Dieser Kurzbeitrag erinnert an Barry
Hyams (1932-1994), der Anfang der 1970er Jahre in
Marburg (Lahn) die Forschungsstelle für
Arbeitermigration und Ende der 1970er Jahre das
Kindheitsmuseum (mit)begründete.
Lexikalisches
Auch Barry mußte von irgendwas leben. Er
übersetzte. Etwa Eric Hobsbawms zuerst deutsch 1962
erschienene "Sozialrebellen" (Letztauflage 1979).
Oder Erich Fromms zuerst deutsch 1963 erschienenes
"Menschenbild bei Marx" (Letztauflage 1988, jeweils
mit Dr. Renate Müller-Isenburg). Er wollte, weil es
damals dort gehen sollte, in Hellas überleben.
Barry wurde im Zusammenhang mit dem Militärputsch
1967 aus Griechenland ausgewiesen, kam nach
Deutschland zurück, nach Marburg (Lahn) und ins
SDS-Umfeld, betrieb 1968 den ApO-örtlichen
Club Voltaire.
Barry war 1977 mit seiner Dissertation über das
Irland des 19. Jahrhunderts mit seiner Großen
Hungersnot (An Gorta Mór; The Irish Potatoe Famine,
1845-1848) der letzte Doktorand des Soziologen
Heinz Maus am Fachbereich
Gesellschaftswissenschaften der
Philipps-Universität Marburg (PUM: FB 03). Die
gemeinsam mit Lebensgefährtin Dr. Helge-Ulrike
Peter (später Hyams: Erziehungswissenschaftlerin
und Professorin an der Universität Bremen) 1973
gegründete
Marburger Forschungsstelle für Arbeitermigration
mit ihrer Schriftenreihe blieb trotz der dort
erschienenen sechs Bände, darunter
deutsch-italienische Emigrantenbriefe, Episode –
nicht aber das wiederum gemeinsam mit ihr 1979 in
Marburg gegründete und von Barry betriebene erste
Kindheitsmuseum
in der Hüterschen Villa am Barfüßertor. Es bestand
bis Ende 2008 und sollte, nicht zuletzt mittels
einer Spezialsammlung jüdischer Kinderbücher,
Einblicke in Kindheiten der letzten beiden
Jahrhunderte vermitteln.
Persönliches
Ich traf Barry
Anfang 1972 gegen Ende meines Marburger
Winter(semester)s 1971/72. Über diese Monate
schrieb ich einem in Köln lebenden Hamburger
Genossen Ende Februar 1972 in einem
einzeilig-vierseitigen Brief über meine Erfahrungen
am dortigen Fachbereich im allgemeinen "und
besonders im Bereich der Politikwissenschaft", in
welchem Fach ich mit einer Studie zur
"Sozialfaschismustheorie der Kommunistischen Partei
Deutschlands" zum Dr.phil. hätte promovieren
wollen: "wenig öffentliche, demokratische
Diskussion über praktische Entscheidungsprozesse
[...], bloße Akklamation für Entscheidungen ([...]
der Lehre, der Forschung, der Organisation), die eh
vorher gefällt sind, recht geringes [...]
öffentlich ausgewiesenes Herangehen an diese
Probleme, wenig Grundlegung für
öffentlich-demokratische Entscheidungsprozesse in
den Veranstaltungen. Die Gefahr ist klar: mögliche
Selbstaustrocknung, kaum lebendige
Auseinandersetzung [...] im wissenschaftlichen
Bereich, ewiger Zugzwang-Circulus-Vitiosus,
manchmal mit dem politischen Beigeschmack des
klandestin arbeitenden sozialistischen Überkaders,
also: Gefahr der sektiererischen Verengung."
Barry galt im Marburger SDS als Mann
fürs Grobe und Beschaffer und als jemand, der mit
Waffen umgehen konnte. Er half mir einmal praktisch
als sonst nichts mehr ging. Bei märzlichen
Waldspaziergängen erzählte Barry von seiner Zeit in
der britischen Rheinarmee, von der nach Osten
verschobenen Schlächtergrenze beim faschistischen
Völkermord(en) während des Zweiten Weltkriegs, von
seiner letzten Zugfahrt in Griechenland, von
Arbeitsmigranten, ihren Hoffnung und
Enttäuschungen, von Londoner Dockern, ihrem Streik
und warum 1968 britische Arbeiter und
Gewerkschafter für den als rechts(extrem) geltenden
intellektuellen Tory Enoch Powell demonstrierten.
Der Kontakt riß nach dem
aus-den-Augen-aus-dem-Sinn-Prinzip bald ab. Später
las ich Barrys Dissertation und den Nachruf auf
seinen Doktorvater. Als ich im Frühjahr 2008
versuchte, ihn zu erreichen, um anstatt einen der
immergleich-beliebigen Professoralvorträgler ihn,
Barry (auch Barry C. oder Charles Barry) Hyams zu
einer öffentlichen Rede nach Bonn einladen zu
lassen, konnte ich Barry nicht mehr erreichen. Er
soll, zweiundsechzigjährig, 1994 in Marburg (Lahn)
gestorben sein.
Nachlesbares
-Charles Barry Hyams; Helge-Ulrike
Peter (Ed.), Lettere di emigrati ai compagni del
Mezzogiorno d'Italia / Emigrantenbriefe.
Marburg/Lahn 1974, 134 p. (= Schriftenreihe der
Forschungsstelle für Arbeitermigration 2)
-Dies., Arbeitermigration. Beiträge
zu Problemen der Arbeitskräftewanderung nach
Westeuropa. Marburg/Lahn 1975, 279 p. (=
Schriftenreihe der Forschungsstelle für
Arbeitermigration 3)
-Bernhard Kayer, Zyklisch bedingte
Heimkehr von Arbeitsemigranten. [Deutsche Ausgabe
von C. B. Hyams; H.-U. Peter im Auftrag der OECD]
Marburg/Lahn 1975, 114 p. ( = Schriftenreihe der
Forschungsstelle für Arbeitermigration 5)
-Charles Barry Hyams, Irland im 19.
Jahrhundert. Marburg/Lahn 1977, ix/422 p. (=
Schriftenreihe der Forschungsstelle für
Arbeitermigration 6)
-Ders., Heinz Maus; in: Marburger
Zeitung, 2 (1978) 12: 16-17
-Ders; Helge-Ulrike Hyams, Marburger
Kindheitsmuseum, Selbstverlag, Marburg 1983, 152 p.
[2009 geschlossen. Ein Teil der Sammelung jüdischer
Kinderbücher soll als Collection Hyams
in der Bibliothek des Leo Baeck College in London
öffentlich zugänglich sein.]
Editorische Hinweise
Wir
erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.
Es handelt sich um eine
vom Autor geringfügig überarbeitete und gekürzte
Fassung des im Netz-Tagebuch
duckhome,
Hg. Jochen Hoff (1975-2017), am 8. November 2010
erstveröffentlichten Beitrags. Gedruckt in:
Auskunft,
36 (2016) II: 249-441. - R.A.
|