Unternehmen Bourdieu
Franz Schultheis´ Erfahrungsbericht

Buchvorstellung von Richard Albrecht

07/2019

trend
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Die Aufgabe von Soziologie wie die jeder Wissenschaft
ist es, das aufzudecken was verborgen ist.
Pierre Bourdieu (1930-2002)

Der inzwischen etwa 20 Jahre alte Bielefelder transcript Verlag hält sich für einen der führenden wissenschaftlichen Fachverlage im deutschsprachigen Raum. Mit Prof. C. Koppetsch (TU Darmstadt) als Ratgeberin für "politische Linke".[1] Kaum verwunderlich, daß vorwiegend partikular focussierte Sozialwissenschaft mit dominant tertiärem Wirklichkeitsbezug für gutsituierte Mittelstandsclientele herauskommt. Schlicht gesagt: Da gibt´s en masse verdrehte Soziologie aus dritter Hand ...

Umso erstaunlicher im besten Sinn, daß in diesem Fachverlag Franz Schultheis´ Bericht über seine langjährige praktische Zuarbeit für und organisierte Zusammenarbeit mit Bourdieu in dessen sozialwissenschaftlicher Werkstatt erschienen ist. In einem weitgehend auf Begriffsgeplapper verzichtenden lesbaren Bändchen mit zehn Kapiteln (einschließlich sogenannter Primär- und Sekundärliteratur) zwischen Einführung ("Wofür steht der Name Bourdieu?") und Ausblick ("Bilanz. Was bleibt?") geht es um die subjektive Seite der von Bourdieu verkörperten herrschaftskritischen Soziologie und ihrer Theorie, Organisation, Praxis und Wirksamkeit. Der Autor Franz Schultheis (*1953), inzwischen emeritierter Lehrstuhlsoziologe im bodensehnahen St. Gallen[2], verzichtet auf sensationistische Interna und bleibt bei seinen bisherigen Leisten: Bourdieu einem deutschsprachigen Lesepublikum als kultural anregenden, methodisch innovativen Sozialwissenschaftler[3] und engagierten politischen Soziologen[4] zu empfehlen.

Natürlich geht es auch in dieser schmalen Bourdieu-Erinnerung um einen herausragenden Vertreter der Sozialwissenschaften des 20. Jahrhunderts. Der freilich nicht als "singuläres Genie" vorgestellt wird. Sondern der als Patron oder Meister einer Denkströmung und Forschungsrichtung porträtiert wird mit Werken, deren "soziale Möglichkeitsbedingungen ihres Entstehungszusammenhangs" vorgestellt und handlungssoziologisch in einer Doppelrolle als aktiver Organisator und als intensiver individueller Nachtarbeiter begriffen werden. Das erste Feld steht im Zusammenhang mit der von Bourdieu 1975 mitgegründeten Fachzeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales am Pariser Centre de sociologie européenne und nähert sich dem Anspruch von Tätigkeit und Sozialfigur des kollektiven Intellektuellen. Das zweite mögen Bourdieus zahlreiche Bücher und Vorträge aus vor allem drei Feldern und Entwicklungsphasen veranschaulichen: zunächst zur Soziologie des französischen Bildungssystems, seiner Kultur, Leitnormen, Hauptträger mit empirisch erweislichen Ungleichheiten und ihrer Beständigkeit[5]; sodann zu über Soziologie von Kunst, ihrer Symbolik, und Kultur entwickelten erweiterte Formen soziale Kapitals und ihre Bedeutung; schließlich auf Globalität zielenden Studien zum elenden Zustand der Welt [6].

Zu diesen hier nur angedeuteten Entwicklungslinien liefert der Autor, der seit 1989 eng mit Bourdieu zusammenarbeitete und 2004 mit dessen Hilfe habilitiert wurde, soziokulturelles Unterfutter in Form einer petit tour d´horizon. Schultheis greift im Schlußkapitel ein resignatives Eingangszitat vom Bourdieu („Ich bin wohl derjenige, der am beharrlichsten versucht hat, Kollektives zu schaffen und auch am meisten gescheitert ist“) abwägend auf und erinnert trotz aller praktischen Schwierigkeiten ans „Modell der kollektiven Produktion von Wissenschaft.“

Und ich möchte diesen kurzen Beitrag nicht ohne einen speziellen Hinweis schließen: Besonders anschaulich fand ich im fünften Kapitel („Öffentlicher Auftritt“) Schultheis´ dichte Beschreibung eines massenmedial inszenierten Gesprächs zwischen Bourdieu und dem 1999 frisch gekürten Literaturnobelpreisträgers Günter Grass in dessen Haus in Lübeck. Dramaturgisch besonders reizvoll finde ich die Szene mit einem germanojovial-schnauzbärtigen Grass und einem modestfrankophon-schmalen Bourdieu: Im Brecht´schen Sinn[7] könnte es um die Replik einer Grass´sche Antibrecht-Polemik[8] gehen ...
 

Franz Schultheis
Unternehmen Bourdieu
Ein Erfahrungsbericht
 

2019-03-05, 106 Seiten
ISBN: 978-3-8376-4786-0 https://www.transcript-verlag.de

14.99 Euro

Anmerkungen

[1] https://www.ifs.tu-darmstadt.de/?id=3035
https://www.merkur-zeitschrift.de/2018/08/23/soziologiekolumne-eine-welle-der-nostalgie-die-akademische-mittelschicht-und-die-illiberale-gesellschaft/#comments

https://taz.de/Soziologin-ueber-die-urbane-Mittelschicht/!5516398/
https://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-4838-6/die-gesellschaft-des-zorns/

[2] https://www.franzschultheis.ch/cv/; https://www.zu.de/veranstaltungen/2019/franz-schultheis.php

[3] Anstatt weiterer Klaus Eder (Hg.), Klassenlage, Lebensstil und kulturelle Praxis. Beiträge zur Auseinandersetzung mit Pierre Bourdieus Klassentheorie. Frankfurt/Main 1989; Michael Vester, Die Klassenkonzepte von Marx und Bourdieu [2009] http://www.gesellschaft-und-visionen.de/PDF/Vortragsangtebote/Die%20Klassenkonzepte.pdf; H.J. Krysmanski, Soziologische Ausflüge in die Massenkultur - eine Erinnerung an C. Wright Mills aus Anlass des Todes von Pierre Bourdieu; in: Festschrift für Horst Herrmann. Hg. Roland Seim. Münster 2005

[4] Pierre Bourdieu, Prekarität ist überall. In: Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz: Universitätsverlag/UVK, 1998: 96-102; im Netz http://up.vpns1.net/bourdieu.pdf; http://archiv.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/prekaer/bourdieu.pdf; http://www.forschungsnetzwerk.at/downloadpub/bourdieu%20-%20prekaritaet.pdf; Richard Albrecht, Pauper(ismus): Geschichte und Aktualität von ´Neuer Armut´ und ´Arbeitenden Armen´, in: JahrBuch für Forschungen zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 2007/II: 19ff.; ders., Über Armut. Und über Armut hinaus: Ebenda, 2014/II: 153ff.; sowie ders. http://www.labournet.de/wp-content/uploads/2013/10/armut_albrecht.pdf; http://www.trend.infopartisan.net/trd5618/t375618.html

[5] Pierre Bourdieu; Jean-Claude Passeron, Die Illusion der Chancengleichheit. Stuttgart 1971 [französische Buchveröffentlichung 1964]; diese frühe Studie wurde vermutlich wegen der mehrheitssozialdemokratisch-sozialliberalen Reformeuphorie Willy-Willy´scher "Demokratie wagen" von politischen Linken in der damaligen Alt-Bundesrepublik kaum wahrgenommen

[6] Pierre Bourdieu (Hg.), Das Elend der Welt. Konstanz 1997

[7] Bertolt Brecht, 99 % [1938]; als Furcht und Elend des Dritten Reiches (14 Szenen) gedruckt in: ders., Stücke 3. Gesammelte Werke 3. Frankfurt/Main 1967: 1073-1193

[8] Günter Grass, Die Plebejer proben den Aufstand. Ein deutsches Trauerspiel. Neuwied; Berlin 1966

Editorische Hinweise

Dr. Richard Albrecht ist historisch arbeitender Sozialwissenschaftsjournalist. Leitkonzept The Utopian Paradigm (1991). Kolumnist des Linzer Fachmagazins soziologie heute. Autor des Marburger Forum Wissenschaft und der Berliner Netzzeitung trend.infopartisan. Letzte Buchveröffentlichung HELDENTOD. Kurze Texte aus Langen Jahren (Shaker Media 2011).