War die Sowjetunion „staatskapitalistisch“ und „sozialimperialistisch“?

von Thanasis Spanidis

07/2018

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung: In dieser Ausgabe veröffentlichten wir am 2.Juli die Gründungsdokumente der Kommunistischen Organisation (KO). Zu diesem Gründungsprozess gehört auch die Abklärung von Grundsatzfragen. Und bei der Herkunft der KO-Gründer*innen aus der DKP ist es nur folgerichtig, dass sie ihr bisher verklärtes Verhältnis zur Sowjetunion und zu den anderen staatskapitalistisch deformierten sozialistischen Staaten selbstkritisch hinterfragen. Spanidis sehr komprimierte Abhandlung dieses komplexen Themas arbeitet sich exemplarisch an zwei politischen Richtungen ab, der trotzkistischen und maoistischen Kritik an der SU. Leider wird die alte apologetische DKP-Position nicht überwunden, wenn es nämlich am Schluß des Aufsatzes heißt, dass sowohl die trotzistische als auch maoistische Kritik an der SU "nichts mit der historischen Realität zu tun haben" und eine solche Kritik "dem ersten und wichtigsten proletarischen Staat der Geschichte die kritische Solidarität entzieht und sich in die bequeme Haltung zurückzieht, den sowjetischen Sozialismus nicht mehr gegen seine Feinde verteidigen zu müssen."
Wer einen umfassenderen und tieferen Zugang zum Thema "Staatskapitalismus und Sowjetunion" sucht, findet dazu etliche weiterführende Schriften in älteren TREND-Ausgaben. / red. trend

Einleitung

Über 70 Jahre lang war die Existenz der UdSSR eine der entscheidenden Rahmenbedingungen der Weltpolitik, d.h. des Klassenkampfes auf internationaler und nationaler Ebene und der Politik der kommunistischen Parteien. Die Zerschlagung der Sowjetunion und der mit ihr verbündeten Staaten ab 1989 kam sowohl für die Kommunisten, als auch für die westlichen Imperialisten unerwartet und stürzte die kommunistische Bewegung in eine tiefe Krise, von der sie erst begonnen hat, sich zu erholen. Bis heute ist die Frage, wie die Sowjetunion einzuschätzen ist, ob sie zu verteidigen oder gar zu bekämpfen ist, eine zentrale Frage für die kommunistische Bewegung. Für diese Frage ist wiederum entscheidend, ob die Sowjetunion als sozialistischer Staat oder im Wesentlichen als eine Variante des Kapitalismus und Imperialismus verstanden werden muss. Während manche trotzkistische Strömungen schon in der Zeit nach Trotzkis Tod begannen, die Sowjetunion als „staatskapitalistisch“ zu bezeichnen, übernahmen die KP Chinas und die Partei der Arbeit Albaniens in den 1960ern die Auffassung, dass sich in der UdSSR nach dem 20. Parteitag 1956 ein Kapitalismus unter einer neuen Bourgeoisie herausgebildet habe. Als Belege dafür sehen sie die Dominanz bestimmter revisionistischer Auffassungen in der KPdSU ab 1956 und insbesondere die Kossygin-Reform von 1965, die nach ihrer Auffassung endgültig den Kapitalismus wieder eingeführt habe. Der Großteil der kommunistischen Weltbewegung, darunter in der BRD die KPD und später die DKP, hielt dagegen weiterhin daran fest, dass in der UdSSR, der DDR und den anderen Staaten, die sich selbst als „real existierender Sozialismus“ bezeichneten, tatsächlich weiterhin der Sozialismus aufgebaut wurde. Diese völlig gegensätzlichen Standpunkte sollen hier wissenschaftlich untersucht werden.

Dabei wird sich die Analyse hier auf die Sowjetunion beschränken. Es gab zu verschiedenen Zeitpunkten in nahezu allen Staaten mit sozialistischem Selbstverständnis marktorientierte Wirtschaftsreformen: In Ungarn, der VR Polen, der ČSSR, der DDR, Kuba, Nordkorea, Vietnam, der VR China, in Jugoslawien. Ob und wann diese den Kapitalismus wieder einführten, oder dazu geführt hätten, wenn sie nicht abgebrochen worden wären (wie z.B. in der ČSSR 1968), muss konkret untersucht werden. Das würde hier den Rahmen bei Weitem sprengen. Eine Einschätzung zu den Produktionsverhältnissen in der heutigen VR China hat der Autor bereits an anderer Stelle geleistet (Spanidis 2017), aber natürlich muss auch dazu die Analyse vertieft werden. Die Sowjetunion war jedenfalls der erste, der größte, ökonomisch und militärisch stärkste der Staaten, die nach eigenem Anspruch den Sozialismus aufbauten. Von ihrer Entwicklung war die Entwicklung in den meisten anderen Ländern des „real existierenden Sozialismus“ abhängig.

Zweitens wird sich die Analyse hier auf die zweite Variante der „Staatskapitalismusthese“ konzentrieren, wonach der Übergang vom Sozialismus zum Kapitalismus auf den 20. Parteitag 1956 datiert wird. Denn sofern gezeigt werden kann, dass die Sowjetunion auch nach 1956 und bis in die 1980er noch sozialistisch und nicht staatskapitalistisch war, dann dürfte dies erst recht für die Zeitspanne vor 1956 gelten, während derer die Planwirtschaft in der Sowjetunion aufgebaut wurde und weitgehend ohne Marktelemente auskam.

Dieser Text ist natürlich nicht der erste, der versucht, diese Frage zu beantworten. In besonderem Maße stützt er sich auf die Untersuchungen und das gesammelte Datenmaterial von Albert Szymanski (1979), der ebenfalls die sowjetischen Verhältnisse im Detail analysierte und zu dem Schluss kam, dass in der Sowjetunion weiterhin der Sozialismus vorherrschte. Außerdem werden die Argumente einiger Vertreter der „Staatskapitalismusthese“ (ab hier SKT) und der darauf aufbauenden „Sozialimperialismusthese“ (SIT) dargestellt und diskutiert. Dazu wird sich die Untersuchung vor allem auf westliche akademische, also bürgerliche Quellen zur Sowjetunion stützen, bei denen davon ausgegangen werden kann, dass sie der Sowjetunion und dem Kommunismus allgemein nicht sympathisch gegenüberstehen. Nach einer Vorstellung der SKT und SIT werden zuerst die ökonomischen Veränderungen in der Sowjetunion nach dem 20. Parteitag der KPdSU untersucht; dann die Frage beantwortet, ob die Sowjetunion kapitalistisch war; dann, ob die Behauptungen der SIT zutreffend sind; dann, ob in der Sowjetunion die demokratische Arbeiterkontrolle abgeschafft wurde und schließlich, welche Produktionsweise in der Sowjetunion nach 1956 herrschte.


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Quelle: https://kommunistische.org/