Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Am Ende der Fahnenstange des Sozialprotests vom Frühjahr/Frühsommer 2018
Eine vorläufige Bilanz vom 29. Juni 18: Am Schluss steht eine saftige Niederlage, da beißt die Maus keinen Faden ab. Doch warum?

07/2018

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Sozialprotest läuft sich tot - Trotz Einheit CGT & FO (unter faktischer Beteiligung von Solidaires) wurde der Aktionstag vom 28. Juni d.J. zum Totalflop - Gesetz zur „Bahnreform“ durch Präsident Emmanuel Macron unterzeichnet - Dennoch geht die Auseinandersetzung innerhalb der Bahngesellschaft SNCF weiter, auch aufgrund von Verhandlungen zu Branchenvereinbarungen - Aufruf zu drei neuen Streiktagen wird nur noch durch zwei der vier „tariffähigen“ Branchengewerkschaften bei den Eisenbahner/inne/n mitgetragen - Hochschulprotest ist zu Ende.

Wenn ein Milliardär und Großunternehmer einen wildgewordenen Berufspolitiker darauf hinweisen muss, dass allzu viel soziale Arroganz nur schadet und ein bisschen mehr Rücksicht auf die Belange der gesellschaftlichen Unterklassen ein Stabilitätserfordernis darstellt, dann lässt dies tief blicken.

Der 81jährige frühere Holz-Großhändler und spätere Anbieter von Luxusgütern (ihm gehören unter anderem die Modemarken Gucci und Yves Saint-Laurent) François Pinault unterstützte in der Vergangenheit zeitweilig den Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen, später jahrelang den bürgerlichen Staatspräsidenten Jacques Chirac. Zuletzt stand er dem Sozialdemokraten François Hollande nahe, für den er 2012 bei der Präsidentschaftswahl stimmte. Hingegen begegnet er Hollandes Amtsnachfolger mit Kritik. Am 23. Juni 2018 wurden seine Äußerungen über das seit einem Jahr amtierende Staatsoberhaupt Emmanuel Macron publik: Dieser „versteht die kleinen Leute nicht“, stellte Pinault laut einem Bericht des Magazins M (Wochenendbeilage der Pariser Abendzeitung Le Monde) fest, um hinzuzufügen, dass dessen Politik „die bescheidensten (Gesellschaftsmitglieder) vergisst“. ( Vgl. https://actu.orange.fr oder http://www.lefigaro.fr/ )

Pinault bedient mit seinen Produkten, und repräsentiert in vielfacher Hinsicht die oberen Segmente der französischen Bourgeoisie. Die Wortwahl des Milliardärs, konkret die Ausdrücke „kleine Leute“ und „bescheiden“, lieferten wiederum den Beratern und Ministern Macrons ( vgl. https://www.huffingtonpost.fr/ ) die Argumente, um zu kontern: Mit seinen veralteten Begrifflichkeiten belege Pinault nur seine eigene soziale Arroganz. Vielleicht haben in gewissem Sinne ja beide Seiten in dieser Auseinandersetzung Recht…

Soziale Rücksichtnahmen sind tatsächlich Emmanuel Macrons Sache nicht. „Die Dampfwalzenstrategie“, titelte die Boulevardzeitung Le Parisien am 12. März dieses Jahres ( vgl. http://www.leparisien.fr ), und erläuterte ihre Überschrift folgendermaßen: „In seinem Willen, das Land ,umzuwandeln‘, startet Macron jeden Tag oder fast eine neue Reform“. Allerdings vergleicht das Blatt den Präsidenten weiter unten auch mit einem Rugbyspieler: Dieser habe den Ball ergriffen und laufe nun im Höchsttempo auf das Tor zu, „doch wenn er sich umdreht, ist es um ihn geschehen.“ Geschwindigkeit als Regierungsprinzip also.

Die Dampfwalze rollt

Zwei Punkte sind dabei jedoch erstaunlich: Zum Ersten die immer noch vorhandene, wenngleich sehr relative, Popularität von Emmanuel Macron sowie seines amtierenden Premierministers Edourd Philippe. Zum Zweiten die Tatsache, dass soziale Widerstände zwar aufkeimen und gesellschaftliche Protestbewegungen aufkommen – wie in den vergangenen Monaten an den Universitäten, bei der französischen Bahngesellschaft SNCF oder gegen die reaktionäre Novelle in der Ausländergesetzgebung -, diese jedoch bislang erkennbar zu schwach bleiben, um sich durchsetzen zu können.

Niederlage der sozialen Protestbewegung 2018

Worin liegt das vermeintliche Geheimnis dahinter, aber auch der bisherigen Niederlagen sozialer Protestbewegungen? Nachdem die Hochschulproteste mit der Räumung letzter besetzter Hochschulen wie Nanterre (am 13. Juni 18; vgl. https://www.marianne.net – und vgl. im April d.J.: https://www.sudouest.fr ) und der EHESS (am 22. Juni) faktisch endeten, und die Beteiligung am Ausstand der Bahnbeschäftigten am 22. Juni d.J. laut den Zahlen der Direktion erstmals auf unter zehn Prozent des SNCF-Personals fiel (vgl. https://www.lemonde.fr/) , ist die Frage ernsthaft aufgeworfen.

Bei der Eisenbahngesellschaft SNCF endete der im März dieses Jahres definierte und drei Monate umfassende Streikkalender – mit Stop-and-Go-Streiks, im Wechsel von je zwei Streik- und drei Arbeitstagen im fünftägigen Zyklus – am gestrigen Donnerstag. Tatsächlich zog sich der Streikkalender vom 03. und 04. April (die beiden ersten Arbeitskampftage) über den 08. und 09. April, den 13. und 14. April.. bis einschließlich zum 27. und 28. Juni hin. Das Ende dieser vorab festgelegten Periode, die bislang insgesamt sechsunddreißig Streiktage enthielt, ist jedoch nunmehr erreicht. An ihrem Ende nahm die Teilnahme am Streik merklich ab, auch wenn anzumerken ist, dass selbst bei einer zehnprozentigen Beteiligung Ende Juni d.J. – also sofern die Angaben der Bahndirektion ungefähr zutreffen, Zahlenmanipulationen ihrerseits mal beiseite gelassen – dies immer noch bedeutet, dass sich rund 15.000 Beschäftigte beteiligten. (Die Bahngesellschaft SNCF weist eine Personalstärke von insgesamt rund 146.000 abhängig Beschäftigten auf; vgl. https://ressources.data.sncf.com .) Dabei blies der Wind aus Teilen der Öffentlichkeit den Streikenden durchaus ins Gesicht. So berichtete die Schalterbedienstete Mathilde D. dem Autor dieses Jahres bereits am 02. Mai d.J., es sei momentan Usus, wenn Fahrgäste bzw. Reisewillige an den Serviceschaltern Mitarbeiter/inne/n hemmungslos beschimpften, wenn die Reiseauskunft etwa ergebe, dass streikbedingte Beeinträchtigungen des Verkehrs bestünden. Diesbezüglich seien, gegenüber früheren Zeiten, Schamschwellen niedriger geworden oder verschwunden.

Kritiker/innen wie die linksalternative Basisgewerkschaft SUD Rail (SUD Schienenverkehr) merken unterdessen an, die gewählte Streiktaktik mit den sich über drei Monate hinwegziehenden Stop-and-Go-Streiks habe dazu beigetragt, dass die Dynamik dieses Streiks sich nicht entfalten konnte. An dieser Argumentation ist Einiges dran: Nachdem der Streikkalender von vornherein durch die Gewerkschaftsvorstände „von oben“ festgezurrt worden war, blieb den Personalversammlungen vor Ort faktisch (quasi) nichts mehr zu entscheiden übrig. In der Vergangenheit hatten – jedenfalls bei als grève reconductible oder „fortführbarer Streik“ bezeichneten Arbeitskämpfen, die unbefristet und ohne Unterbrechung geführt wurden, über deren Fortsetzung oder Abbruch jedoch jeweils vor Ort in Streikversammlungen entschieden wurde - die örtlichen Vollversammlungen eine entscheidende Rolle gespielt. Diese Streikform, welche etwa im mittlerweile „historischen“ Streikherbst 1995 bei der französischen Eisenbahn praktiziert wurde, fürchteten die Regierenden sowie die Bahndirektion besonders. Aus dieser Dynamik war jedoch in diesem Jahr 2018 von vornherein die Luft herausgelassen. Und viele Streikende blieben daraufhin den Versammlungen fern. Nun ist es allerdings wohlfeil, zu behaupten, wäre es anders gelaufen, hätte man nur eine andere Streiktaktik eingesetzt, dann stünde der Sieg der Streikbewegung inzwischen längst fest. Tatsächlich ist auch die Ausgangslage im Frühjahr 2018 eine andere gewesen: Im Herbst 1995 stand die öffentliche Meinung ziemlich massiv hinter den Streikenden bei der SNCF; im Frühjahr 2018 blieb dies fraglich.

Ausprobiert worden ist es nicht. Stattdessen entschieden sich drei der vier, als représentatifs (ungefähr: „tariffähig“) anerkannten Branchengewerkschaften bei der französischen Bahngesellschaft SNCF für eine Strategie, welche sich auf den Nenner „Wasch’ mir den Pelz, doch mach’ mich nicht nass!“ bringen lässt: Weil man sich der Unterstützung einer Mehrheit in der öffentlichen Meinung nicht sicher war, versuchte man es mit einer Streiktaktik, die nicht wirklich weh tun sollte, sondern den Bahnverkehr über die Mehrheit des betroffenen Zeitraums hinweg aufrecht erhalten sollte. Man glaubte bei den etablierten Gewerkschaften, dadurch die Gegner/innen des Arbeitskampfs in Teilen der öffentlichen Meinung zu besänftigen. Resultat: Bereits Ende April 18, also nach einem Drittel der festgelegten Streikperiode (diese lief vom 03./04. April, mit den angegeben regelmäßigen Unterbrechungen, bis zum 27./28. Juni dieses Jahres), als die Beteiligung noch stärker war als gegen Ende der Periode, wurde der Streik bereits durch eine Mehrheit der Teilnehmenden in Umfragen als wirkungslos eingeschätzt. Zu dem Zeitpunkt erklärten 74 % der Befragten, für ihr Leben bleibe der SNCF-Streik de facto „ohne Auswirkungen“, und dies trotz Beeinträchtigung des Nahverkehrs. (Vgl. https://www.sudouest.fr ) Unterdessen musste klar sein, dass eine Streikbewegung, an deren Durchsetzungsfähigkeit ein Gutteil der öffentlichen Meinung nicht glaubt und deren Dynamik nicht erkennbar ist, auch keinen Kristallisationskern (etwa für Opposition gegen die Regierung) in der öffentlichen Meinung bilden kann. Insofern liefen auch die Sympathiepotenziale für den Streik, die es anfänglich durchaus in Teilen der Gesellschaft gegeben hat, wohl auseinander.

Nur, unterdessen gilt ebenso: Wäre es wirklich ausprobiert worden, wäre der Streik also ohne Unterbrechungen und von vornherein geführt worden, dann hätte er wohl früher geendet – aber vielleicht auch mit einer früheren Niederlage. Es ist allzu leicht, hinterher zu behaupten, mit der „richtigen“ Strategie wäre eine Niederlage auf jeden Fall erspart geblieben. Nein, diese Behauptung lässt sich nicht aufstellen oder jedenfalls niemals beweisen, denn ein ungeschriebenes Kapitel der Geschichte bleibt nun einmal unbekannt, und es lässt sich nicht nachweisen, was es enthielt oder enthalten hätte. Einen garantierten Erfolg hätte es nicht gegeben; einen Erfolg nach zähem Ringen und harter Auseinandersetzung, vielleicht ja und vielleicht auch doch nicht. Die real durchgeführte Streiktaktik hingegen, also die mit den Stop-and-Go-Streiks, hat in der wirklichen Wirklichkeit erkennbar zur Niederlage geführt. Zumindest dies muss nun eingeräumt werden. Es ist hoch wahrscheinlich, dass die geschilderte Herangehensweise („Wasche mir den Pelz, doch mache mich nicht nass“) den Streikenden keine bessere Karten verpasst hat, als dies bei einem unbefristeten Streik der Fall gewesen wäre – sofern eine Niederlage programmiert war, hat sie diese allenfalls hinausgezögert und in die Länge gezogen.

Wie geht es nun weiter, bzw. geht es überhaupt weiter? Derzeit steht, durch die CGT-Cheminots (Branchengewerkschaft CGT der Eisenbahner) initiiert, der Aufruf zu drei neuen Streiktagen im Raum: am Montag, den 02. Juli 18 sowie am Freitag und Samstag, den 06. und 07. Juli 18. Die beiden letztgenannten Tage entsprechen dem Beginn der Ferienreisen. Dieses Mal unterstützen jedoch nur noch zwei von vier, als représentatifs (entspricht im Deutschen ungefähr „tariffähig“) anerkannten Branchengewerkschaften bei der Bahngesellschaft SNCF diesen Aufruf: die CGT-Cheminots und Sud Rail. Hingegen positionieren die beiden, aus bürgerlicher Sicht als „moderater“ geltenden Branchengewerkschaften der CFDT sowie des Gewerkschaftszusammenschlusses UNSA nunmehr klar gegen diesen neuerlichen Streikaufruf. ( Vgl. etwa http://www.lefigaro.fr )

Am gestrigen Donnerstag, den 28. Juni d.J. fand unterdessen ein als branchenübergreifendes Mobilisierungsdatum ausgelegter gewerkschaftlicher „Aktionstag“ statt. Zu ihm riefen die beiden Dachverbände CGT und FO (Force Ouvrière) auf; erstmals seit dem – mit einer Niederlage endenden – Kampf gegen das „Arbeitsgesetz“ im Frühjahr und Sommer 2016 zogen diese beiden Dachverbände dabei an einem Strang. (Anmerkung: Bei der Bahngesellschaft SNCF hat FO ihre Anerkennung als „tariffähig“ vor Jahren, infolge von Personalvertretungswahlen, eingebüßt.) Im April 2018 nahm der langjährige FO-Generalsekretär Jean-Claude Mailly nach dreizehn Jahren im Amt seinen Hut. Auf dem Gewerkschaftskongress im April d.J. wurde Pascal Pavageau, wie erwartet, zum Nachfolger von Jean-Claude Mailly bestimmt. Damit ging, jedenfalls auf der Ebene der verbalen gewerkschaftspolitischen Positionierung, eine gewisse Verschiebung ins Protestspektrum einher. - Mailly, welcher im Sommer und Herbst 2017 nach Kräften jeglichen Protest gegen die zweite Stufe der Arbeitsrechts„reform“ (kristallisiert in den am 22. September 17 durch Präsident Macron unterzeichneten Rechtsverordnungen mit Gesetzeskraft oder ordonnances) auszubremsen suchte, hat unterdessen einen neuen Abschnitt seiner Karriere begonnen. Und zwar ( vgl. http://www.europe1.fr/ ) bei der Consulting-/Beraterfirma von Raymond Soubie. Letzterer war übrigens unter Nicolas Sarkozy Präsidentenberater für soziale Angelegenheiten. So weit zur progressiven Substanz bestimmter Gewerkschaftsfunktionäre.

Erstmals seit knapp zwei Jahren zogen die CGT und FO also wieder an einem Strang (wie auch in den vergangenen Jahren üblich, war FO etwa dem diesjährigen Pariser 1. Mai-Umzug unter Beteiligung der CGT fern geblieben, zugunsten einer eigenen Popelveranstaltung, während die CFDT sich mit einer Filmvorführung begnügt hat). Allerdings, nun folgt das dicke Aber…: In Paris beteiligten sich am gestrigen „Aktionstag“ vom 28. Juni, nun ja, ein paar Hundert Menschen. Die Nachrichtenagentur AFP hat durchaus Recht, wenn sie die Teilnehmer/innen/zahl im dreistelligen Bereich verortet. Vgl. dazu http://www.lefigaro.fr/

Um kurz nach 16 Uhr war auf der place de la République – dem Abschlussort der Demonstration, die um 14 Uhr bei der place de la Bastille losging – bereits Alles gelaufen; ein paar Böller explodierten zu dem Zeitpunkt noch, und das war’s dann gewesen. Und zwar hatte der linksalternative gewerkschaftliche Zusammenschluss Union syndicale Solidaires (d.h. die SUD-Gewerkschaften) nicht den Aufruf von CGT und FO zum „Aktionstag“ mit unterstützt. Vor Ort waren die Teilnehmer/innen aus den Reihen von Solidaires jedoch zahlreicher als jene, die anderen Gewerkschaften angehörten… (Solidaires hatte letztlich mit eigenen Inhalten, unabhängig vom Aufruf der Dachverbände CGT & FO und parallel zu ihnen, mobilisiert.)

Zuvor hatten Eisenbahner/innen, die noch zu der zahlenmäßig am stärksten vertretenen sozialen Gruppe zählten, den cortège de tête oder „Spitzenblock“ (das schwarz-bunte Gemisch an der Spitze mit z.T. autonomen Einflüssen) aus der Demo vertrieben. Was unter Linksradikalen, jedenfalls manchen - je nach Ausrichtung -, ein wenig böses Blut gab.

Was gibt es sonst noch zu vermelden? Das Gesetz zur „Bahnreform“ (u.a. zur Umwandlung des Statuts der, bislang noch öffentlich-rechtlich verfassten, Eisenbahngesellschaft SNCF und zur Einführung privatrechtlicher Arbeitsverträge ab 2020) wurde nun am Mittwoch, den 27. Juni 18, also vorgestern, durch Staatspräsident Emmanuel Macron feierlich unterzeichnet. ( Vgl. https://www.bfmtv.com/ ) Dieser Teil der Auseinandersetzung, jener um die Grundsätze der „Reform“, ist nun ohne Zweifel verloren. Was bleibt, ist jedoch „bahnintern“ ein gewisses Kräfteverhältnis, das noch bei den Kollektivverhandlungen (Verhandlungen über Kollektivverträge, entspricht im deutschen ungefähr „Tarif-…“) im Transportsektor zum Tragen kommt. Dies ist auch der Hauptgrund dafür, warum dort noch weiter gestreikt wird. ( Vgl. https://www.alternatives-economiques.fr/ )

Konkret diskutiert wird dabei insbesondere über die sozialen Garantien, über welche SNCF-Beschäftigte in Zukunft verfügen werden, falls ihr Arbeitsvertrag an eine andere Betreibergesellschaft im Transportsektor übergebt (etwa bei Betriebsübergang). Die CFDT behauptet, Garantien herausgeholt zu haben, während die CGT-Cheminots angibt, 85 % der Forderungen diesbezüglich seien bislang unerfüllt. Garantiert wird bislang de facto nur, dass ein Unternehmen, das künftig als Konkurrent der SNCF in den Sektor (Schienentransport von Personen und/oder Waren und Gütern) eintritt, künftig – um einen deutschen Ausdruck zu benutzen – tarifgebunden sein muss, also einen eigenen Kollektivvertrag aufweisen muss. Nach dem Branchen-Kollektivvertrag vom Juli 2016 kann jedoch ein unternehmenseigener Kollektivvertrag (in einem der künftigen Schienentransportunternehmen) nach „unten“ vom allgemeinen Kollektivvertrag abweichen.

Letzterer, der für die gesamte Branche gilt, wurde / wird faktisch bei der SNCF ausgehandelt, weil zum jetzigen Zeitpunkt nun einmal die SNCF das einzige Unternehmen im Bahntransport in Frankreich darstellt; in ihrem Rahmen werden also bislang sowohl Unternehmens- als auch Branchen-Kollektivverträge ausgehandelt. // Vgl. dazu bereits für die Situation seit 2016: http://trend.infopartisan.net/trd0616/t460616.html // Wenn jedoch in Zukunft (denn ab 2023 wird dieser Sektor in Frankreich vollständig für private Konkurrenten geöffnet sein) andere, konkurrierende Unternehmen eintreten, dann können diese Unternehmens-Kollektiverträge aushandeln – und müssen dies nach derzeitigem Stand auch tun! -, können darin jedoch für die Lohnabhängigen ungünstigere Regeln vorsehen, als die in der Branche und/oder bei der SNCF gültigen.

Die Verpflichtung einer Tarifbindung, also des bloßen Vorhandenseins der Bestimmungen eines Kollektivvertrags – Verpflichtung, welche die Gewerkschaft CFDT nun als ihren wichtigen Erfolg auf ihre Fahnen schreibt -, garantiert also noch keine guten Rechtspositionen für die Beschäftigten. Jedenfalls nicht bei den Unternehmen, welche künftig mit der SNCF konkurrieren werden. Innerhalb der SNCF dürfte das Kräfteverhältnis nach dreimonatigem zähem Streik hingegen dafür sorgen, dass die Direktion Vorsicht walten lässt...

Offene Fragen

Wie steht es um die Gesamtbilanz der Sozialproteste, unter anderem, aber nicht nur bei der SNCF, in diesem Frühsommer 2018? Es handelt sich um eine Niederlage, jedenfalls was die zentralen (gesellschafts)politischen Anliegen der diesjährigen Protestbewegungen betrifft, und dies in aller Deutlichkeit.

Das wird dem progressiven Lager in näherer Zukunft noch einige Analysen abverlangen. Denn die bislang letzten Versuche französischer Regierungen, auf ähnlich brachiale Weise zu „reformieren“ wie die jetzige, scheiterten nahezu auf der ganzen Linie und ließen diese gegen die Wand fahren. Am 15. November 1995 etwa präsentierte der damalige konservativ-liberale Premierminister Alain Juppé ein Maßnahmenpaket, das unter anderem einen - ungefähr mit der jetzt auf dem Tisch liegenden „Reform“ der SNCF zu vergleichenden – Angriff auf die französische Eisenbahn enthielt. Auch war die Deckelung der staatlichen Gesundheitsausgaben ein Bestandteil des „Reform“pakets, eine Hochschulreform zählte ebenfalls dazu. Nach einem dreiwöchigen Streik nicht allein der Bahnbeschäftigten, sondern aller öffentlichen Dienste (Post, Energiesektor, Nahverkehr) sowie der Studierenden im November/Dezember 1995 musste die damalige Bahnreform ersatzlos zurückgenommen werden. Ein Teil der Umbaumaßnahmen für das Gesundheitswesen wurde beibehalten, jedoch zunächst nur vorsichtig umgesetzt. Alles, was die Regierung Juppé in den kommenden anderthalb Jahren anfasste, misslang ihr: Bei jeder neuen Ankündigung einer größeren „Reform“ folgte ein Aufschrei, und binnen einer Woche war sie vom Tisch. In jener Phase 1996/97 bildete sich ferner eine Massenbewegung aus Solidarität mit den „illegalisierten“ Einwanderern oder Sans papiers, und die Gewerkschaften (vor allem ihr stärkster Dachverband, die CGT) vollzogen genau damals einen Positionswechsel: Hatte die CGT bis dahin und seit den 1970er Jahren „illegale Zuwanderung“ als Quelle einer Gefahr des Sozialdumpings abgelehnt und bekämpft, schrieb sie nun die allgemeine Solidarität und den Kampf für Rechtsgleichheit aller Lohnabhängigen als Gegenmittel gegen ein solches Dumping auf ihre Fahnen. Dies machte einen Unterschied ums Ganze in der gesamtgesellschaftlichen Debatte aus.

Bis zu 150.000 Menschen gleichzeitig demonstrierten allein in Paris im Februar 1997 gegen eine damalige Verschärfung im Ausländerrecht. Von solchen Zuständen lässt sich heute nur träumen – die ebenfalls von vielen Initiativen und NGOs getragene Mobilisierung gegen die drastische Verschärfung vor allem des Asylrechts, die seit April 2018 im französischen Parlament debattiert wird, zog in ihren Hochphasen bis zu 3.000 Menschen bei Kundgebungen an.

Damals, vor gut zwanzig Jahren, schien die gesamte französische Gesellschaft in Gärung zu geraten. Bei Streiks und Arbeitskämpfen besuchten unterschiedliche Berufsgruppen sich gegenseitig: Lehrerinnen und Krankenpfleger kamen frühmorgens an die Bahngeleise, wenn die SNCF-Beschäftigte ihre Streikversammlungen abhielten, Postbedienstete kamen zu den Studierenden. Unterbrochen wurde diese immer breitere Kreise umfassende Mobilisierung durch den Regierungseintritt der Sozialdemokratie infolge der vorgezogenen Parlamentswahlen vom 25. Mai und 1. Juni 1997; Letztere hatte die Regierung Juppé anberaumt, weil sie nicht mehr ein noch aus wusste. Die Sozialdemokratie unter ihrem nunmehrigen Premierminister Lionel Jospin als Spitzenkandidat hatte viele der Forderungen der sozialen Protestbewegungen übernommen – so lange sie sich in der Opposition befand. An der Regierung führte sie die kapitalistischen „Tagesgeschäfte“ weitgehend ungebrochen fort. Entgegen einem vorherigen ausdrücklichen Wahlversprechen privatisierte sie etwa die französische Telekom (heute heißt das nunmehrige Privatunternehmen Orange) noch im Laufe des Jahres 1997.

Dennoch blieb Frankreich aus Sicht von Teilen der europäischen Bourgeoisie ein „Sorgenkind“, denn manche tiefgreifenden regressiven Umwälzungen im Sinne des Kapitals konnten hier nur in kleinen Schritten und mit Bedacht umgesetzt werden. Den Angriff auf den Kündigungsschutz musste die Regierung des Konservativen Dominique de Villepin im April 2006 infolge von Massenprotesten mit drei Millionen Menschen auf der Straße zunächst ersatzlos zurückziehen. Präsident Nicolas Sarkozy schaffte es 2010 zwar, trotz Demonstrationen das Renteneintrittsalter anzuheben. Doch Maßnahmen wie eine Infragestellung des allgemein, d.h. quasi ohne Ausnahmen geltenden gesetzlichen Mindestlohns SMIC – 1994 hatte sich die Regierung von Premierminister Edouard Balladur daran gehörig die Finger verbrannt; vgl. jedoch zu einer Debatte diesbezüglich im Jahr 2015: http://www.trend.infopartisan.net -, von Kollektivvereinbarungen (ungefähre Entsprechung zu den deutschen Tarifverträgen; vgl. Fußnote Nr. 1) oder eine allgemeine Verlängerung der Arbeitszeit (vgl. Fußnote Nr. 2) blieben hingegen lange Jahre hindurch ziemlich heiße Eisen.

Sarkozy verfolgte als Präsident von 2007 bis 2012 zwar einerseits eine ziemliche ähnliche Überwältigungsstrategie - durch viele „Reformen“ schnell und gleichzeitig – wie heute nunmehr Macron. Doch andererseits fiel das Herüberschwappen der „Subprime-Krise“ aus den USA nach Europa in seine Amtszeit, und Sarkozy fürchtete die Reaktionen (vor allem) der CGT, die er folglich zu integrieren und in seine Strategie einzubinden versuchte. Sarkozy war es, unter dem im August 2008 das neue Gesetz zur représentatitivé (entspricht ungefähr dem deutschen Begriff der „Tariffähigkeit“) der Gewerkschaften verabschiedet wurde. Es koppelte deren Vertretungsmacht zum allerersten Mal rechtlich an Einfluss und Wahlergebnisse; faktisch begünstigte es die CGT und wertete diese gegenüber kleineren, eher gelben Gewerkschaften erheblich auf. Dieses Gesetz ging maßgeblich auf den oben erwähnten Präsidentenberater Raymond Soubie zurück.

Auch der als aggressiver Konservativer angetretene Präsident Sarkozy schaffte es aus u.a. diesen und anderen Gründen nicht, Frankreich mit der Brechstange zu „reformieren“, weshalb die Bourgeoisie in den stabilsten EU-Ländern wie Deutschland und den Niederlanden herablassend auf das Land zu blicken begann. Während auch der wirtschaftliche Einfluss Frankreichs sank – 2014 wurde etwa der führende Industriekonzern Alstom verscherbelt, nach einigem Tauziehen zwischen General Electric und Siemens setzte sich dann der US-amerikanische gegen den deutschen Konzern durch -, begannen Repräsentanten der herrschenden Klassen in Europa wie Wolfgang Schäuble, Frankreich nahezu als behandlungsbedürftigen kranken Mann des Kontinents zu betrachten.

Emmanuel Macron scheint es nun zu schaffen, die Schocktherapie zu verabreichen, die in diesen Kreisen als nötig erachtet wird. Und dies sogar, allem Anschein nach, ohne allzu beträchtliche politische Verluste für ihn selbst: Im Juni 2018 erntet er in Umfragen etwa bei YouGov 33 Prozent zustimmende und 54 Prozent ablehnende Wertungen. Er bleibt damit jedoch stabil, obwohl die bisher größte Welle sozialer Proteste im Laufe seiner Amtsperiode im Mai lag. In anderen Erhebungen legt Macron sogar leicht zu, was daran liegt, dass die Wählerschaft des formal in der Opposition stehenden konservativen Blocks ihn stärker unterstützt; vgl. http://www.europe1.fr/. ( Kurz darauf ist Macrons Popularität inzwischen wiederum erneut gesunken, vgl. https://www.bfmtv.com/)

Fakt ist jedenfalls: Das z.T. substanzlos-dümmliche Gefasel von faszinierten deutschen Linken und nicht materialistisch analysierenden, sondern eher romantisch ausgerichteten französischen Linksradikalen vom Typus Julien Coupat, der Mai 2018 werde (aufgrund des fünfzigsten Jahrestages) zum „neuen Mai 1968“, entbehrte jeglicher Grundlage. Nein, es muss beklagt werden, doch die jetzige Situation ist eine völlig andere als die damalige Ausgangslage!, und sie muss gefälligst ordentlich analysiert werden.

Hintergründe

Ein Teil der Antwort auf die offenen Fragen dazu liegt darin, dass in allen Teilen der Gesellschaft die Entsolidarisierung gegenüber früheren Jahren, in denen erfolgreiche soziale Bewegungen stattfanden (wie 1995 und 2006) stark gewachsen ist. Auch 1995 wurde zur Genüge giftige Propaganda etwa über die Bahnbeschäftigten als vermeintlich gegenüber anderen Lohnabhängigen „privilegierte“ Gruppe verbreitet. Nur verfing sie damals in breitesten Kreisen nicht. Hinzu kommt, dass der jugendlich-dynamisch auftretende Macron zumindest einen Bonus für sich reklamieren kann: Anders als etwa Präsident Chirac – dieser hatte Juppé zum Premierminister ernannt und stand hinter ihm – 1995 und danach weist er nicht die Legitimationsschwäche auf, die daraus erwächst, vor und nach den Wahlen jeweils gegenteilige Dinge zu erzählen. Jacques Chirac war am Ende von vierzehn Jahren sozialdemokratischer Präsidentschaft François Mitterrands, die die etablierte Regierungslinke vorübergehend restlos diskreditiert hatte, als Kandidat um seine Nachfolge angetreten. Wählen ließ er sich jedoch faktisch mit einem weitgehend sozialdemokratischen Wahlkampfdiskurs, in dem Bemühen, die Lücke aufzufüllen, welche der damals bereits kriselnde Parti Socialiste (PS) hinterlassen hatte. Vier Monate nach seiner Wahl, also kurz nach der Sommerpause, setzte er sich im September 1995 ins französische Fernsehen und verkündete folgende Botschaft: Tut mir leid, Leute, aber eine von mir angeordnete Bilanz der Staatsfinanzen zeigt, dass ich die Probleme unterschätzt hatte. Aus dem angekündigten Politikwechsel wird leider nichts werden – und tschüs dann, danke für Ihre Aufmerksamkeit. Solcherart Verschaukelung, wie sie in breiten Kreisen angesehen wurde, kam nicht gut an.

Emmanuel Macron kann sich zugute halten, bereits vor den Wahlen im Frühjahr 2017 das meiste von dem, was er heute tut, auch so oder ähnlich angekündigt zu haben. (Dies gilt allerdings nicht für die SNCF-Reform; für die übrigen Maßnahmen ja.) Gewählt wurde er dennoch; funktioniert hat dies nur aus zwei Gründen.

Erstens, weil die Sozialdemokratie unter François Hollande sich bei dem Versuch, die von Schäuble und Anderen geforderten „Sanierungsmaßnahmen“ in Angriff zu nehmen und insbesondere das Arbeitsrecht zu „reformieren“ (Gesetz vom 08. August 2016), vollends in den Abgrund befördert hat. In total zerfleddertem Zustand erreichte sie bei den Präsidentschaftswahl noch lächerliche 6 Prozent und drohte, droht immer noch damit, ungefähr zu enden wie die PASOK in Griechenland. - Allerdings steht der Linkssozialist Jean-Luc Mélenchon währenddessen in den Startlöchern, um eine neue Sozialdemokratie an ihre Stelle zu setzen, geht dabei allerdings auf einen immer stärker linksnationalistischen Kurs, bis zur jüngst erfolgten Ausrufung eines „französischen indépendantisme (Unabhängigkeitsdenken)“ als neuem Konzept. Und auch dies zählt zu den Problemen, mit denen die sozialen Bewegungen in Frankreich derzeit konfrontiert sind, denn seit dem Spätsommer 2017 tritt Mélenchon – mittlerweile durchaus in Konfrontation mit den Gewerkschaftsvorständen der CGT – hin und wieder unverblümt mit dem Anspruch auf, sich an deren Spitze zu setzen und den Organisator von Demonstrationen zu spielen. Stichwort 23. September 2017, Stichwort (mit etwa komplexerer Vorgeschichte) 05.05.2018.

Zum Zweiten stand aus ebendiesem Grunde (also aufgrund der Totalpleite der Regierungssozialdemokratie der Jahre 2012-2017) Emmanuel Macron in der Stichwahl, nach der Niederlage der Altparteien auf sozialdemokratischer und konservativer Seite, allein der Neofaschistin Marine Le Pen gegenüber. In linken wie bürgerlichen Kreisen erschien er gegenüber der absolut unwählbaren Rechtsextremen dadurch automatisch als das kleinere Übel. Relativ „reinen Wein“ einzuschenken, was seine sozialpolitischen Vorhaben betrifft, kostete ihm deswegen bei den Wähler/inne/n doch nicht den Sieg.

Negativ zu Buche schlägt aber auch die (pseudo-)linksradikale bzw. linksradikalistische Ausrichtung eines Teils des Protestspektrums in diesem Frühjahr 2018, und auch hier spielen romantisch verklärte politische Vollidioten wie der oben erwähnte Revolutionslyriker Julien Coupat eine gewisse Rolle.

Ein Teil des als „autonom“ bezeichneten Spektrums in Frankreich ähnelt dabei eher jenem, das man noch in den 1980er Jahren in Westdeutschland eher als „Antiimp-Spektrum“ bezeichnet hätte. So wurde am diesjährigen 1. Mai in Paris ein riesiges Graffity mit roter Farbe auf einem Gebäude gezeichnet, das folgende Inschrift trug: Holger, la lutte continue! (Zu deutsch: „Holger, der Kampf geht weiter!“); mehrere Bilder davon kann der Verf. dieser Zeilen auf Anfrage hin gern zur Verfügung stellen.

Eine Parole, die sich offensichtlich auf die westdeutsche RAF bezieht und nach dem Hungerstreik-Tod von Holger Meins im November 1974 entstand; Rudi Dutscke, damals noch ein Bewegungslinker und noch nicht GRÜNEN-Mitbegründer in Bremen (kurz vor seinem Tod 1979), rief selbige am offenen Grab von Holger Meins aus. Im damaligen Kontext bezog sich sicherlich auf gemeinsame Kampfziele aus der 1968er Ära und nicht auf die konkreten Kampfmethoden oder -strategien der RAF, die bereits mindestens von gigantischer Selbstüberschätzung geprägt waren. Nachdem die verbindende Klammer aller Fraktionen und Segmente der früheren 68er Bewegung – aus denen auch die Gründer/innen/generation der RAF hervorging – verschwand, konnte die Parole jedoch zu einem späteren Zeitpunkt nur noch als Affirmation der Ziele der RAF aufgefasst werden. Der Rest der Linken zog seiner Wege, die oftmals.. nach rechts ins bürgerliche Lager führten wie bei den GRÜNEN, und Hermann L. Gremliza formulierte später einmal (in einem seiner Editoriale) deren Devise sarkastisch-zynisch um in: „Holger, der Mampf geht weiter!“

Jedoch: Einen solchen Slogan am Rande einer 1. Mai-Demonstration in Paris am 1. Mai 2018 zu pinseln, ist in doppelter Hinsicht politisch vollkommen irre. Zum Einen, weil kaum jemand es verstehen dürfte. Zum Zweiten, weil das politische Vorbild RAF definitiv und absolut ausgedient haben sollte, nicht aus moralischen Gründen, sondern aus Gründen der politischen Vernunft. Fakt ist jedoch, dass in Teilen der radikalen Linken in Frankreich derzeit die Versuchung wächst, zwar nicht Mittel menschentötender Gewalt einzusetzen wie weiland die RAF, aber dennoch Methoden einer strategisch fragwürdigen (von realen Massenbewegungen, weitestgehend entkoppelten) Kleingruppengewalt zu befürworten. Dies fand etwa in den zwölf Einschüssen mit scharfer Munition, die an einem Wochenende im Mai 2016 auf den regionalen Sitz der damals regierenden französischen Sozialdemokratie abgegeben wurden, einen sinnfälligen Ausdruck. / Vgl. https://www.francebleu.fr/ Weitere Beispiele ließen sich leicht anführen.

Zu großspurige o. großsprecherische Ankündigungen seitens der sozialen Protestkräfte – in Augenblicken, in denen das gesellschaftliche Kräfteverhältnis nicht günstig ausfiel – kommen als weitere Ursache mutmaßlich noch hinzu. Mit ihnen untergrub/untergräbt eine Protestbewegung, die zwar eine gewisse Dynamik aufweist, jedoch hinter ihren eigenen Ankündigung erkennbar zurückbleibt, ihre Glaubwürdigkeit. Das mitunter großkotzige, breitbeinige Auftreten eines Jean-Luc Mélenchon trägt dazu seinen Teil bei.

Zwei aktuelle Beispiele: Am 26. Mai 2018 wurde die Pariser Protestdemonstration an jenem Tag gegen die Politik Macrons (zu ihr riefen sowohl die Gewerkschaftsvorstände, namentlich der CGT, als auch Mélenchon und seine Partei erstmals gemeinsam auf) unter dem Motto marée populaire angekündigt. Also sinngemäß ungefähr: „Menschenflut aus den sozialen Unterklassen“ (la marée bedeutet so viel wie „die Flut“, und das Adjektiv populaire bezieht sich auf peuple im Sinne eines Bündnisses der unteren gesellschaftlichen Klassen – sicherlich nicht im Sinne des unseligen deutschen „Volks“begriffs). Nur, wenn man eine „Volxflut“ oder „Menschenflut“ ankündigt und dann rund 50.000 Menschen kommen, dann kommt man nicht umhin festzustellen, dass dies zwar eine mittelgroße linke Demo darstellt – dass die Metapher von der „Menschenflut“ für ein solch mittelprächtiges Ereignis aber doch um einige Nummern zu groß gewählt wurde. Die bürgerlichen Gegenspieler des sozialen Protestlagers hatten daraufhin leichtes Spiel, zu höhnen und zu spotten, die Flut seit in diesem Frühjahr aber niedrig geblieben, der Wasserstand falle ziemlich tief dafür aus usw. / vgl. http://www.lefigaro.fr/ /; und für diese Aussage auch unschwer linke Kronzeug/inn/en aufzutreiben (vgl. http://www.lefigaro.fr ). Hätte man bei der Wortwahl nicht derart hoch gegriffen, dann hätte man den Spöttern auch keine solch guten Argumente geliefert..

Und, zum Zweiten: Ähnlich verhält es sich, wenn man einen „Tag (ganz) ohne Züge“ ankündigt (vgl. https://www.ledauphine.comund https://societe.aufeminin.com ), weil man einem bereits an Dynamik verlierenden Bahnstreik nochmals zu Power verhelfen möchte – die beiden „Tage ohne Eisenbahner/ohne Züge“ am 14. Mai und am 12. Juni sollten auch die Nichtstreikenden unter den Bahnbeschäftigten punktuell mitziehen -, dann aber auf diesem angekündigten Streikhöhepunkt doch die Mehrheit der Züge verkehrt. Real fuhren an diesem „Tag ohne Züge“ vom 12.06.18 rund sechzig Prozent der Hochgeschwindigkeitszüge (TGV) und 40 bis 50 Prozent der Regionalzüge; vgl. https://www.lanouvellerepublique.fr

Ein vorläufiges Fazit:

Eine sehr vorläufige Schlussbilanz? Alles in allem zeichneten sich das soziale Protestfrühjahr und der –frühsommer 2018 durch eine starke Uneinheitlichkeit und Ungleichzeitigkeit aus. Die studentische und universitäre Protestbewegung blieb an den Hochschulen insgesamt minoritär, wies jedoch zeitweilig einige starke Hochburgen auf. Der anvisierte Brückenschlag zu den derzeitigen Oberschüler/inne/n, welche künftig ganz konkret von der 2018 neu eingeführten Auslese beim Hochschulzugang betroffen sein werden, funktioniert nicht: An den Schulen fand faktisch keine Mobilisierung in nennenswerter Breite statt. Vielmehr versuchten die Angehörigen der augenblicklichen Abiturklasse, sich ihre Chancen zum Hochschulstudium nicht restlos zu verderben, da nämlich zu den neuen Kriterium der Studienbefähigung (neben Abiturnoten) auch „die Bewertung durch den Klassenlehrer“ sowie „...durch den Schuldirektor“ einbezogen werden. Die Eisenbahner/innen führten einen starken und lang andauernden Streik, dem es jedoch an Unterstützung von außen erkennbar mangelte, trotz Solidaritäts-Spendensammlung für die Streikkassen (eine Million Euro bis Anfang Mai d.J., jedoch bei insgesamt 146.000 Bahnbeschäftigten, von denen sicherlich ein Drittel irgendwann mitstreikte). Die Gewerkschaften, etwa die CFDT-Eisenbahner, legten in ihren Zentralen eine Art bürokratischen Aktivismus an den Tag. Mitunter fehlten sie durch zu großmäulig wirkende Ankündigungen; auch durch mangelnde Einheit untereinander. Dass die „Kompromiss“freudigkeit etwa auf Seiten der CFDT in nicht günstiger Weise hinzu tritt, versteht sich dann wohl beinahe von selbst...

Fußnoten

1 Was Kollektivverträge im inzwischen „reformierten“ französischen Arbeitsrecht betrifft, so schafft das nach fünfmonatigen Auseinandersetzungen am 08.08.2016 in Kraft getretene „Arbeitsgesetz“ (die Loi travail oder auch Loi El Khomri, benannt nach der damaligen sozialdemokratischen Arbeitsministerin Myriam El Khomri) die Möglichkeit zur Abweichung nach unten durch Vereinbarungen im einzelnen Betrieb oder Unternehmen. Diese können auf zahlreichen Gebieten für die Lohnabhängigen ungünstigere Rechtspositionen als die Branchen-Kollektiverträge enthalten, u.a. „um Arbeitsplätze zu schaffen oder zu erhalten“ oder um „die Arbeitszeit den betrieblichen Erfordernissen anzupassen“.

2 Zum Thema Arbeitszeitfrage / Arbeitszeitpolitik in Frankreich :

Am 13. Juni 2018 jährte sich zum zwanzigsten Mal die erste Stufe der Einführung der 35-Stunden-Woche in Frankreich, welche jedoch erst mit dem Gesetz vom 19.01.2000 verbindlich wurde. Allerdings bezogen auf eine jährliche Durchschnittsarbeitzeit. Längere Arbeitswochen innerhalb eines Ausgleichzeitsraums, der damals bis zu einem Jahr betrug - seit der in Fußnote Nr. 1 genannten „Reform" von 2016 jetzt sogar bis zu drei Jahre - waren im Zuge dieser sozialdemokratischen Refiom immer möglich ; darüber hinaus zusätzlich abzuleistende (jedoch mit Zuschlag zu zahlende) Überschläge ebenso. Kritik an diesem Gesetz war grundsÄtzlich möglich und nötig. Dennoch wies Frankreich, wo die real abgeleistete Arbeitszeit (2017) im Durchschnitt bei 39 Stunden wöchentlich lag, laut Eurostat immer noch die zweitkürzeste Arbeitszeit innerhalb der EU auf, hinter den Niederlanden.

Editorischer Hinweise

Wir erhielten die Einschätzung vom Autor für diese Ausgabe.

Zum Thema siehe auch Bernard Schmids Berichte
         in den TREND-Ausgaben:
04/2018 und 5-6/2018