat einen Grund: Im Zentrum der Politik aller G20-Staaten steht ihr Interesse im Wettlauf um Rohstoffe, Absatzmärkte und Einflusssphären ihren Nationalökonomien und den mit ihnen verwobenen Konzernen, Vorteile zu verschaffen. Die G20 sind ein Zusammenschluss, um das Überleben einer Weltordnung abzusichern, die die Ursache für Flucht, Kriege, Ausbeutung und Umweltzerstörung ist. Zu recht meint Jean Ziegler, Soziologe und ehemals UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung: Dieser G20-Gipfel unterminiert die Demokratie. Er ist ein Herrschaftsinstrument, das zur Lösung internationaler Probleme überhaupt keinen positiven Beitrag leistet. G20 ersatzlos abschaffen.«

2. Auch wenn die Medien vor allem die Bilder von den Krawallen zeigen und die Politik sich hauptsächlich mit der Gewaltfrage beschäftigt, die G20-Proteste in Hamburg waren ein großer Erfolg: Zehntausende widersetzten sich dem Ausnahmezustand, verteidigten das Recht auf Versammlungsfreiheit und sendeten ein unüberhörbares Signal gegen die Politik der G20.

Hamburg war eine belagerte Stadt und glich einer Festung. Der Senat verhängte ein Demonstrationsverbot in der Innenstadt auf einer Fläche von 38 Quadratkilometern. Die Versammlungsfreiheit wurde ausgesetzt, um autoritäre Staatschefs wie Donald Trump, Recep Tayyip Erdogan oder Wladimir Putin zu beschützten. 20.000 Polizeikräfte, mehr als hundert Wasserwerfer und Räumungspanzer, Dutzende Helikopter waren in der Hansestadt zusammengezogen worden. Schwerbewaffnete Angehörige paramilitärischer Sondereinheiten beteiligten sich mit Schnellfeuergewehren an der Erstürmung eines Stadtviertels. Die Polizei erschien und agierte im Stile einer Besatzungsmacht: Tausende Einwohner und Protestierende wurden von der Außenwelt abgeschnitten, weil die Polizei ganze Stadtviertel einkesselte, Straßen sperrte und Bus- und Bahnverbindungen unterbrach. Das Komitee für Grundrechte und Demokratie war mit insgesamt 43 Beobachterinnen und Beobachtern vor Ort. In einem ersten Vorabbericht heißt es: »Wir haben beobachtet, in welchem Maße die Polizei in diesen Tagen die Macht über das Geschehen in der Stadt übernommen hat. (…) Nicht nur wurden die Grund- und Menschenrechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit durch die Allgemeinverfügung außer Kraft gesetzt. Die Polizei hat, gedeckt von der Hamburgischen Regierung und vermutlich auch im Sinne der Interessen der/des Innenminister/-senators und der Sicherheitsbehörden den Ausnahmezustand geprobt.«

Doch Hamburg zeigte sich von seiner rebellischen Seite. Aus Fenstern in der ganzen Stadt hingen Transparente, in den Schaufenstern kleiner Geschäfte waren Protestplakate gegen den Gipfel zu sehen. Überall in der Stadt öffneten Anwohnerinnen und Anwohner, Kirchengemeinden, Theater und Sportvereine ihre Türen für Protestierende, nachdem die Polizei sich über Gerichtsbeschlüsse hinweggesetzt und das Protestcamp gewaltsam geräumt hatte. Auch im Vorfeld und den gesamten Gipfel über gab es zahlreiche kreative Aktionen, Demonstrationen und bunte Proteste. Eine Welle des Widerstands schwappte durch die Hafenstadt. Der Alternativgipfel brachte 2500 Menschen zusammen, die über Alternativen zur ungerechten Weltordnung diskutierten. Am ersten Gipfeltag gelang es Tausenden zwischenzeitig in die verbotene rote Zone vorzudringen und Zufahrtsrouten zu den Messehallen zu blockieren, weshalb sich die Eröffnung des offiziellen Gipfels verzögerte. Ein Treffen von Wolfgang Schäuble wurde so verhindert und Melania Trump, die Gattin des US-Präsidenten, von der Teilnahme am Partnerprogramm des Gipfels abgehalten. Wenig später zog eine Bildungsdemonstration von tausenden Schülerinnen und Schülern durch die Innenstadt. Elbe, Plätze und Straßen im ganzen Stadtzentrum wurden zu ständig wechselnden Protestorten. Die gesamten Tage über war es ermutigend zu sehen, wie viele Menschen sich auch in einer angespannten Situation das Demonstrieren nicht verbieten ließen.

Ihren Höhepunkt erreichten die Proteste am Samstag mit der Großdemo »Grenzenlose Solidarität statt G20«. 80.000 Menschen zogen in einem nicht enden wollenden Demonstrationszug durch Hamburg und setzten ein starkes Zeichen gegen die G20, gegen die Polizeirepression, gegen die Arroganz des Hamburger Senats und der Bundesregierung sowie für das Recht auf Demonstrations- und Versammlungsfreiheit. Aufgerufen hatte ein Bündnis unter Beteiligung der LINKEN, kurdischen Organisationen, Attac, der Interventionistischen Linken, dem Bündnis »Ums Ganze«, St. Pauli-Fans und vielen anderen. Die zeitgleich stattfindende Demonstration des Bündnisses »Hamburg zeigt Haltung«, zu der unter anderem die Hamburger Fraktionen von SPD und Grünen aufgerufen hatten, blieb mit nur 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern hingegen deutlich unter den Erwartungen. Hamburg hat tatsächlich Haltung bewiesen, aber ganz anders, als sich das die Damen und Herren im Senat vorgestellt hatten. Leider gab es im Vorfeld der Proteste eine Spaltung des Bündnisses. Es wäre sicher einfacher gewesen, den Protest noch sichtbarer und noch größer zu machen, wenn es gelungen wäre, Gewerkschaften und NGOs mit an Bord für die Großdemonstration zu haben. Das unter diesen Bedingungen, die verbliebenen Organisationen es trotzdem schafften, einen Alternativgipfel, friedliche Blockaden und die Großdemonstration zu organisieren ist ein großer Erfolg: Zehntausende konnten sich so dem Ausnahmezustand widersetzten, das Recht auf Versammlungsfreiheit verteidigen und ein unüberhörbares Signal gegen die Politik der G20 senden.

3. Die Polizei war nicht das Opfer einer »nicht mehr beherrschbaren Situation«. Mit der Rückendeckung des rot-grün geführten Hamburger Senats setzte die Polizeiführung von Beginn auf Eskalation. Die politischen Verantwortlichen sind Bürgermeister Olaf Scholz, Innensenator Andy Grote und Polizeichef Hartmut Dudde. Sie müssen zurücktreten.

Für den Hamburger Senat und die Polizeiführung ist die Sache klar: Gewaltbereite Autonome und der »Schwarze Block« seien verantwortlich für die Eskalation der Proteste. Sie hätten bereits am Donnerstag Polizisten mit Flaschen, Stöcken, Eisenstangen und Holzlatten angegriffen, diese hätten sich lediglich verteidigt. Polizeisprecher Timo Zill erklärte gegenüber dem NDR: »Alle unsere Befürchtungen sind eingetreten. Es hat eine Demonstration mit 12.000 Teilnehmern gegeben. Sofort eine Vermummung, bevor der Aufzug sich in Bewegung setzen konnte, hoch aggressiv. Drum herum Tausende von Schaulustigen, man hat sich solidarisiert. Für die Einsatzkräfte eine nicht mehr beherrschbare Situation. Man hat noch versucht den schwarzen Block zu separieren und die friedlichen Demonstrationsteilnehmer laufen zu lassen.«

Die Polizei als Opfer einer nicht mehr beherrschbaren Situation? Journalisten und Augenzeugen widersprechen dieser Darstellung. Reporter von SPIEGEL, NDR, TAZ und auch andere Medien beobachteten vor Ort, wie massiv die Polizei von Beginn an auftrat. Bis dahin glich die »Welcome to Hell«-Kundegebung eher einem Straßenfest. Doch keine 50 Meter nach dem Start der Demo wurde der Protestzug brutal angegriffen. Unter dem Vorwand, der »Schwarze Block« habe gegen das Vermummungsverbot verstoßen, stürmte die Polizei in die Demonstration und setzte wiederholt Wasserwerfer, Tränengasgranaten und Pfefferspray ein und trieb die Teilnehmerinnen und Teilnehmer unter dem Einsatz von Knüppeln auseinander. Dabei waren die Vermummten in der Demo eine kleine Minderheit. Zudem waren die allermeisten von ihnen zuvor der Aufforderung der Polizei nach Abnahme der Vermummung nachgekommen und trugen lediglich noch Mützen und Sonnenbrillen.

Thomas Wüppesahl von der Bundesarbeitsgemeinschaft Kritischer Polizistinnen und Polizisten hält den Einsatz für völlig unverhältnismäßig: »Wegen ein paar Vermummter darf man nicht den gesamten Versammlungszug von 10.000 Menschen auflösen, wahllos Wasserwerfer und Pfefferspray einsetzen, auch gegen Unbeteiligte. Das ist außerhalb jeder Verhältnismäßigkeit. Die meisten Vermummten bei solchen Versammlungen sind doch die Polizeibeamten. Die können unter dem Schutz dieser Vermummung übergriffig werden.«

Der größte Hohn ist es, wenn sich die Polizei nun als Garant für die Versammlungsfreiheit präsentiert, da sie mit ihrem Vorgehen alles dafür getan hätte, das Recht auf friedliche Demonstration zu gewährleisten. Keine einzige und kein einziger der ganz überwiegend friedlichen Demonstrierenden in Hamburg wird das so wahrgenommen haben.

Was die Polizeiführung zudem verschweigt, ist, dass sie bereits bevor sich der Demonstrationszug ab 19:00 Uhr formierte, die Hafenstraße längst mit vier Wasserwerfern, zwei Räumpanzern und mehreren Hundertschaften gesperrt hatte ― und das an einem Abschnitt, an dem es keine Fluchtmöglichkeiten gibt. Tatsächlich hatte die Polizei wohl nie den Plan, die angemeldete Demo laufen zu lassen. Dabei war die Versammlung ohne Auflagen genehmigt und wochenlang in Kooperation mit der Polizei und der Versammlungsleitung vorbereitet worden. Nun wollte sie offenbar um jeden Preis verhindern, dass die Demonstration friedlich am Endkundgebungsort ankommt.

Vorausgegangen waren bereits zuvor Tage der Repression gegen die Gipfelproteste. Der vorläufige Höhepunkt war dabei die rechtswidrige Räumung des genehmigten Camps im Elbpark Entenwerder. Die Einsatzleitung ignorierte einfach die Entscheidung der Gerichte und setzte de facto den Rechtsstaat und die Gewaltenteilung außer Kraft ― so wie sie zuvor bereits, mit Rückendeckung des rot-grünen Senates, das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit auszuhebeln versuchte. Schon die Auswahl des Einsatzleiters, Hartmut Dudde, war eine Eskalation mit Ansage. Dudde wurde von dem Rechtspopulisten und ehemaligen Hamburger Innensenator Ronald Schill gefördert. Unter ihm prägte er die sogenannte Hamburger Linie. Zwei Elemente kennzeichnen diese Polizeistrategie: Zum einen werden Demonstrationen von vornherein von einem massiven Polizeiaufgebot begleitet und kleinste »Verfehlungen« dazu verwendet, den Einsatz von Schlagstöcken und Wasserwerfern zu rechtfertigen. Zum anderen schreckt Dudde nicht davor zurück, den Bruch des bürgerlichen Rechts zu forcieren.

Wer ausgerechnet ihm die Einsatzleitung überträgt, will an erster Stelle Proteste im Keim ersticken – egal, was das für Bürgerrechte und Demokratie bedeutet. Die politischen Verantwortlichen sind Bürgermeister Olaf Scholz und Innensenator Andy Grote. Sie müssen zurücktreten, genau wie Polizeichef Hartmut Dudde.

4. Die Berichterstattung der Medien über die G20-Proteste und die Analysen fast aller Politikerinnen und Politiker der etablierten Parteien zeichnen ein völlig verzerrtes Bild der Gewalt. Während die Krawalle breiten Raum einnehmen, wird von der willkürlichen Gewalt der Polizei gegen Demonstrierende in den Medien viel zu wenig berichtet.

Innenminister Thomas de Maizière hält die Krawalle rund um den G20-Gipfel am vergangenen Wochenende für »terroristische Taten«. CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach spricht gegenüber der Deutschen Presse-Agentur von »bürgerkriegsähnlichen Zuständen«. »Ich bin fassungslos, dass linksradikale Straftäter offenkundig keine Hemmung haben, sehenden Auges das Leben von Polizeibeamten zu gefährden«, wetterte der CSU-Innenexperte Stephan Mayer. Der Präsident der Bundespolizei, Dieter Romann, meint eine »neue Dimension linksterroristischer und autonomer Gewalt« entdeckt zu haben. Auch in den Medien überschlagen sich die Meldungen. Die Welt schreibt über Szenen, »die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen«. Bild titelte: »Keiner stoppt den linken Hass!« und das Hamburger Abendblatt meint: »Das Schanzenviertel liegt in Trümmern«.

Während die Presse spätestens seit Freitag Mittag regelrecht überquoll vor Bildern von Krawallen einer Minderheit vermummter Randalierer, war der friedfertige Protest, die Aktionen des zivilen Ungehorsam und die bunten Demonstrationen von Zehntausenden in vielen Medien nur eine Randnotiz. Spiegel-Online schaffte es am Samstag, nach tagelanger Live-Berichterstattung über jeden brennenden Mülleimer, bis 16:00 Uhr nicht mal eine Kurzmeldung über die Großdemonstration von Zehntausenden auf die Seite zu stellen. Und das, obwohl der riesige und bunte Protestzug sich schon vormittags in direkter Sichtweite vor dem Verlagsgebäude formierte.

Von den Krawallen und der Gewalt, die von einer Minderheit der Protestierenden ausging, zeichnen viele Medien und Politikerinnen und Politiker hingegen das reichlich übertriebene Bild eines bürgerkriegsähnlichen Zustands. Fakten? Meist Fehlanzeige. Unkritisch werden die Presseerklärungen der Polizei als Meldung übernommen. Beispiel: Die Krawalle im Schanzenviertel. In seinem lesenswerten Artikel »Die Nacht im Schanzenviertel (ohne Bild)« in der Schweizer WOZ schreibt der Reporter Kaspar Surber: »Was vor Ort klein wirkt und lokal, wird auf den Tickern der Newsportale bereits zum weltbewegenden Krawall. «Im Schanzenviertel brennen ganze Strassenzüge», heisst es auf meinem Handy. «Es ist wie im Krieg», schreibt «Spiegel Online». Es brennt im Schanzenviertel, aber nicht das ganze Viertel brennt. Es sind einzelne Barrikaden, die hier brennen. Sie sind in einem Abstand von hundert Metern aufgerichtet in der Hauptstrasse, die Schulterblatt heisst und sich quer durchs ganze Viertel zieht. Aus der Nähe wirken sie wie grosse Lagerfeuer, manche lodern nur, andere schiessen in die Höhe. Vermummte werfen darauf, was gerade in der Nähe zu finden ist: Kartons, Äste, Velos. Wann immer ein Böller im Feuer explodiert, johlen einige der Umstehenden. Es bleibt sehr viel Zeit, die Feuer zu entfachen. Die Polizei, die in den letzten Tagen praktisch bei jeder Gelegenheit ihre Wasserwerfer einsetzte, hat sie auch jetzt wieder in Sichtweite positioniert. Doch sie setzt sie lange nicht ein. Es wirkt, als hätte auch sie ein Interesse daran, es erstmal ein bisschen brennen zu lassen.«

Ohne Zweifel ist das Anzünden von Autos oder die Zerstörung von kleinen Geschäften nicht nur dämlich, sondern auch kontraproduktiv. Sie schadet und diskreditiert den gemeinsamen Widerstand. Aber es ist keineswegs so, dass es im Schanzenviertel das erste Mal gekracht hätte und nun eine »neue Qualität der Gewalt« erreicht sei, wie es etwa die SPD behauptet. Und genauso viele Anwohnerinnen und Anwohner, die überrascht wurden vom Ausmaß der Krawalle, zeigten sich schockiert über die Taktik der Polizei, die halb Hamburg zur demonstrationsfreien Zone erklärte und bei jeder Gelegenheit ihre Wasserwerfer und knüppelnden Hundertschaften gegen friedliche Demonstranten und Blockierer einsetzte, dann aber stundenlang zusah, als es auf der Schanze brannte und Läden geplündert wurden.

Von der willkürlichen Gewalt der Polizei gegen Demonstrierende hört und liest man in den Medien hingegen viel zu wenig. Auf Facebook und Twitter melden sich jedoch immer mehr zu Wort, die von roher Gewalt, Pfefferspray-Attacken, Tritten, Schlägen ins Gesicht, Drohungen und Beschimpfungen berichten. Menschen wurden ohne Grund festgenommen und in der Gefangenensammelstelle schikaniert und drangsaliert. Ihnen wurde teilweise der Kontakt zu Anwälten, ein Telefonat oder der Toilettengang verwehrt. Verletzte berichten, dass ihnen selbst eine Erstversorgung ihrer Wunden verweigert wurde. Mittlerweile gibt es mehrere Internetseiten auf denen Opfer von Polizeigewalt ihre Verletzungen melden können.

Dass in den Medien überhaupt über die Polizeigewalt berichtet wurde, ist nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, dass auch zahlreiche Journalistinnen und Journalisten die Eskalation einer teils wildgewordenen Staatsmacht am eigenen Leib zu spüren bekamen. So twitterte Frank Schneider, Reporter bei »Bild«, die Polizisten würden an der Schanze »gezielt Journalisten« angreifen und erklären, »ab jetzt gibt’s keine Pressefreiheit mehr, hau ab oder ins Krankenhaus«. Zuvor hatte er vor Ort berichtet: »Bayerische Einsatzkräfte drehen am Rande der Schanzen-Räumung komplett durch, greifen Unbeteiligte und Reporter gezielt an«. Und er ist bei weitem nicht der einzige Journalist, der von Drohungen und Übergriffen durch die Polizei berichtet.

5. Die Ausschreitungen im Schanzenviertel gehen nicht allein auf das Konto von militanten Linken. Schaulustige, Krawalltouristen und Jugendliche aus dem Kiez mischten genauso mit, wie Hooligans und Rechte.

In seinem Augenzeugenbericht »Wut und Frust« für den Spiegel schreibt der Journalist Sven Becker über die Krawalle im Schanzenviertel: »Nach allem, was ich vor Ort gesehen habe, waren am Freitag unterschiedliche Gruppen für die Krawalle verantwortlich, die so heftig waren wie in keiner anderen Nacht. Da waren die Autonomen, klar. Randale haben aber auch andere junge Menschen aus dem Kiez gemacht. Sie wollten Spaß haben, Dampf ablassen. Als sich die Gelegenheit bot, wurden einige von ihnen zu Dieben. (…) Geplündert wurden viele Läden und Ketten mit verlockenden Konsumgütern. Der O2-Shop, ein Apple-Store, ein Geschäft für Designerklamotten. Rewe oder Budni, die auch aufgebrochen wurden, mögen nicht ganz in die Kategorie passen. Allerdings sollten man nicht vergessen, dass es auch dort Luxusprodukte gibt. Am Freitag huschten junge Leute an mir vorbei, die teure Whiskeyflaschen wegschafften. (…) Einige von ihnen kamen aus dem Ausland, aus Frankreich, Griechenland, Spanien oder Italien. Länder, in denen die militanten Linken seit Jahren ständig gegen die Sparprogramme und Arbeitsmarktreformen ihrer Regierungen demonstrieren.«

Ein Statement von Gewerbetreibenden aus dem Schanzeviertel geht in eine ähnliche Richtung. Dort heißt es: »Ja, wir haben direkt gesehen, wie Scheiben zerbarsten, Parkautomaten herausgerissen, Bankautomaten zerschlagen, Straßenschilder abgebrochen und das Pflaster aufgerissen wurde. Wir haben aber auch gesehen, wie viele Tage in Folge völlig unverhältnismäßig bei jeder Kleinigkeit der Wasserwerfer zum Einsatz kam. Wie Menschen von uniformierten und behelmten Beamten ohne Grund geschubst oder auch vom Fahrrad geschlagen wurden. Tagelang. Dies darf bei der Berücksichtigung der Ereignisse nicht unter den Teppich gekehrt werden. Zum Höhepunkt dieser Auseinandersetzung soll in der Nacht von Freitag und Samstag nun ein »Schwarzer Block« in unserem Stadtteil gewütet haben. Dies können wir aus eigener Beobachtung nicht bestätigen, die außerhalb der direkten Konfrontation mit der Polizei nun von der Presse beklagten Schäden sind nur zu einem kleinen Teil auf diese Menschen zurückzuführen. (…) Es war eher die Mischung aus Wut auf die Polizei, Enthemmung durch Alkohol, der Frust über die eigene Existenz und die Gier nach Spektakel – durch alle anwesenden Personengruppen hindurch –, die sich hier Bahn brach. Das war kein linker Protest gegen den G20-Gipfel. Hier von linken AktivistInnen zu sprechen wäre verkürzt und falsch.«

Es mehren sich nun auch Berichte über die Beteiligung von Hooligans und Rechten. In der Sternstraße wurde der Hitlergruß gezeigt, in der Bartelsstraße wurde ein Geschäft mit Antifa-T-Shirts im Schaufenster offenbar gezielt attackiert. Zudem wird jetzt im Nachgang der Krawalle deutlich, dass die Polizei Hamburg mit Falschmeldungen operierte. Ein Beispiel: Die Information vom späten Samstagabend, im Hamburger Schanzenviertel sei erneut ein Supermarkt geplündert worden. Auf Nachfrage hatte die Hamburger Polizei einen NDR-Mitarbeiter zunächst entsprechend falsch informiert. Eine Stunde später musste die Polizei diese Aussage zurücknehmen. Doch die Richtigstellung stoppte entsprechende Postings und Nachfragen in den sozialen Medien nicht. Dabei steht längst fest: Plünderungen gab es in der Nacht von Freitag auf Samstag – in der Nacht darauf aber nicht.

Zweites Beispiel ist die Rechtfertigung der Polizei bei den Krawallen im Schanzeviertel erst nach Stunden eingegriffen zu haben. Polizeisprecher hatten dazu erklärt, die Einsatzkräfte hätten abgewartet, weil sie fürchteten, die »vermummten Gewalttäter« könnten »Steinplatten« von den Dächern werfen und das »Leben der Einsatzkräfte« gefährden. Tatsächlich ist nur dokumentiert, wie ein Randalierer einen Molotowcocktail zündet [UPDATE 13.07.: Laut einem Sachverständigen war es wohl ein Böller], dieser aber nicht explodiert. Hingegen sind alle 13 Personen die im Verlaufe der Erstürmung des Daches, durch schwer bewaffnete Spezialkräfte in Gewahrsam genommen wurden, wieder frei. Gerichtssprecher Kai Wantzen erklärte, dass gegen die Menschen keine belastbaren Anhaltspunkte für die Beteiligung an Gewalttaten gibt, obwohl ein Polizeihubschrauber ununterbrochen die Szene filmte. Ein interessantes Detail: Der Besitzer des Hauses hatte die Polizei vorab informiert, dass das Baugerüst beim Gipfel für Probleme sorgen könnte und Hamburgs Polizeisprecher Timo Zill bestätigte sogar, dass die Polizei einen Schlüssel für das Haus schon im Vorfeld gehabt habe, genau so wie von anderen Häusern in der Schanze.

Der Protestforscher Dr. Dr. Peter Ullrich, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Protest- und Bewegungsforschung in Berlin, fasst es gegenüber NTV wie folgt zusammen: »Die Polizeiführung hat offensichtlich auf der gesamten Linie versagt. Sie hat fast nichts getan, um die Eskalationsdynamiken zu unterbrechen, ja, sie hat sie massiv befeuert. (…) Die Polizei hat in Hamburg recht autoritär versucht, sich zur Herrin des Versammlungsgeschehens zu machen und massiv in Grundrechte eingegriffen. Sie hat sich angemaßt, zu bestimmen, welche Art von Protest wo und wie stattfinden soll. Immer wieder wurden Panikreaktionen provoziert. Unsere Demonstrationsbeobachtungen und viele Fotos und Videos, die mittlerweile im Internet kursieren, zeugen auch von nicht hinnehmbaren einzelnen Polizeiübergriffen. Und auch die Tatsache, dass die Polizei über Stunden den Ausschreitungen im Schanzenviertel nichts entgegenzusetzen hatte, wirft viele Fragen auf.«

6. Der Polizeieinsatz in Hamburg weist viele Ähnlichkeiten mit den Polizeitaktiken bei anderen G20-Gipfel auf. In London und Pittsburgh (2009) sowie in Toronto (2010) ist im Nachhinein herausgekommen, dass die Polizei bei allen Protesten im »Schwarzen Block« »Agents Provocateur« eingesetzt hat. Auch bei der Hamburger Polizei ist das eine beliebte Taktik. Ein Untersuchungsausschuss könnte Licht ins Dunkel bringen.

Eines ist mehr als verwunderlich: Während die friedlichen Blockaden am Freitag mit massiver Polizeipräsenz eingeschüchtert wurden, konnte trotz riesigem Polizeiaufgebot in Hamburg, eine Gruppe von 60 vermummten Personen am Freitag Vormittag in Altona und Barmbek dutzende Autos anzünden. Aufnahmen von Anwohnerinnen und Anwohner zeigen, wie eine Gruppe unbehelligt die Straße hinunterzieht und mit wahlloser Zerstörungswut agieren könnte. Unklar ist hingegen, wer diese vermummten Personen sind. Allerdings ist es eine alte Taktik der Polizei »Agents Provocateur« einzusetzen. So geschehen bei den Gipfelprotesten in Genua 2001, aber auch bei den Demonstrationen gegen den G8-Gipfel in Heiligendamm oder den Protesten gegen Stuttgart 21.

Der Polizeieinsatz in Hamburg weist viele Ähnlichkeiten mit den Polizeitaktiken bei anderen G20-Gipfel auf: Aggressives Auftreten zu Beginn auch gegen friedliche Protestierende, die Gewalttaten von Einzelnen sowie des »Schwarzen Blocks« werden weitgehend zulassen, danach gibt es gezielte Verhaftung während der friedlichen Proteste als auch eine massive Verhaftungswelle im Nachgang. Bei den letzten drei größeren G20-Proteste in London und Pittsburgh (2009) sowie in Toronto (2010) ist im Nachhinein herausgekommen, dass die Polizei bei allen Protesten im »Schwarzen Block« Agent Provokateur eingesetzt hat. In Kanada war es sogar die größte verdeckte Operation in der Geschichte des Landes. In Hamburg gibt es bisher nur Vermutungen. So war der Polizist der einen Warnschuss abgegeben hat, in zivil unterwegs. Der Einsatz von »Agents Provokateur« ist aber gerade bei der Hamburger Polizei gang und gäbe. In einem Interview mit dem Hamburger Abendblatt äußerte ein Polizist im Jahr 2012: »Ich weiß, dass wir bei brisanten Großdemos verdeckt agierende Beamte, die als taktische Provokateure, als vermummte Steinewerfer fungieren, unter die Demonstranten schleusen. Sie werfen auf Befehl Steine oder Flaschen in Richtung der Polizei, damit die dann mit der Räumung beginnen kann.«

Die Hamburger LINKE will nun einen Untersuchungsausschuss über den Polizeieinsatz beantragen. Er könnte ans Licht bringen, was bisher nur Vermutungen sind.

7. Aktivistinnen und Aktivisten im »Schwarzen Blockes« begehen einen politische Irrtum, wenn sie ihre Militanz mit Macht oder Gegenmacht verwechseln. Linke sollten die Aktionen linker Barrikadenbauerinnen und Steinewerfer kritisieren, aber nicht zulassen, dass die Bewegung in »gute« und »böse« Aktivisten gespalten wird.

Der Sprecher der Roten Flora und Mitanmelder der »Welcome to Hell«-Demonstration Andreas Blechschmidt kritisiert richtigerweise: »Wir sagen immer, dass die bewusste Regelübertretung Teil autonomer Politik sein muss. Aber wir sagen auch, es gibt Kriterien dafür und auch rote Linien. Die Art und Weise, wie letzte Nacht hier agiert worden ist, hat aus unserer Sicht diese rote Linie überschritten. (…) Wir haben den Eindruck gehabt, dass sich hier etwas verselbstständigt hat, dass hier eine Form von Militanz auf die Straße getragen wurde, die sich so ein bisschen an sich selbst berauscht hat – und das finden wir politisch und inhaltlich falsch.«

Auch ein weiterer Sprecher der Roten Flora, der Anwalt Andreas Beuth, findet klare Wort und spricht von »sinnfreier Gewalt«: »Wenn man anfängt, die kleinen Läden zu zerlegen und die Autos der Anwohner, dann habe ich da kein Verständnis für. Das wollen wir nicht, das muss unterbleiben. Die Leute verstehen nicht, dass ihre Autos angezündet und ihre Läden geplündert werden; die Läden, in denen wir einkaufen.«

Ein Problem ist, dass die von ihnen gewählte Aktionsform des »schwarzen Blockes« offen ist für genau solche Menschen. Menschen, die mit linken Idealen nichts am Hut haben: Krawalltouristen, Rechte, Hooligans aber auch für Provokateure aus den Reihen der Polizei. Allerdings gibt es einen Unterschied zwischen der offenbar geplanten, wahllosen Zerstörung, wie Beispielsweise das Anzünden von Autos in Altona und der spontanen Reaktion, sich durch Latten, Steine- oder Flaschenwürfe gegen unverhältnismäßige Polizeigewalt zur Wehr zu setzen, wie das am Donnerstag bei der »Welcome to hell« Demonstration der Fall war.

Trotzdem zeigen die Ereignisse in Hamburg die Grenzen der Taktik des »Schwarzen Blockes«. Die Militanz, also den direkten Kampf mit der Polizei, welche viele Gruppen und Einzelpersonen aus den Reihen des »Schwarzen Blocks« für sich reklamieren, drückt Wut aber auch Ohnmacht aus. Die Barrikadenbauerinnen und Steinewerfer irren sich, wenn sie diese Form des Protestes mit Macht oder Gegenmacht verwechseln. Die Macht zu wirklicher Veränderung liegt bei denen, die täglich aufs Neue den gigantischen Wohlstand unserer Gesellschaft erarbeiten: Fließbandarbeiterinnen, Pflegekräfte, LKW-Fahrer, Bauarbeiter, Ingenieurinnen, Erzieherinnen.

Ziviler Ungehorsam als »klassenunspezifische« Kampfform hat in der Geschichte der Klassenkämpfe seinen Stellenwert. In der jüngeren Geschichte waren Kampfformen des zivilen Ungehorsams jedoch meist nur ein erster Schritt hin zu den traditionellen Mitteln des Klassenkampfes: Zu Massendemonstrationen und politischen Massenstreiks. Massenhafter Widerstand auf den Straßen kann unter Umständen zum Funken werden, der zur sozialen Explosion und zu politischen Massenstreiks führt. Das klassische Beispiel sind die mehrtägigen Barrikadenkämpfe von Studierenden im Mai 1968 in Paris gewesen, die den größten Generalstreik der französischen Geschichte ausgelöst haben. Ähnliche Entwicklungen gab es in jüngster Vergangenheit in Athen oder in Kairo während der ägyptischen Revolution. Entschlossene Minderheiten können unter bestimmten Bedingungen proletarische Massenbewegungen auslösen, die wiederum allein die potentielle Macht besitzen, erfolgreiche Aufstände gegen den Kapitalismus zu führen. Es gibt freilich viel mehr Negativbeispiele in der Geschichte, wo kampfentschlossene Avantgarden isoliert blieben. Die entscheidende Bedingung ist jedoch, dass beides zusammenkommen muss: Funke und genügend (sozialer) Sprengstoff. Der Einsatz von Gewalt als Mittel des Widerstandes ist nur dann sinnvoll, wenn die ungeheure Mehrheit von Millionen von Menschen ihre Interessen gegen die Minderheit der Herrschenden durchzusetzen versucht. Wie beispielsweise in der Novemberrevolution in Deutschland 1918, im Kampf der spanischen Bevölkerung gegen den Faschismus 1936, dem Widerstand der Menschen in Vietnam gegen den Krieg der USA oder dem Kampf von Nelson Mandela und des ANC gegen die Apartheid in Südafrika. In Hamburg stand eine solche Situation nicht auf der Tagesordnung. Doch auch friedliche Massenproteste können eine gewaltige Wirkung entfalten. Sie können die realistische Hoffnung auf Veränderung verbreiten und Menschen zu Selbstaktivität und zum Mitmachen verleiten. Die Linke hat die Aufgabe, für diese Strategie zu werben – sowohl bei denjenigen, die Hoffnungen in die Regierung setzen, als auch bei denen, die Illusionen in die Wirkung militanter Gewalt anhängen. Was wir in keinem Falle zulassen dürfen: Dass die Bewegung in »gute« und »böse« Aktivistinnen und Aktivisten gespalten wird.

8. Die Gewalteskalation beim Gipfelprotest überschatten alles. Das Thema wird wohl auch zum Wahlkampfthema werden. Die Linke sollte sich für eine lückenlose Aufklärung des Polizeieinsatzes einsetzen und all jenen, die die gewalttätigen Ausschreitungen jetzt in den Vordergrund rücken wollen, den Spiegel vorhalten: Die größte Gefahr für die Demokratie ist nicht »linksradikale Gewalt«, sondern der systematische Zersetzungsprozess verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsrechte durch die Bundesregierung, die zunehmende Militarisierung der Polizei und die alltäglich Gewalt, die durch die Politik der G20-Staaten entsteht.

Die CDU fordert schon die »Räumung der Rote Flora« aber auch der »Rigaer Straße« in Berlin und eine Offensive des Staatsschutzes gegen den »Linksextremismus«. CDU-Mann Peter Altmaier, Chef des Bundeskanzleramts, twitterte sogar: »Linksextremer Terror in Hamburg war widerwärtig und so schlimm wie Terror von Rechtsextremen und Islamisten.«

Die Frankfurter Rundschau schreibt dazu in ihrem Kommentar: »Geplünderte Geschäfte und brennende Autos sind also genauso schlimm wie Mord an Menschen mit Migrationshintergrund und Laster, die in Menschenmengen rasen. Für die Hinterbliebenen der Opfer des NSU und der Opfer von Nizza, Paris, Brüssel und Berlin ist das ein Schlag ins Gesicht. Altmaiers Tweet wird von der halben CDU fleißig geteilt und gefeiert.«

Auch andere Politikerinnen und Politiker springen auf diesen Zug auf und haben nach den Ausschreitungen beim G20-Gipfel in Hamburg eine schärfere Gangart gegen »Linksextremisten« in Deutschland und die Einführung einer europaweiten Extremistendatei gefordert. Doch das wird Krawalle bei Gipfelprotesten nicht verhindern. Zudem ist es schlicht falsch, wenn Innenminister Thomas de Maizière behauptet, es müsse künftig mit heftigsten Gewaltausbrüchen von Linksextremisten gerechnet werden. Selbst der Verfassungschutzbericht, der keine neutrale Quelle darstellt, weißt für 2016 23.555 politisch motivierte Straftaten von rechts, aber nur 9389 von links aus. Die Zahl rechter Straftaten ist 2016 um 13,6 Prozent gestiegen, die der linken um 6,9 Prozent zurückgegangen.

Vor diesem Hintergrund ist es wenig hilfreich, wenn beispielsweise Dietmar Bartsch von der LINKEN behauptet: »Polizisten haben super Job gemacht. Gewalt ist inakzeptabel.« Eine solche Argumentation verdreht die Tatsachen. Ganz anders argumentiert der Hamburger Bundestagsabgeordnete Jan van Aken, der DIE LINKE im Anti-G20-Protestbündnis vertrat und die Großdemo gegen den G20-Gipfel anmeldete. Er kritisierte die Polizeiführung scharf und fordert den Rücktritt von Innensenator Andy Grote. Die LINKE muss sich für eine lückenlose Aufklärung des Polizeieinsatzes einsetzen. Die Hamburger LINKE will einen Untersuchungsausschuss beantragen. Das ist richtig. Wir brauchen aber mehr. DIE LINKE muss all jenen, die die gewalttätigen Ausschreitungen jetzt in den Vordergrund rücken wollen, den Spiegel vorhalten, der die wahren Gewaltverhältnisse wieder ins richtige Licht rückt. Die größte Gefahr für die Demokratie ist nicht »linksradikale Gewalt«, sondern der systematische Zersetzungsprozess verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsrechte durch die Bundesregierung, die zunehmende Militarisierung der Polizei und die alltäglich Gewalt die durch die Politik der G20-Staaten entsteht.

In Deutschland findet seit Jahren ein systematischer Zersetzungsprozess verfassungsrechtlich garantierter Freiheitsrechte statt. Schon die ersten sogenannten Anti-Terror-Pakete, die noch unter der rot-grünen Regierung verabschiedet wurden, lehnten nahezu alle Bürgerrechts- und Datenschutzorganisationen zu Recht als »Katastrophe« ab. Mittlerweile haben die verschiedenen Behörden ein bedrohliches Arsenal an Möglichkeiten. Die G20-Staaten produzieren mit ihrer Politik alltäglich Gewalt. Der Journalist und Herausgeber der Wochenzeitung Freitag, Jakob Augstein, schreibt: »Aber die G20 sind selbst organisierte Gewalt und auch der Gipfel war ein Akt der Gewalt. (…) Die G20 stehen für ein Weltmachtsystem, in dem acht Menschen eben soviel besitzen wie 3.7 Milliarden. Diese Zahl ist der Inbegriff schierer Gewalt.«

Kaum ein Krieg auf der Welt, in den nicht mindestens ein G20-Staat verwickelt ist. Der Global Peace Index hat zwischen 2010 und 2014 eine 3,5-fache Erhöhung der Anzahl an Todesopfern in Konflikten weltweit, von 49.000 auf 180.000, gemessen. Aber nicht nur diese brutale physische Gewalt nimmt zu. Auch im Jobcenter, in der Ausländerbehörde, in der Familie, am Arbeitsplatz, in Schule oder Hochschule machen Menschen täglich die verletzende Erfahrung, den an sie gestellten Anforderungen nicht gerecht werden zu können. Die Welt ist von unzähligen Gewaltverhältnissen durchzogen, der Kapitalismus ist als solcher Gewalt. Protest dagegen ist möglich und nötig. Ein wichtiger Protesttermin hierfür ist der Klima-Gipfel der vom 6. bis 17. November in Bonn stattfindet.

Quelle: https://www.marx21.de/g20-protest-gewalt-polizei/