Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich
Krise der bürgerlichen Rechten tritt in ein akutes Stadium
Zerrieben zwischen den beiden Siegern bei der Europaparlamentswahl 2019: dem wirtschaftsliberalen Macron-Zentrum und dem französischen Neofaschismus

07/2019

trend
onlinezeitung

Der eine schaufelte das Grab, der andere nagelte den Sarg zu: Auf diese eher despektierliche Weise beschrieb der frühere französische Staatspräsident Nicolas Sarkozy Anfang Juni das Wirken seiner Parteifreunde François Fillon und Laurent Wauquiez. Je schlechter die Lage der Partei aussieht, desto tiefer fliegen, wieder einmal, die Komplimente.

Der Erstgenannte – der Mann mit der Schaufel – kandidierte im Frühjahr 2017 für Nicolas Sarkozys frühere UMP, die seit 2015 auf den Parteinamen Les Républicains (LR) hört, zu den französischen Präsidentschaftswahlen. Eine Serie von Enthüllungen über seine Korruptions- und Selbstbedienungspraktiken sorgte dafür, dass der zu Anfang des Wahlkampfs zu fast 100 Prozent sicher geglaubte Wahlsieg den Konservativen doch noch entglitt. Der zweitgenannte Politiker hatte nach der Niederlage den Parteivorsitz übernommen, den er bis in der Woche nach den diesjährigen Europaparlamentswahlen innehatte.

Diese Wahl zum Europäischen Parlament brachte tatsächlich eine Niederlage unerhörten Ausmaßes für die konservative Rechten in Frankreich mit sich. Noch vor zwei Jahren war Fillon mit knapp über zwanzig Prozent der Stimmen, obwohl Wahlverlierer und nur auf dem dritten Platz bei der Präsidentschaftswahl gelandet, mit einem blauen Auge davon gekommen. Anders ging es dieses Mal aus.

8,5 Prozent der Stimmen (exakt waren es 8,48 %): Auf einem solch tiefen Niveau hatten die zahlreichen Vorgängerparteien von LR – sei es die UNR unter Charles de Gaulle, die UDR unter seinen Nachfolgern, dann der RPR unter Jacques Chirac oder später die UMP unter Chirac & Nicolas Sarkozy – definitiv noch nie abgeschnitten. Eingekeilt zwischen zwei gierigen Konkurrenten, dem neofaschistischen Rassemblement national (RN, „Nationale Sammlung“; so lautet seit dem 01. Juni 2018 der neue Name des früheren Front National) mit 23,34 Prozent auf ihrer Rechten und der wirtschaftsliberalen Regierungspartei LREM mit 22,42 Prozent zu ihrer Linken, waren die Konservativen wahrhaft zerrieben worden.

Zum ersten Mal seit Jahrzehnten wählte etwa eine Mehrheit der gläubigen und praktizierenden Katholiken, d.h. v.a. regelmäßigen Kirchgänger/innen in Frankreich dieses Mal nicht konservativ. Deren Parteien hatten bislang, obwohl sie seit dem Gaullismus nicht offen konfessionsgebunden auftraten, stets das konfessionell geprägte katholisch-reaktionäre Stimmenpotenzial auf sich gezogen. Zum ersten Mal ging dieses Publikum jedoch bei der diesjährigen EU-Wahl fremd und stimmte mehrheitlich für LREM // vgl. http://www.lefigaro.fr/f//- obwohl man doch hätte vermuten können, dass es diese Partei entweder als seelenlos-technokratisch oder als zu multikulturell im Auftreten wahrnehmen würde.

Dabei hatte die Partei LR sich doch alle Mühe gegeben, für dieses Publikum attraktiv zu erscheinen. Vielleicht hatte sie aber auch zu dick aufgetragen. Als ihr Spitzenkandidat trat der 33jährige Philosophielehrer François-Xavier Bellamy auf, ein Abtreibungsgegner, der unter anderem die Protestbewegung gegen die Öffnung der Ehe für homosexuelle Paare in den Jahren 2012 bis 2014 durchlief. In deren Reihen hatte viele Karrieren derzeitiger konservativer Jungpolitiker einen Schub erfahren. Im Hinblick auf „familiäre Werte“ trat Bellamy damit zum Teil reaktionärer auf als Marine Le Pen, die ihrer vormals überwiegend ultrakatholischen Partei eine antiklerikale Note gegeben hat. Bellamy sprach sich zugleich vernehmbar gegen den damals diskutierten Ausschluss der FIDESZ-Partei des ungarischen Regierungschefs Viktor Orban aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) aus.

Es hat seiner Partei nichts genutzt, da ihre Wähler/innen sich entweder für das – global betrachtet – doch insgesamt rechtere „Original“ entschieden oder aber für die wirtschaftspolitische „Vernunft“, also für die Stabilität des kapitalistischen Gesamtgefüges. In den Reihen von LR passten beide, rechter „Identitäts“diskurs und kapitalistische Realpolitik, nicht mehr auf glaubwürdige Weise zusammen. Christian Jacob, Chef ihrer Parlamentsfraktion seit 2010, hatte etwa kurz nach seinem Amtsantritt in dieser Funktion den damaligen sozialdemokratischen Putativ-Präsidentschaftskandidaten sowie IWF-Direktor Dominique Strauss-Kahn mit völkendeln Untertönen öffentlich dafür gescholten, er stehe für eine Identität ohne „Wurzeln“ und fühle sich am Potomac-River – in den USA – eher zu Hause als am Oberlauf der Loire. // Vgl. http://www.lefigaro.fr ; und bereits einige Wochen zuvor : http://www.lefigaro.fr// So weit zum rechten Grundklang. Zugleich betrieb die damals regierende UMP eine strikt neoliberale Realpolitik in Sachen Wirtschaftskurs, eine Politik im Zeichen eiskalten Egoismus ohne völkische und sonstige ideologische („tröstende“) Bande. Beide passten auf Dauer nicht zusammen.

Eine halbe Woche nach der jüngsten herben Wahlniederlage der Partei LR musste Wauquiez als Parteichef seinen Hut nehmen. In seiner zweijährigen Amtszeit hatte er unter anderem eine Lobby von Abtreibungs- und Homosexuellenehen-Gegnern erstarken lassen. Als gewichtigster Politiker kandidiert im Augenblick Christian Jacob für seine Nachfolge, der nächste Parteichef wird am 12./13. sowie 19. und 20. Oktober d.J. durch die Mitgliedschaft gewählt. Eventuell werden sich noch ein paar mindestens mittelgewichtige Kandidaten künftig aus der Deckung trauen.

Viele Prominente aus den Reihen von LR fingen unterdessen an, sich „außerhalb“ umzusehen. 72 Bürgermeister und regionale Barone sprachen sich in einem Aufruf für die Unterstützung von Emmanuel Macron und kehrten dadurch LR als derzeit, jedenfalls im Parlament stärkster Oppositionspartei faktisch den Rücken. Valérie Pécresse, als Regionalpräsidentin der Hauptstadtregion Ile-de-France verfügt sie über ein gewisses politisches Gewicht in der Partei, verkündete, LR sei eine überholte Formation und ein Hindernis für die Begründung eines „modernen Konservativismus“. In der Nationalversammlung deutete sich die Gründung einer Abspaltung von der LR-Fraktion an.

Die Mehrheit der Prominenten scheint es eher in das Macron-Lager zu ziehen. Doch die nächsten frankreichweiten Wahlen werden im kommenden Frühjahr ( März 2020 ) die Kommunalwahlen sein. Dann wird sich abzeichnen, wie viele Mitglieder oder auch Wähler/innen es stattdessen zum RN zieht. Am 16. Juni 19 wandte sich Marine Le Pen in einer Rede in La Rochelle gezielt an die Mandatsträger des LR, die sich „nicht in die Armee von Emmanuel Macron einreihen möchten“. Unterdessen will der frühere Minister Nicolas Sarkozys und nunmehrige frischgebackene Europaparlamentarier des RN, Thierry Mariani, seine 2010 innerhalb der Konservativen gegründete Rechtsaußenplattform La Droite populaire (ungefähr: „Den kleinen Leuten verpflichtete Rechte“) wiederbeleben – dieses Mal jedoch als Satellitenorganisation des RN.

Auch dieser freut sich, ähnlich wie das Macron-Lager, über die Polarisierung, die den bisherigen konservativen Block zwischen diesen beiden Polen betreibt. Aus Sicht des RN wird es keine Links-Rechts-Spaltung in der politischen Landschaft mehr geben, sondern eine zwischen „Globalisten“ – die Macron-Anhänger würden es „weltoffene Kräfte“ nennen – einerseits und Nationalisten andererseits. Auch die Wirtschaftsliberalen unter Macron sehen es ähnlich und sehe „offene Gesellschaft“ versus „nationale Abschottung“ als den neuen Hauptgegensatz. Beide wollen dabei weder frühere Partei- noch, erst recht nicht, Klassengrenzen gelten lassen.

Gesamtüberblick : Rechtsextreme Parteien & die EU-Parlamentswahl 2019

Über Frankreich hinaus bietet die extreme Rechte in den Ländern der Europäischen Union insgesamt ein zerklüftetes Bild nach den jüngsten Europaparlamentswahlen, welche (je nach Mitgliedsstaat) zwischen dem 23. und dem 26. Mai 2019 stattfanden. Zu ihrer Auswertung kann zusätzlich noch die (nationale) Parlamentswahl in Dänemark vom 05. Juni 19 hinzugezogen werden, die insofern interessant ist, als – erstens – die rechtsextreme „Dänische Volkspartei“ zu den großen Gewinnerinnen der EU-Parlamentswahl 2014 zählte, damals mit 26,6 % der dänischen Stimmen, doch zu den Verliererinnen der EU-Parlamentswahl 2019 gehört, und zum Zweiten, weil die extreme Rechte in Dänemark lange Jahre hindurch Teil der Parlamentsmehrheit in Kopenhagen war.

Zum Gesamtbild: Einige der rechtsextremen Parteien in EU-Ländern gehen erheblich gestärkt aus der jüngsten Europaparlamentswahl hervor. Dies gilt insbesondere für die Lega (bis 2017 noch: Lega Nord) in Italien, die mit 34,3 Prozent der abgegebenen italienischen Stimmen einen Zugewinn von + 28,1 % gegenüber der vorausgehenden EU-Parlamentswahl von 2014 verzeichnet. Gegenüber der italienischen Parlamentswahl vom 04. März 2018, die ihr die Tür zur Regierungsbeteiligung in Rom öffnete, verdoppelt die rechtsextreme Partei unter Anführung des jetzigen Innenministers Matteo Salvini ihren Stimmenanteil.

Andere rechtsextreme Kräfte bleiben auf einem hohen Stimmensockel, ohne Zugewinne zu verzeichnen. Dies gilt etwa für den bereits oben erwähnten französischen Rassemblement National (RN, „Nationale Sammlung“). Er erhielt 23,3 Prozent der Stimmen, was einen hohen Anteil darstellt, jedoch keinen Zuwachs, jedenfalls nicht auf prozentualer Ebene, da dieselbe Partei bei der EU-Parlamentswahl 2014 in Frankreich bereits 24,7 Prozent der abgegebenen Stimmen einfuhr. Allerdings entspricht das Prozentergebnis in diesem Jahr einer höheren Zahl an Wählerinnen und Wählern, da die Wahlbeteiligung in Frankreich insgesamt erheblich anwuchs (Mai 2014: 42,4 Prozent, dagegen Mai 2019: 50,1 Prozent). Fünf Jahre zuvor stimmten 4,712 Millionen Französinnen und Franzosen für die EU-Wahlliste der Partei von Marine Le Pen, dieses Mal waren es jedoch 5,286 Millionen. Zählt man die Stimmergebnisse für kleinere rechtsnationale Listen hinzu – insbesondere Debout La France („Frankreich, Stehe auf“) von Nicolas Dupont-Aignan oder die FN-Abspaltung Les Patriotes unter Florian Philippot -, kommt man summa summarum auf rund 6,5 Millionen Stimmen.

Verluste hingegen musste die extreme Rechte in Dänemark einfahren. Dort erzielte die „Dänische Volkspartei“ – abgekürzt DF oder DFP – dieses Mal „nur“ noch 10,8 Prozent der dänischen Stimmen bei der Europaparlamentswahl (- 15,8 %), und bei der Parlamentswahl anderthalb Wochen später gar „nur“ noch 8,7 Prozent (gegenüber der vorigen Parlamentswahl im Juni 2015: -12,4 % ). Dieselbe Partei hatte von 2001 bis 2011 und abermals seit 2015 eine konservativ-liberale Rechtsregierung „toleriert“, d.h. ihr im Parlament eine Mehrheit beschafft, ohne selbst Ministerposten im Kabinett zu besetzen. Als „Gegenleistung“ dafür handelte sie drakonische Verschärfungen insbesondere im Ausländer- und Asylrecht heraus: 114 Gesetzesverschärfungen in diesem Bereich wurden von 2015 bis 2019 registriert. Zu den Besonderheiten der dänischen „Ausländerpolitik“ zählte dabei etwa, dass ab 2021 abgelehnte Asylsuchende – oder jedenfalls bestimmte Gruppen unter ihnen – auf einer unbewohnten Insel in der Ostsee, Lindholm, rund 100 Kilometer von Dänemark interniert werden sollten. Dort befand sich bislang ein Zentrum für die Erforschung ansteckender Tierkrankheiten, von Schweinepest bis Tollwut (…Erstere ist für Menschen ungefährlich, die Zweitgenannte keineswegs). Jedenfalls ein Teil der dänischen Wählerschaft stimmte solchen Maßnahmen zu, wie auch in anderen Ländern ein Teil der Bevölkerung applaudiert, wenn „Ausländer“ misshandelt. Seit mindestens zwei Jahren trug auch die dänische Sozialdemokratie, welche das Land nach den Parlamentswahlen vom Juni 2019 künftig für vier Jahre regieren wird, einen wesentlichen Teil dieser Verschärfungen ebenfalls mit. Allerdings soll das Vorhaben der Internierung auf der Insel Lindholm, laut der am 25. Juni 19 bekannt gewordenen Koalitionsvereinbarung zwischen dänischer Sozialdemokratie und drei kleineren Linksparteien, nun aufgegeben werden – das Gros der übrigen Verschärfungen in der Ausländer- & Asylpolitik aus den letzten Jahren jedoch nicht.

Warum also sinkt DF dennoch in der Wählergunst? Zum Einen, weil die bislang regierende konservativ-liberale Rechte es schaffte, sich den „Erfolg“ (wenn man es denn so nennen will) an ihr Revers zu heften. Es war vor allem die zumindest dem Parteinamen zufolge „liberale“ Einwanderungsministerin Inger Stojberg, deren Gesicht in der Öffentlichkeit mit den Verschärfungen assoziiert wurde. Das Profil von DF schien so gegenüber einer sich selbst radikalisierenden Regierungsrechten zu verblassen. Zum Zweiten wurde sie zugleich auf ihrer rechten Flanke durch, auf verbaler Ebene drastischer, unverhohlener und radikaler auftretende Rechtskräfte überholt oder übertroffen. Zwei neue Rechtsparteien traten in Konkurrenz zu DF zur dänischen Parlamentswahl an: Die Nye Bogerlige („Neuen Bürgerlichen“), eine 2016 entstandene Rechtsabspaltung der Konservativen, die nahezu ebenso einwanderungsfeindlich wie DF auftritt, doch wesentlich wirtschaftsliberaler ausgerichtet ist, sowie die offen gewaltaffin auftretende neofaschistische Partei Stram Kurs (Übersetzung unnötig). Letztere wird durch den 37jährigen Anwalt Rasmus Paludan angeführt, welcher in Reden den „ausländischen Feinden“ versprach, ihr Blut werde „die Straßen und Plätze Dänemarks überströmen“. Die „Neuen Bürgerlichen“ schafften es, mit 2,4 Prozent nunmehr vier Parlamentssitze zu erobern, der „Stramme Kurs“ scheiterte dagegen mit 1,8 Prozent an der geltenden Sperrklausel; doch auch wenn er außerparlamentarisch bleibt, konnte er dank vieler Wahlkampfspenden seine Kassen kräftig auffüllen. Der dritte Faktor beim Rückgang von DF wirkt hingegen weitaus sympathischer: Umwelt- und Klimaschutz zählten zu den wahlentscheidenden Themen, und zu ihnen hatten die Rechtsextremen schlichtweg nichts Vernünftiges beizusteuern, was vor allem der jungen Generation auch deutlich auffiel.

In Österreich ist es der bis zum 18. Mai 2019 mitregierenden FPÖ („Freiheitliche Partei Österreichs“) gelungen, trotz des Scheiterns der Regierungskoalition mit der konservativen ÖVP – infolge der Veröffentlichung des mittlerweile berühmten „Ibiza-Videos“ – ausgesprochen glimpflich davon zu kommen. Mit 17,2 % verliert die rechtsextreme Partei nur 2,5 % gegenüber der letzten vergleichbaren Wahl, also der EU-Parlamentswahl von 2014.

Auf nationaler Ebene liegt die FPÖ nach dem Platzen der Regierungskoalition, für welches die Partei maßgeblich verantwortlich zeichnete, bei Abschluss dieses Artikels im Juni 2019 in den Umfragen bei 21 Prozent der Stimmabsichten im Hinblick auf die – infolge der Auflösung des Parlaments und der Ausrufung von Neuwahlen - im September 2019 anstehende Nationalratswahl. Das sind nur zwei Prozentpunkte weniger als in Umfragen im April 2019; damals rangierte die FPÖ bei 23 Prozent, womit sie jedoch im fraglichen Zeitpunkt leichte Verluste verzeichnete, die auf die öffentliche Debatte über ihre Verbindungen zur Identitären Bewegung Österreichs (IBÖ) sowie die Kontakte zwischen dem IBÖ-Chef Martin Sellner und dem Attentäter von Christchurch in Neuseeland vom 15. März d.J., Brenton Tarrant, zurückzuführen waren. Bei der letzten Nationalratswahl vom 15. Oktober 2017 erhielt die FPÖ noch 26,0 % der Stimmen.

Ihr derzeitiges leichtes Abrutschen steht jedoch in keinem Vergleich zu den erdrutschartigen Verlusten, welche die FPÖ im Zuge ihrer nunmehr vorletzten Regierungsbeteiligung (von Februar 2000 bis im Frühjahr 2005 für die Partei, respektive bis Oktober 2006 für die nach dem Rückzug der FPÖ im Kabinett verbleibenden Minister) verzeichnen musste. Damals durchlief sie eine Entwicklung von 26,9 Prozent der abgegebenen Stimmen bei der Nationalratswahl vom 03. Oktober 1999 – welche, nach mehrmonatigen Koalitionsverhandlungen, zu ihrem Regierungseintritt führte – über 10 Prozent bei vorgezogenen Neuwahlen im November 2002, und schließlich zu nur noch 6 Prozent bei der Europaparlamentswahl im Juni 2004. Nichts Vergleichbares widerfährt ihr derzeit. Doch woraus erklärt sich der Unterschied? In den Jahren ihrer Regierungsbeteiligung von 2000 bis 2005 enttäuschte die FPÖ insbesondere viele sozio-ökonomische Erwartungen ihrer vorherigen Wählerinnen und Wähler. Hingegen entschied sich die FPÖ im Wahlkampf 2017 dafür, von vornherein nur wesentlich geringere soziale Versprechungen abzugeben und ein stärker wirtschaftsliberales Profil in Teilbereichen an den Tag zu legen. Die „Enttäuschung“ fällt entsprechend, infolge anders gesteckter Erwartungen, auch geringer aus.

Und zwar enthüllte das „Ibiza-Video“ mehr oder minder mafiöse Praktiken der (zum Zeitpunkt seiner Aufzeichnung, also am 24. Juli 2017, noch nicht mitregierenden doch sich auf eine baldige Regierungsbeteiligung einstellenden) FPÖ. Doch diese Erfahrung prallt offenkundig an ihrer Wählerschaft und ihren Sympathisantinnen sowie Sympathisanten weitgehend ab. Entweder berufen diese sich darauf, die anderen Parteien seien doch „auch nicht besser“, oder sie reden sich gleich auf eine angenommene jüdische Verschwörung bei der Entstehung des Videos heraus. Noch ist unklar, wer das Video mit versteckter Kamera aufgenommen hatte und warum es erst 2019 publik wurde – erste Hintergrundberichte sprechen allerdings davon, interne Streitigkeiten über den außenpolitischen Kurs und Auseinandersetzungen über die, seit mindestens zehn Jahre klar pro-russische und pro-serbische Ausrichtung der Parteiführung (gegen die manche innerparteilichen Kräfte eine eher pro-westliche Kurskorrektur einfordern), stünden damit im Zusammenhang. Eine Mitwirkung nachrichtendienstlicher Akteure dabei ist nicht auszuschließen. Doch die rechtsextreme Wählerschaft verweist ihrerseits auf die – nachgewiesenen, doch mutmaßlich mit dem „Ibiza-Video“ in keinem Zusammenhang stehenden – Manipulationen im Wahlkampf 2017. Damals hatte die österreichische Sozialdemokratie die schlechte Idee, durchsichtige Manöver gegen die FPÖ (etwa durch die Schaffung von Fake-Webseiten) zu starten, mit der noch schlechteren Idee kombiniert, den Auftrag dafür just an einen israelischen Berater zu geben, nämlich an den mittlerweile prominenten Tal Silberstein - ihm also auch die zu erwartenden politischen Auswirkungen im Falle einer Entdeckung solcher Manipulationen aufzuhalsen und aufzubürden. Auf dass die rechtsextreme Wählerschaft sofort aufschreien und imaginäre „jüdische Machenschaften!“ wittern konnte. Dieses Reaktionsmuster wendet der harte Kern der FPÖ-Wählerschaft nun auch auf die „Ibiza-Affäre“ an, obwohl keinerlei Verbindung zwischen ihr und den Vorgängen im Wahlkampf 2017 nachgewiesen wurde.

Manche rechtsextremen Parteien erlebten bei dieser Wahl ihre Ersetzung durch eine andere Kraft innerhalb ihres Spektrums, nachdem es der zuerst erfolgreichen Partei nicht gelungen war, ihr politisch-ideologisches Feld erfolgreich zu bestellen.

Dies widerfuhr der „Partei für die Freiheit“ (PVV) unter Geert Wilders in den Niederlanden, welcher es nicht schaffte, strategische Stärke aus seiner Position als Mehrheitsbeschaffer für eine konservativ-liberale Regierung in den Jahren 2010 bis 12 zu schöpfen. Seine Partei erhält nun nur noch 3,5 Prozent der Stimmen bei der Europaparlamentswahl 2019 und fällt damit aus dem Europaparlament heraus. An ihrer Stelle erntet jedoch das 2016 neu gegründete „Forum für Demokratie“ (FvD) unter Thierry Baudet, eine einwanderungsfeindliche Partei mit stärker wirtschaftsliberaler Ausrichtung, die Früchte mit 11 Prozent der Stimmen. In Belgien hatte die flämisch-nationalistische, konservative Partei N-VA („Neue flämische Allianz“) – eine harte Rechtspartei, die ab Herbst 2014 mit in der belgischen Regierungskoalition hockte – seit Anfang dieses Jahrzehnts die neofaschistische Konkurrenz vom Vlaams Belang (VB) erfolgreich ausgebootet. Doch nun kehrt der VB auf die politische Bühne zurück und holte bei den Europaparlamentswahlen vom 26.05.19 in Flandern 19,1 Prozent, bei der belgischen Parlamentswahl vom selben Tag 18,7 Prozent der Stimmen, das entspricht einem Plus von über zwölf Prozentpunkten.

In Polen und Ungarn stehen die rechtskonservativen, jedoch ideologisch weit in den Bereich der extremen Rechten hinein reichenden Regierungsparteien PIS (45,4 Prozent der polnischen Stimmen) respektive FIDESZ (52,6 % der ungarischen Voten) als deutliche Wahlsieger da. Allerdings werden diese beiden Parteien in der beginnenden Legislaturperiode im Europaparlament nicht in derselben rechtsextremen Fraktion unter dem Namen „Identität und Demokratie“ (ID) sitzen wie etwa der französische RN und die italienische Lega. Vielmehr wird die polnische Regierungspartei weiterhin derselben Fraktion wie die britischen Konservativen angehören, deren Führung nun jedoch die PIS übernimmt. Die FIDESZ möchte bei der „Europäischen Volkspartei“ (EVP) verbleiben, also derselben Fraktion, welcher etwa auch die deutsche CDU/CSU und die französische Partei Les Républicains angehören.

Editorischer Hinweis

Wir erhielten den Artikel vom Autor für diese Ausgabe.