Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Nach den Kommunalwahlen
A
uf den Lock-down und den politischen Knock-down für seine Partei folgt eine Regierungsumbildung durch Emmanuel Macron

07/2020

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onlinezeitung

Stand: 04. Juli 2020

Sein Name klingt wie casse-tête (Kopfzerbrechen), doch aus Sicht seines Vorgesetzten – Staatspräsident Emmanuel Macron – ist er der Mann, der es nun richten und die Probleme aus dem Weg räumen soll. Am Freitag mittag (03. Juli 20) ernannte der 42jährige Staatschef überraschend Jean Castex // vgl. https://www.lci.fr //, den 55jährigen Bürgermeister des Pyrenäenstädtchens Prades und früheren Berater seines Vor-Vorgängers Nicolas Sarkozys, zum Premierminister.

Bereits in den letzten Monaten hatte der nunmehrige frischgebackene Regierungschef unter Emmanuel Macron wichtige Funktionen eingenommen: Am 02. April dieses Jahres war er zum Sonderberater für den Umgang mit dem französischen Lock-down (confinement) respektive für das Vorgehen bei dessen progressiver Lockerung (déconfinement) ernannt worden. Damit übte er zeitweise einen richtig heiklen Job aus.

Die öffentliche Meinung scheint den doch im Endeffekt relativ reibungslosen Übergang von dem bis zum 11. Mai d.J. andauernden französischen Lock-down zum „Danach“ zu honorieren. Zwar zeigt sie sich ausgesprochen skeptisch gegenüber den Entscheidungen zu Beginn und während der Corona-Krise, die damals im Elysée-Palast getroffen wurden, und einem Teil des seinerzeitigen Polit-Personals. Dazu zählt die Tatsache, dass sowohl die bis Mitte Februar d.J. amtierende Gesundheitsministerin – Agnès Buzyn – als auch die zum 1. Februar 2020 abgetretene gesundheitspolitische Beraterin von Präsident Macron, Marie Fontanel // vgl. https://www.mediapart.fr/journal/france/050420/l-etonnant-depart-de-la-conseillere-sante-d-emmanuel-macron //, offensichtlich nichts Besseres zu tun hatten, als just beim Auftauchender Pandemie von ihren jeweiligen, nicht ganz unwichtigen Ämtern zurückzutreten.

In beiden Fällen taten sie dies aufgrund vergleichsweise popeliger Kommunalwahlen: Buzyn, um als Spitzenkandidatin der Präsidentenpartei LREM (La République en marche) zur Rathauswahl in Paris anzutreten; und Fontanel, um ihrem Ehemann zu folgen, welcher in Strasbourg kandidierte. Zum Zeitpunkt ihres jeweiligen Abtretens waren die Konturen der Corona-Bedrohung bereits erkennbar. Agnès Buzyn sprach später, Mitte März d.J., in einem Aufsehen erregenden Interview sogar davon, sie habe zum damaligen Zeitpunkt „einen Tsunami auf Frankreich zurollen“ sehen, und sie habe im Übrigen gewusst, dass die Kommunalwahlen „nicht werden stattfinden können“. // Vgl. https://www.lemonde.fr // Dass alle beide dennoch aus vergleichsweise nichtigem Anlass abtraten, wird durch breite Kreise der Öffentlichkeit als Verantwortungslosigkeit aufgefasst.

Kommunalwahl: Auatsch für LREM

Stattgefunden haben sie übrigens doch, ebendiese Kommunalwahlen – die erste Runde wie geplant am 15. März dieses Jahres. Kurz danach wurde der Wahlvorgang abgebrochen, die eine Woche später geplante Stichwahl wurde ausgesetzt. Später wurde bekannt, dass mehrere Leiter von Wahllokalen mit der Lungenkrankheit Covid-19 infiziert wurden. // Vgl. https://www.nouvelobs.com/ // Die zweite Runde fand dann über ein Vierteljahr später statt, am vorigen Sonntag, den 28. Juni d.J.. Buzyn, die nach mehrwöchigem vollständigem Abtauchen ihre Spitzenkandidatur Ende Mai d.J. dann doch wieder bestätigt hatte // vgl. https://www.leparisien.fr/e //, wurde durch die Wählerinnen und Wähler gnadenlos abgestraft // vgl. https://www.lesechos.fr/  // ; und erhielt nur 13,3 %, in einer Stadt, deren soziologische Zusammensetzung das liberale Macron-Lager bislang eher begünstigt hatte. // Vgl. https://www.linternaute.com/ //

Da die Macron-Partei auch im übrigen Frankreich mit einer Ausnahme überall scheiterte – LREM hatte sich als Wahlziel ausgegeben, frankreichweit 10.000 Kommunalverordnete und Bürgermeister in mehreren Städten wählen zu lassen; das öffentlich-rechtliche Fernsehen kam in einer Zählung im Nachhinein auf „693“ Kommunalparlamentarier und so gut wie keine Bürgermeister, vgl. https://www.francetvinfo.fr/ -, zeichnete sich die Notwendigkeit einer Veränderung an der Regierungsspitze ab. (Anm.: Es gibt in Frankreich insgesamt 520.000 Mandate in Kommunalparlamenten - https://actu.orange.fr-, von denen jedoch eine deutliche Mehrheit durch Parteilose oder jedenfalls auf parteilosen Listen gewählte Personen eingenommen werden dürfte, da Frankreich 35.000 mehrheitlich kleine bis sehr kleine Kommunen aufweist und in denen unter 3.500 Einwohner/inne/n die Listen i.d.R. ohne Parteibezeichnung auftreten.)

An eben dieser Regierungsspitze zeigte Premierminister Edouard Philippe (49) gewisse Anzeichen von Ungeduld. Er trat selbst als Spitzenkandidat zum Rathaus von Le Havre an, wo er in der Vergangenheit bereits regierte - diese Stadt bildete dann auch just die eine Ausnahme, bei der das Macron-Lager bei den Kommunalwahlen nicht schmählich scheiterte, anders als in sonstigen größeren Städten. Philippe gewann das Rathaus von Le Havre mit 58,8 % der Stimmen. // Vgl. https://www.paris-normandie.fr/// Da allein die französische KP eine Kandidatur in der Stichwahl gegen ihn aufrecht erhielt – diese Partei regierte die Hafenstadt seit der Nachkriegszeit bis 1995, hat jedoch in dem Vierteljahrhundert seither viel von ihrer früheren Basis eingebüßt -, hatte er auch ein relativ leichtes Spiel. Kurz vor der Stichwahl vom vorigen Sonntag, den 28.06.20 äußerte der damalige Noch-Premier öffentlich, falls er mit einem Wechsel in das normannische Rathaus „schnell gehen“ könne, sei dies aus seiner Sicht wirklich „sehr gut“. // Vgl. https://www.lemonde.fr/ //

Philippe hat vom Regieren in Paris genug

Allem Anschein nach hatte Philippe tendenziell genug davon, das Regierungsschiff durch schwere Wasser zu steuern, dabei durch einen Präsidenten angespornt, dessen Entscheidungen er wohl nicht immer mittrug. So war Macron sehr euphorisch für ein Wiederanfahren der wirtschaftlichen Aktivität mit dem Ende des Lock-down, während Philippe sich, auch unter Betrachtung sanitärer Risiken, da skeptischer zeigte. Dabei honorierte die öffentliche Meinung offenkundig eher die bedächtig wirkende Position von Philippe und die des ihn sekundierenden Technokraten Castex, als die des Staatspräsidenten Macron, bei dem letztlich die politischen Entscheidungen lagen. Wies Emmanuel Macron zu Anfang Mai nur noch Popularitätswerte von gut 30 Prozent auf, die sich mittlerweile – je nach Umfrage - leicht verbesserten, kam Philippe seinerseits auf zwischen rund 40 // vgl. https://www.huffingtonpost.fr // und rund 50 // vgl. https://www.latribune.fr/ // Prozent. (NACHTRÄGLICHer ZUSATZ: Sein Austritt hat der Regierung hat Philippe so sehr politisch genutzt, dass er nun im Laufe des Juli sogar als populärste Persönlichkeit der – etablierten – Politik in Frankreich gilt; vgl. : https://www.bfmtv.com/ )

Wohl auch deswegen versucht Macron nun, trotz des Abgangs des populären, doch aufgrund interner Differenzen und der Ungeduld Edouard Philippes kaum noch zu haltenden bisherigen Premierministers - durch seinen Ersetzung mit Philippes bisherigem Lock-down- bzw. Lockerungs-Beauftragten - doch nach wie vor von ihrer relativen Popularität zu zehren.

Dabei ist Castex nicht nur „Technokrat“ und hoher Beamter, sondern auch Politiker. Unter Nicolas Sarkozy war er 2011/12 ein gutes Jahr lang stellvertretender Generalsekretär im Elysée-Palast, das ist ein Amt, das ungefähr – sehr vergröbernd und im Rahmen eines unterschiedlichen politischen Systems – dem eines Kanzleramtsministers in Deutschland entsprechen könnte. Sein Nachfolger auf diesem Posten, nach dem Wechsel im Präsidialamt von Sarkozy zu François Hollande, hieß übrigens Emmanuel Macron.

Konservativer Anbau ans Regierungsschiff?

Jean Castex ist ausweislich seiner französischen Wikipedia-Seite noch immer Mitglied der stärksten konservativen Partei in Frankreich (bis 2015: UMP, seither: Les Républicains, LR) – der Eintrag dort wurde im Laufe des heutigen Freitag Nachmittag korrigiert, kurz zuvor stand er dort noch als „parteilos“ (sans étiquette), wohl, weil seine Liste zum Rathaus von Prades formal ohne Parteibindung war. Nunmehr stellt sich die Frage umso mehr, die bereits in den Tagen zuvor in der Öffentlichkeit aufgeworfen war, noch bevor die Personalentscheidung zu Gunsten von Castex für das Amt des Regierungschefs bekannt wurde: Werden eventuell hochrangige Mitglieder der konservativen Opposition in die künftige Regierung eintreten? Ihr Fraktionsvorsitzender in der Nationalversammlung, Damien Abad, erklärte dazu bereits am Mittwoch, solche Parteifreunde gegebenenfalls nicht verurteilen zu wollen // vgl. https://www.lefigaro.fr/ //; es handele sich „um eine individuelle Entscheidung“, die sich im Fall der Fälle anscheinend seiner Kritik entzieht.

Nun gilt es die konkrete Zusammensetzung des um- oder neugebildeten Kabinetts zur Stunde noch abzuwarten, doch deuten solche Signale auf eine erkennbare Erweiterung des Macron-Lagers auf den konservativen Flügel hin. Damit würden das, bei der Präsidentschaftskandidatur Emmanuel Macrons 2016/17 sich zunächst im Diskurs und kulturellen Auftreten eher linksliberal gebende, Regierungslager und die Partei LREM endgültig an die konservative Rechte angebunden. Darauf deutet bereits etwa die Soziologie ihrer Wählerschaft in der Hauptstadt Paris hin, die (anders als 2017) im Frühjahr 2020 weitgehend auf eine Komponente der bürgerlichen Rechten zurechtgeschrumpft ist – so lautet jedenfalls eine Analyse der Pariser Abendzeitung Le Monde. // Vgl. https://www.lemonde.fr //

Trutzbündnisse gegen Grüne

Darauf deutet auch die Existenz mehrerer LREM/LR-Bündnisse in einer Reihe von Großstädten hin, die dort vor dem zweiten Durchgang der Kommunalwahlen vom 28. Juni d.J. geschlossen worden waren, um den erwarteten Wahlerfolgen der französischen Grünen bzw. des grün-linksliberalen Bündnissen EE-LV (Europe écologie-Les Verts, seit 1999 bestehend) etwas entgegenzustellen. // Vgl. https://www.nouvelobs.com/// Zwar war zunächst der frühere Lyoner Oberbürgermeister (und Innenminister Emmanuel Macrons zwischen 2017 und 19) Gérard Collomb von LREM ausgeschlossen worden, weil er ein ebensolches Bündnis mit den Konservativen eingegangen war, um die Grünen aufzuhalten. // Vgl. https://www.lefigaro.fr/ // Doch dann tat LREM es ihm kurz darauf in vielen anderen Kommunen nach, u.a. auch in den Großstädten Bordeaux und Strasbourg/Straßburg.

Noch 2017 klang LREM anders und sehr viel „grüner“ sowie linksliberaler; bei der damaligen Vorstellungsveranstaltung des Präsidentschaftskandidaten Emmanuel Macron an der Berliner Humboldt-Universität waren Daniel Cohn-Bendit und Joschka Fischer, nicht zufällig, als prominente Publikumsgäste dabei. // Vgl. https://www.liberation.fr///

Zwar versucht Emmanuel Macron, um nicht als reiner Wirtschaftslobbyist zu wirken, sich auch jetzt etwa zum großen Klima-Redner aufzuschwingen wie am Montag dieser Woche, 29. Juni d.J. // vgl. https://www.elysee.fr///, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass es sich jedenfalls vorläufig nur um Ankündigungen handelt. Der Rücktritt seines prominenten Umweltministers Nicolas Hulot, der im September 2018 mit einem Bekenntnis seiner Macht- und Einflusslosigkeit im Amt aus diesem abtrat // vgl. https://jungle.world/ //, zeugt da jedoch von einer anderen Realität. Hulots Nachfolger François de Rugy, welcher 2019 infolge einer Selbstbedienungsaffäre abtreten musste, war ebenso ambitions- wie inhaltlich absolut erfolglos und war vor allem auf seine eigene Karriere bedacht. Den Posten kosteten ihn unter anderem prestigeheischende Hummer-Dîners auf Staatskosten, die sich auf die Reputation verheerend auswirkten. // Vgl. https://www.leparisien.fr/ // Am Arsch hängt der Hummer. Und lässt nicht wieder los.

Um die Nach-Nachfolgerin Elisabeth Borne blieb es relativ still

 NACHTRÄGLICH HINZUGEFÜGT: Da einem wie François de Rugy nichts zu peinlich ist, bemüht er sich allem Anschein nach inzwischen – Mitte Juli 20 – um den Posten des Fraktionsvorsitzenden der Macron-Partei im Parlament, und gab seine Kandidatur dafür auf den Tag genau ein Jahr nach dem Ende seiner reichlich glanzlosen Amtszeit als Umweltminister bekannt… Vgl.: https://www.rtl.fr/)

Grüne Wahlgewinner/innen

Das grün-linksliberale Bündnis EE-LV zählt zu den Hauptgewinnern dieser jüngsten Kommunalwahl, jedenfalls im großstädtischen Raum – wobei dabei vor allem die innerstädtischen Zonen „grün“ wählen, jedoch wesentlich weniger die Peripherie der urbanen Zentren und auch kaum die Kleinstädte. // Vgl. https://www.francetvinfo.fr/ //

EE-LV gewann so die Rathäuser mehrerer ziemlich einwohnerreicher Städte wie Strasbourg/Straßburg, Lyon, Besançon, Annecy, Tours, Poitiers und Bordeaux. In der Mehrzahl der Fälle handelt es sich dabei um Bündnisse mit der Sozialdemokratie und anderen Parteien der linken Mitte, bisweilen auch politischen Kräften weiter links. Außer beispielsweise in Lyon und Straßburg, wo die genannten Parteien im ersten Wahlgang nebeneinander antraten, bündelten sie ihre Kräfte oft schon in der ersten Runde und überließen die Spitzenkandidatur dabei EE-LV.

Im nordfranzösischen Lille trat EE-LV dagegen in der ersten und der zweiten Runde gegen die sozialdemokratische langjährige Amtsinhaberin Martine Aubry (frühere Arbeitsministerin) an und scheiterte dabei, allerdings mit 40,0 % in der Stichwahlrunde für Aubry und 39,41 % für die grüne Liste unter Stéphane Baly nur knapp. In Rouen, Rennes und Nantes blieb EE-LV in der ersten Runde, zum Teil wider Erwarten, hinter der Sozialdemokratie zurück.

Dabei verbirgt sich hinter dem Parteietikett von EE-LV jedoch je eine unterschiedliche soziale und politische Realität. In Bordeaux beispielsweise, wo EE-LV von Anfang an mit einer örtlichen, reichlich konservativen Sozialdemokratie im Bündnis antrat, kann man ihre Liste unter dem künftigen Bürgermeister Pierre Hurmic // vgl. https://www.20minutes.fr/ // ohne Irrtumsrisiko als weder sonderlich links noch irgendwie systemkritisch einstufen. Zumal es in Bordeaux, das ist eine örtliche Sondersituation, noch eine Kandidatur erheblich links von ihr gab: Die erklärtermaßen antikapitalistische Liste des Ford-Arbeiters, früheren Präsidentschaftskandidaten und undogmatischen Trotzkisten Philippe Poutou – die auch durch die örtlichen Anhänger des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon unterstützt wurde - erhielt dort ihrerseits 9,4 % der abgegebenen Stimmen in der Stichwahl, und zuvor 11,77 % im ersten Wahlgang. // Vgl. https://www.francebleu.fr//

Völlig anders liegt da etwa die Situation im westfranzösischen Poitiers. Dort trat die grün geführte Liste Poitiers collectif als Alternative sowohl zu LREM als auch zur Sozialdemokratie, die beide neben ihr in die Stichwahl einzogen, an; und auf ihr kandidierten auch aktive Mitglieder von Bürgerinitiativen, Feministinnen, Kommunisten, junge Aktivistinnen sozialer Bewegungen. Nun stellt sie mit Léonore Moncond’huy die 30 Jahre junge, künftige Bürgermeisterin. // Vgl. https://www.lanouvellerepublique.fr// Poitiers, rund 90.000 Einwohnerinnen und Einwohner, war seit 43 Jahren ohne Unterbrechung durch die Sozialdemokratie regiert worden, die

in ihrer örtlichen Variante weitgehend eine Ausprägung von gesellschaftlichem Konservativismus darstellte. // Vgl. https://poitiersanticapitaliste.org/ // Die Realität, für die in diesem Kontext die landesweit als „grün“ etikettierte siegreiche Liste in Poitiers steht, ist eine ziemlich andere als jene, welche überwiegend bürgerliche Grüne in Bordeaux oder Strasbourg (Straßburg) verkörpern.

Unstrittig ist, dass das Votum relativ breiter städtischer Schichten für als „grün“ eingestufte Listen mit der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Themen wie der Klimakatastrophe zusammenhängt. Dieser Ausdruck von Inhaltswünschen durch die Wählerschaft ist zunächst einmal ohne Abstriche zu begrüßen.

Hochspannung in Marseille

Spannend wird es an diesem Samstag, den 04. Juli 20 in Marseille. Dort nämlich gewann ebenfalls eine grün angeführte (Bündnis-) Liste am 28. Juni die Stimmenmehrheit in der Stadt. Diese übersetzt sich allerdings nicht notwendig in eine Sitzemehrheit, da die Stadtoberhäupter in Marseille nicht direkt, sondern indirekt – durch die vom Stimmvolk gewählten Bezirksversammlungen – gewählt werden. Dabei kommt es zu Verzerrungen, in nicht ganz so krassem Ausmaß wie etwa durch das Wahlmänner- und Wahlfrauensystem in den USA, aber dennoch spürbar.

Nicht zu unterschätzen ist zugleich, zu welchem Grade die bislang regierende konservative Rechte mit ihrem halbmafiösen Klientelsystem sich in der Stadt mittlerweile diskreditiert hat. Nicht unerheblich trug dazu die soziale Katastrophe in der Wohnungspolitik bei, die mit dem Einsturz von mehreren Wohnhäusern in der (innerstädtisch gelegenen) rue d’Aubagne am Morgen des 05. November 2018 – er forderte acht Tote – ihren absoluten Tiefpunkt fand. /Vgl. https://fr.wikipedia.org/ / Dieser Skandal löste beträchtliche Protestmobilisierungen in der Stadt aus.

Im zweiten Wahlgang im Stadtparlament genügt eine relative Mehrheit, wenn mehr als zwei Listen dazu antreten. Dabei gewann in der Millionenstadt die Kandidatenliste des Printemps marseillais („Marseiller Frühlings“), einer Allianz aus Grünen und mehreren Linksparteien sowie Bürgerinitiativen, unter ihrer Spitzenkandidatin – der in einem Armenviertel arbeitenden Ärztin und Feministin Michèle Rubirola (63) – stadtweit 38,3 %. Das Bündnis der bürgerlichen Rechten unter Führung der konservativen Partei LR erzielte 30,75 %. Eine Abspaltung von der Sozialdemokratie unter Samia Ghali, welcher oft eine auf Klientelismus basierende Politik in bestimmten (ärmeren) Stadtteilen vorgeworfen wird und gegen die juristische Ermittlung wegen möglicher gefälschter Stimmvollmachten laufen, erhielt in der Stichwahl noch knapp drei Prozent und eine Abspaltung von LR kam auf rund sechs Prozent. Die neofaschistische Liste des Rassemblement National (RN), politisch von den anderen Parteien weitgehend isoliert, unter Stéphane Ravier kam ihrerseits auf 20,3 %.

Nach normalen Wahlregeln, wie sie in den meisten Kommunen gelten, müssten Michèle Rubirola und der „Marseiller Frühling“ damit im Rathaus regieren können. Doch im Laufe der Woche begannen die Konservativen, die Marseille seit 1995 regierten und denen (wie zuvor auch der ab 1953 im Rathaus herrschenden Sozialdemokratie) ein weitverzweigtes Korruptionssystem vorgeworfen wird, sich dieser Perspektive zunehmend zu versperren. Durch Bündnisse mit einzelnen Abgeordneten glauben sie, auf eine Pattsituation von 42 zu 42 Mandaten zu kommen und, so erklärte die Marseiller konservative Rechte es auch öffentlich, durch eine Sonderregelung des Wahlrechts am Hebel zu bleiben. Dieses sieht vor, dass bei einem Stimmenpatt der oder die älteste Bewerber/in für den Chefsessel im Rathaus gewinnt. LR-Spitzenkandidatin Martin Vassal zog sich deswegen im Lauf der Woche zurück, um den 75jährigen Guy Teyssier – vom rechten Flügel ihrer Partei – zu nominieren, auf dass dieser kraft des Alters-„Arguments“ obsiege. // Vgl. https://www.lemonde.fr/ //

Allerdings kompliziert sich die Situation mittlerweile noch dadurch, dass nun auch ein weiterer bürgerlicher Kandidat auftritt, Lionel Royer-Perreaut // vgl. https://www.laprovence.com///, der den Spitzen seines eigenen konservativen Lagers vorwirft, hinter den Kulissen ein Abkommen mit den Neofaschisten unter Stéphane Ravier anzustreben.

Und wirklich machte der ziemlich rechte Konservative Guy Teyssier in der Vergangenheit unter anderem durch reaktionäre Ausfälle gegen Homosexuelle auf sich aufmerksam. // Vgl. https://www.komitid.fr/ // Deswegen klingelten in den Reihen vieler eher progressiver Milieus auch alsbald die Alarmglocken.

Unterdessen bleibt auf der Linken im engeren oder weiteren Sinne unklar, wie sich die als mitunter unberechenbar geltende Samia Ghali bei der Wahl genau positionieren wird. Kurz: Die Stadtratssitzung am Samstag (04.07.20) in Marseille weist einigen Sprengstoff auf…

NACHTRÄGLICH HINZUGEFÜGT zum Ergebnis: Tatsächlich kam es letztendlich nicht zum Stimmbündnis zwischen Konservativen und Rechtsextremen im Marseiller Stadtparlament. Kurz nach der Eröffnung von dessen Sitzung unterstrich Neofaschist Stéphane Ravier, dass seine Partei nicht an der Abstimmung teilnehmen werde, und die extreme Rechte zog aus dem Plenarsaal aus, um „die Urheber von Mauscheleien beider Seiten unter sich“ zu lassen. Dadurch versuchte die neofaschistische Rechte, sich durch Abgrenzung vom konservativen Lager wie von den Linkskräften eigenständig zu profilieren. / Vgl. https://www.laprovence.com/ /

Die extreme Rechte

Ravier kontrollierte übrigens von 2014 bis zur diesjährigen Kommunalwahl das Bezirksrathaus im „Siebten Sektor“ (dieser umfasst das 13. und 14. Arrondissement im Norden der Mittelmeermetropole); seine Liste verlor jedoch in diesem Stadtteil am 28. Juni das Rathaus wieder, mit immer noch 49 Prozent der Stimmen.

Die extreme Rechte schnitt in diesem Jahr insgesamt eher durchwachsen ab; so erhielt der damalige Front National im März 2014 frankreichweit insgesamt 1.438 Mandate in Kommunalparlament, doch in diesem Jahr erzielte die Nachfolgepartei unter dem neuen Namen Rassemblement National (RN) ihrer nur noch 827. Allerdings hatte die Partei mancherorts auf ein Antreten verzichtet, um nicht wieder dieselbe Pleite erleben zu müssen wie vielerorts nach 2014 – im Laufe der sechsjährigen Amtszeit traten insgesamt rund 40 % Ihrer Mandatsträger/innen zurück. Vor sechs Jahre hatte die Partei oft inkompetente Bewerber oder Glücksritter aufgestellt, um ihre Listen vollzubekommen, worauf in diesem Jahr tendenziell verzichtet wurde.

Am wichtigsten für die extreme Rechte dürfte sein, dass sie künftig die 120.000 Einwohner-Stadt Perpignan in Südfrankreich regiert. // Vgl. https://www.lindependant.fr // Die Liste unter ihrem Spitzenkandidaten Louis Aliot erhielt dort in der Stichwahlrunde 53,1 % der abgegebenen Stimmen. Ihr Wahlsieg erklärt sich, neben der besonders schlimmen sozialen Situation der Stadt // vgl. https://www.franceculture.fr/ //, auch aus dem langjährigen Gewicht der Pieds-Noirs oder früheren europäischen Algeriensiedler, die nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 mehrheitlich (nicht alle) nach Frankreich übersiedelten und – um einen deutschen Begriff zu verwenden – eine Art Vertriebenenmilieu bildeten. Wenn auch nicht alle Pieds-Noirs dieselbe politische Mentalität teilen, so schwanken doch viele von ihnen, vor allem die in eigenen Vereinen organisierten, politisch grundsätzlich zwischen konservativ und rechtsextrem.

Ausblick

Kurzfristig dürfte der Ausgang des Kräftemessens im Marseiller Rathaus von besonderem Interesse sein, mittelfristig die Entwicklung der Politik in den nunmehr grün geführten Rathäusern, die in Frankreich ein Novum darstellen. In knapp anderthalb Jahren wird Frankreich auf landesweiter Ebene in einen neuen Wahlkampf für Präsidentschafts- und nachfolgender Parlamentswahl steuern.

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