Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Juristischer Kampf um das Demonstrationsrecht
Auseinandersetzungen bei einer Demo von Gesundheitsbediensteten in Paris und zur mittlerweile berühmten „steinewerfenden Krankenschwester“

07/2020

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Vorabbemerkung: Eine leicht gekürzte Fassung dieses Artikels erschien kurz nach seiner Abfassung am Donnerstag, den 25. Juni 2020 in der Berliner Wochenzeitung Jungle World. Seit dem Erscheinen gehen die Debatten und Auseinandersetzungen um die Mittelausstattung im öffentlichen Gesundheitswesen weiter. Als amtierender Gesundheitsminister stellte Olivier Véran einen Gesamtbetrag von sechs Milliarden Euro für eine Verbesserung der Arbeits- und Lohnbedingungen in dem Sektor in Aussicht. Die Gewerkschaften, jedenfalls die kämpferischen unter ihnen (v.a. CGT und SUD im Gesundheitswesen) und Protestkollektive wie das Collectif inter-hôpitaux und das Collectif inter-urgences, beziffern jedoch die Erfordernisse auf 14 Milliarden Euro und fordern u.a., die in den letzten zwanzig Jahren gestrichenen gut 100.000 (von vormals 500.000) Krankenhausbetten wieder einzurichten und 120.000 Beschäftigte einzustellen. Am Dienstag, den 30. Juni 20 fanden erneute Demonstrationen der Beschäftigten im Gesundheitswesen statt, dieses Mal blieb die Beteiligung jedoch erkennbar hinter jener an den (im unten stehenden Text erwähnten) Demonstrationen vom 16.06.20 zurück. Es scheint, als markiere die soziale Protestmobilisierung seit der Aufhebung der Ausgangsbeschränkungen im Mai dieses Jahres derzeit eher einen Rückgang. (Doch für wie lange? Airbus gab soeben die Streichung von 15.000 Stellen, darunter 5.000 in Frankreich und 5.000 in Deutschland bekannt – selbst die amtierende französische Regierung hält die Zahl für überzogen -, und 100.000 Beschäftigte im Einzel-, vor allem Bekleidungshandel sind akut von „Sozialplänen“ und Stellenstreichungen bedroht…)

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Man glaubte den Kampf ums Versammlungsrecht vorbei, doch nun ging er in eine neue Runde. Zunächst urteile am Samstag, den 13. Juni 20 der französische Conseil d’Etat – also das höchste Verwaltungsgericht im Lande -, knapp zwei Monate nach dem deutschen Verfassungsgericht (im April d.J.), ein allgemeines Versammlungsverbot unter freiem Himmel unter Berufung auf die Bedrohung durch den „neuartigen Coronavirus“ sei nicht rechtskonform.

Zwei Tage später, am Montag letzter Woche (15. Juni 20), schien die Regierung daraufhin der höchstrichterlichen Anordnung nachzukommen und publizierte im Journal officiel – dem Gesetzesanzeiger oder Amtsblatt der französischen Republik – eine neue Regel. Ihr zufolge „kann die Präfektur Versammlungen bis zu 5.000 Personen genehmigen“, wenn deren Veranstalter hinreichende sanitäre Vorkehrungen treffen, etwa in Gestalt von Abstandsgeboten oder einer Verpflichtung zum Maskentragen. Die „Kann-genehmigen-“Bestimmung, die auch über das für den 10. Juli d.J. programmierte Ende des „sanitären Notstands“ hinaus Bestand haben soll, bedeutet jedoch einen radikalen Bruch mit dem bisherigen Demonstrationsrecht. Dieses beruht seit Jahrzehnten auf einer Anmeldepflicht, bei der jedoch Versammlungen und Protestzüge grundsätzlich als erlaubt gelten und nur im Ausnahmefall nachträglich ein, begründetes, Verbot ausgesprochen werden kann. Letzteres unterliegt dann der Kontrolle durch die Verwaltungsgerichte. Die jetzige Regelung kehrt dieses Prinzip jedoch in sein Gegenteil um: Zunächst gilt ein prinzipielles Verbot, danach genehmigt die Verwaltung nach Prüfung der Unterlagen, oder eben auch nicht.

Am vorigen Freitag, den 19. Juni riefen daraufhin mehrere Gewerkschaftsverbände und -zusammenschlüsse wie die CGT, SUD/Solidaires, die FSU, Force Ouvrière (FO) sowie die progressiven Richter/innen- und Anwälte/Anwältinnen-Gewerkschaften SM und SAF gemeinsam erneut den Conseil d’Etat an. Dieser will nun am 29. Juli 20 eine Anhörung über die nähere Zukunft des Demonstrationsrechts abhalten.

Zu ersten „erlaubten“ Demonstrationen kam es vergangene Woche in verschiedenen Bereichen; am Dienstag, den 16.06.20 in mehreren Großstädten im Zusammenhang mit dem Protest von Beschäftigten im Gesundheitswesen sowie am Samstag, den 20. Juni 20 für die Rechte von Sans papiers („illegalisierten“ Einwanderern) und gegen Polizeigewalt. Waren dabei am vorigen Samstag rund fünftausend Personen in Paris unterwegs, die mehrfach unterwegs durch die Polizei blockiert wurden, am Spätnachmittag jedoch an ihr Ziel kamen, so waren es am Dienstag allein in Paris laut behördlichen Abgaben 18.000 Menschen. Zwischen jeweils 3.000 und 7.000 Menschen, laut polizeilichen Zahlen, demonstrierten in weiteren Städten wie bspw. Marseille und Bordeaux. Auf landesweiter Ebene sprach das Innenministerium von 100.000, die Veranstalter/innen der Protestzüge sprachen von 180.000 Teilnehmer/inne/n.

Die öffentliche Meinung unterstützt in weiten Teilen die Angehörigen von Gesundheits- und Pflegeberufen, denen im Frühjahr 2020 monatelang von den Balkonen herunter applaudiert wurde und deren Kampf – mit ein Jahr lang wiederholt stattfindenden Streiks seit März 2019 gegen unzureichende Mittelausstattung in den öffentlichen Krankenhäusern – auch in bürgerlichen Medien immer wieder präsent war. Dennoch gingen andere Berufsgruppen an diesem 16. Juni 20 nur in geringem Ausmaß mit auf die Straße. Am zahlreichsten traf man noch Angehörige von Lehrberufen in der Pariser Demonstration an, neben jungen Linken, Angehörigen des „schwarzen Blocks“ und einigen „Gelbwesten“trägern.

In den klassischen Medien wie auch bei Twitter und Facebook machte die Demonstration vor allem nachträglich Furore, weil Bilder von der spektakulären Festnahme einer 51jährigen Krankenschwester, Farida C., umgingen. Die 1,55 Meter messende Frau wurde durch mehrere hünenhafte Bereitschaftspolizisten umringt, auf den Boden geworfen, an den Händen gefesselt und abtransportiert, während die an Asthma leidende und vor einigen Wochen an Covid19 erkrankte Frau nach ihrem Medikament – Ventoline – rief. Viele Kommentatoren unterstrichen die Brutalität der Polizei, worauf im Laufe des Abends jedoch von anderen Twitterkonten oder in anderen Reportagen beim rund um die Uhr ausstrahlenden Privatfernsehender BFM TV geantwortet wurde, Farida C. habe sich an Würfen auf die Einsatzkräfte beteiligt.

Tatsächlich hat Farida C. eingeräumt, Gegenstände in der Dimension von Kieselsteinen geworfen und zwei „Stinkfinger“ in Richtung Einsatzkräfte gezeigt zu haben. Nach 24stündigem Polizeigewahrsam kam sie frei, muss sich nun jedoch voraussichtlich am 25. September d.J. (lt. Ladungstermin) vor einem Pariser Gericht verantworten. Voraus ging, wie selbst aus den Bildern bei BFM TV klar zu erkennen ist, ein Polizeieinsatz, bei dem Gesundheitsbeschäftigte in weißen Krankenhauskitteln zwischen Angehörige des „schwarzen Blocks“ und die Polizei stellten. Erstere griffen unter anderem einen Demobus für Mitglied einer FO-Krankenschwesterngewerkschaft, den sie wohl für einen Touristenbus hielten, an und stürzten einen PKW mit Behindertenkennzeichnen um. Die Polizei ihrerseits attackierte die Menge mit Tränengas, wovon gerade auch die Menschen zwischen den beiden gewaltsam vorgehenden Akteuren – Polizei und „schwarzer Block“ – in Mitleidenschaft gezogen wurden.

Bemerkenswert ist, wie viel Verständnis relevante Teile der Öffentlichkeit und Gewerkschaften wie die CGT im Krankenhauswesen, trotz Kritik an den Würfen, für die Festgenommene zeigten (jedoch keineswegs für den „schwarzen Block“). Mindestens gilt die Festnahmeaktion gegen Farida C. als absolut „unverhältnismäßig“: viele Kommentare fragen aber auch danach, wie eine über fünfzigjährige, unter Kolleg/inn/en und Patient/inn/en beliebte Fachkraft für Geriatrie „dazu gebracht“ wurde. Farida C. selbst gab in einer Mitteilung an die Medien bekannt, ihr spontaner Zorn an dem Tag habe gar nicht hauptsächlich der Polizei gegangen, sondern „dem Staat und seinem Umgang mit den Gesundheitsbediensteten“.

Vgl. zu ihr (und mit ihrer Stimme) u.a.:

Am 08. Juni dieses Jahres war nach monatelanger Verzögerung das Regierungsdekret bekannt worden, das die Ausschüttung einer Einmalzahlung von 1.500 Euro an die Gesundheitsbediensteten infolge der Corona-Krise regelt. Die Sonderprämie wird jedoch gedeckelt: In 61 von 101 französischen Départements (Verwaltungsbezirken) soll sie nun nur 500 Euro betragen; Krankenhausdirektor/inn/en dürfen sie jedoch aufstocken, aber nur bis zu einer Obergrenze von 40 % ihres jeweiligen Personals. Da versteht man die Lust auf Steinwürfe vielleicht sofort besser…

  • Den Artikel erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe.