Bernard Schmid  berichtet aus Frankreich

Neofaschistisch geführte Rathäuser
Und nun auch noch ein Umlandverband

07/2020

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Nach den Kommunalwahlen vom 15. März und 28. Juni 20 sowie der Wahl zum Vorsitz von drei südfranzösischen Umlandverbänden, Mitte Juli d.J. – In Perpignan übernahm die extreme Rechte das Rathaus auch mit Unterstützung aus dem Milieu der örtlichen Handelskammer – Gewerkschaftliche Reaktionen zu Perpignan – Eine der ersten Amtshandlungen: Erhöhung des Bürgermeistergehalts in Perpignan…

Ist das Glas nun zu drei Vierteln voll, oder zu drei Vierteln leer? Die Geister scheiden sich an dieser Frage, was die Auswertung des Abschneidens des rechtsextremen Rassemblement National (RN, „Nationale Sammlungsbewegung“) bei der diesjährigen Kommunalwahl betrifft. Deren zweite Runde – die aufgrund der Covid-19-Pandemie um ein gutes Vierteljahr verschoben worden war – fand nun am Sonntag, den 28. Juni d.J. statt.

Im Juli folgte daraufhin nun noch die Wahl zum Vorsitz im Umlandverband (communauté d’agglomération, abgekürzt agglo) französischer Großstädte. Diese Umlandverbände sind der Bevölkerung im Allgemeinen kaum bekannt, doch dort werden einige wichtige Entscheidungen zur Raumplanung und zu Subventionen für Unternehmen oder Unternehmensansiedlungen getroffen, und können darüber hinaus relativ viele Parteifreunde in Anstellungsverhältnisse befördert werden. Im Falle zweier südfranzösischer Umlandverbände, rund um die Zentren Perpignan sowie – in rund einhundert Kilometer Entfernung – Béziers, stand dabei für die extreme Rechte ein möglicher neuer Wahlsieg auf dem Spiel, nachdem der Rassemblement National auf lokaler (städtischer) Ebene zuvor erfolgreich gewesen war. Dieses Mal wurden die Vorsitzenden der Umlandverbände allerdings nicht durch das Stimmvolk, sondern in indirekter Wahl durch Kommunalverordnete gewählt.

Ähnlich, wie kundige Beobachter/innen zuvor erwarteten, verlor der RN das Rennen um den Umlandverband von Perpignan, weil das lokale Kräfteverhältnis für ihn nicht oder noch nicht günstig genau ausfiel, gewann jedoch den Vorsitz in jenem von Béziers. Im letzteren Falle benötigte der bereits seit 2014 amtierende, in diesem Jahr (mit einem stattlichen Stimmenergebnis von über 68 % der abgegebenen Stimmen) wiedergewählte neofaschistische Bürgermeister von Béziers, der 67jährige Robert Ménard, nur drei Stimmen über die der Kommunalparlamentierer/innen des RN hinaus, um eine Mehrheit zu finden. Diese erhielt er am vorigen Freitag, den 17.07.20 nun mühelos, und noch weitere Stimmen (überwiegend) aus dem konservativen Lager kamen hinzu, da letztlich 35 von 55 Stimmberechtigten für ihn votierten. (Vgl. https://www.20minutes.fr/)

Robert Ménard ist das Kind früherer französischer Algeriensiedler, die nach der Entkolonisierung des Landes in Nordafrika 1962 aussiedelten, und macht mit entsprechenden historischen Revanchegelüsten Politik; in der Vergangenheit war er allerdings zeitweilig ein Linker und später dann Vorsitzender der NGO „Reporter ohne Grenzen“ (französ.: RSF, Reporters sans frontières), bevor er zuvörderst an seine Vertriebenenbiographie anzuknüpfen begann und sich an die Gesinnung seiner Familie erinnerte.

Hingegen scheiterte der nunmehrige, am 03. Juli dieses Jahres ins Amt (vgl. https://www.lindependant.fr/ und https://www.lindependant.fr/2020) eingeführte, rechtsextreme Bürgermeister von Perpignan – der fünfzigjährige Louis Aliot – am Samstag, den 11. Juli d.J. in seinem ersten Anlauf, um auch den Vorsitz des Umlandverbands zu übernehmen. In diesem leben knapp doppelt so viele Einwohner/innen wie in der nun von ihm regierten Stadt Perpignan (rund 120.000) selbst. Dort hatten sich die, bis zu den jüngsten Kommunalwahlen seit Jahrzehnten in Perpignan regierenden, Konservativen mit den übrigen Parteien abgesprochen, um eine neofaschistische Verbandspräsidentschaft zu verhindern. Allerdings stimmten dann doch relativ viele Konservative in einem Wahlgang, bei dem es um die fünfte Vizepräsidentschaft des Umlandverbands (von insgesamt 14; vgl. https://www.perpignanmediterraneemetropole.fr) ging, für den Neofaschisten Louis Aliot. Dies hing damit zusammen, dass in diesem Wahlgang, den zuvor zwischen den demokratischen oder jedenfalls nicht-faschistischen Parteien getroffenen Vereinbarungen gemäß, ein KP-Bewerber mit Namen Jean Vila (auch mit den Stimmen der bürgerlichen Rechten) hätte gewählt werden sollen. Ihm verweigerten dann jedoch viele Konservative, den Absprachen zuwider, die Gefolgschaft. 13 von ihnen stimmten letztlich wohl für Louis Aliot, denn der neofaschistische Kandidat erhielt 44 Stimmen, dort, wo seine eigene Partei über 31 Sitze verfügte, und wurde dadurch zum fünften Vizevorsitzenden des Verbands. (Vgl. : https://www.lindependant.fr/)

Übrigens: Louis Aliot hatte sich bereits kurz nach seinem Amtsantritt als Bürgermeister von Perpignan, Anfang Juli dieses Jahres, sein Einkommen als Stadtoberhaupt um + 17 % erhöhen lassen. Als Begründung hielt dabei das Argument her, er werde sich ja nicht (wie sein konservativer Amtsvorgänger) zugleich Gehälter als Bürgermeister und als Vorsitzender des Umlandverbands auszahlen lassen. Um dann doch, hihi, für ebenjenen Verbandsvorsitz zu kandidieren… (OK, OK, mit der Ansage verbunden, im Falle seiner Wahl dann das im Umlandverband zusätzlich eingesackte Einkommen runterzuschrauben, ohne nähere Präzisierung freilich.) Und um dann noch einen Vizevorsitzendenposten abzustauben… – Vgl. https://www.lepoint.fr/und https://www.midilibre.fr/ Tja, nun: Abgreifen, was man abgreifen kann – jedenfalls darin unterscheidet sich die neofaschistische extreme Rechte nicht unbedingt von ihren bürgerlichen Konkurrenten und Gegnern…

Weniger Aufmerksamkeit rief hervor, dass am selben Tag (Freitag, den 17.07.20) der neue neofaschistische Bürgermeister von Moissac, Romain Lopez – vgl. zu ihm unten Ausführlicheres – zum zweiten Vizevorsitzenden des Umlandsverbands von Castelsarrasin (Communauté des communes des Terres des Confluences) in Südwestfrankreich gewählt wurde. 37 von 62 abgegebenen Stimmen hievten Lopez auf diesen Posten, das bedeutet, dass eine Mehrheit von bürgerlichen Kommunalverordneten neben den rechtsextremen für ihn stimmte. Umso bemerkenswerter, handelt es sich doch bei Lopez um einen Vertreter des RN, der in jüngerer Vergangenheit antisemitischen Dreck am Stecken hatte… Vgl. https://www.ladepeche.fr

Noch in einem dritten Umlandverband blühten also Bündnisschlüsse zwischen Konservativen und Neofaschisten, im Falle von Castelsarrasin sogar mit der höchsten Anzahl von Bündnispartnern, auch wenn die Sache hier (im Unterschied zu Béziers und Perpignan) weitaus geringere Aufmerksamkeit hervorrief.

Kontrastreiches Abschneiden

Auf der einen Seite stehen nüchterne Zahlen: Die neofaschistische Partei stellte bei den letzten Kommunalwahlen vor den diesjährigen, im März 2014, insgesamt 369 Listen in Städten mit über 10.000 Einwohner/inne./n auf; in diesem Jahr waren es ihrer 262. Und gewann der RN vor nunmehr sechs Jahren 1.431 Mandate in Kommunalparlamenten, waren es 2020 insgesamt 827. Hintergrund dieser Verknappung des Angebots war, dass die Partei verhindert wollte, was ihr während der Amtsperiode 2014-2020 in vielen Stadträten widerfuhr: Dort verlor sie im Laufe der sechs Jahre insgesamt stattliche vierzig Prozent ihrer Mandatsträger/innen. Hatte sie doch zuvor zum Teil vollkommen inkompetente Bewerber/innen oder Glücksritter aufgestellt, um ihre Listen voll zu bekommen.

Jetzt zog sie daraus die Lehre, dass sie sich nunmehr auf Kandidaturen dort, wo sie über halbwegs vorzeigbares Personal verfügt, zu beschränken versuchte. Doch die Intelligenzschicht innerhalb der Partei ist dünn, sieht man von einer relativ schmalen Kaderebene ab. Insofern konzentrierte man sich in diesem Jahr von vornherein stärker auf Städte und Kommunen, in denen eine gewisse lokale Verankerung besteht.

ndererseits wird auf einige mehr oder minder spektakuläre Einzelerfolge verwiesen, die diese Strategie zu krönen schienen. Vor allem im ersten Wahlgang fuhren einige der Amtsträger in den insgesamt fünfzehn Städten, die seit sechs Jahren rechtsextrem regiert wurden, satte Mehrheiten bei ihrer Wiederwahl ein wie in Hénin-Beaumont und Hayange sowie Béziers. (Vgl. https://jungle.world/)

Seit dem Ausgang der Stichwahlrunde kommen nun die Großstadt Perpignan in Südfrankreich mit 120.000 Einwohner/inne/n (vom RN gewonnen mit 53,09 % der abgegebenen Stimmen), das 12.500 Einwohner/innen zählende Städtchen Moissac – zwischen Toulouse und Bordeaux – sowie das nordostfranzösische Bruay-la-Buissière mit 22.000 Einwohner/inne/n hinzu.

Gar zu gerne hätte der FN noch dessen Nachbarstadt Marles-les-mines, ähnlich wie Bruay eine frühere Bergarbeiterstadt, hinzugewonnen: In diesem Falle hätte die rechtsextreme Partei eine bislang durch die französische KP (den PCF) – allerdings in Zukunft nun sozialdemokratisch – geführte Kommune übernehmen können. Das hätte eine gewisse ideologische Bedeutung aufgewiesen.

Vgl. dazu:
 

Die jetzt vom RN gewonnen Städte wurden im Falle von Perpignan und Moissac, bislang durch die Konservativen, in Bruay-la-Buissière durch den Parti Socialiste (PS) regiert.

Auch Kleinstädte im südostfranzösischen Département Vaucluse mit einer Einwohnerzahl zwischen 5.000 und 8.000 haben künftig rechtsextreme Bürgermeister: Bédarrides, Mazan und Morières-lès-Avignon.

Antisemiten oder Philosemitismus?

Louis Aliot, künftiger Bürgermeister von Perpignan, ist ein langjähriger Aktivist der extremen Rechten. Hingegen wurden junge Aktivisten, Ludovic Pajot – der heute 26-jährige sitzt seit 2017 auch als Abgeordneter des Départements Pas-de-Calais in der Nationalversammlung – und Romain Lopez (vgl. https://www.ladepeche.fr/) mit 31 Jahren, Bürgermeister von Bruay-la-Buissière respektive Moissac.

Zu Bruay-la-Buissière vgl. :

Der künftige Bürgermeister von Perpignan, Louis Aliot, wurde, damals 18 Jahre alt, durch seine Mutter zu einer Wahlkampfveranstaltung von Jean-Marie Le Pen vor der Präsidentschaftswahl vom Frühjahr 1988 mitgenommen. Aus Bewunderung für sein neues Idol trat er 1990 dem damaligen Front National - dessen Name vor gut zwei Jahren in RN abgeändert wurde - bei. Zwischen 2009 und 2019 war er überdies der Lebensgefährte von dessen Tochter und Nachfolgerin im Parteivorsitz, Marine Le Pen… die ihren Vater allerdings 2015 wegen zu manifester antisemitischer Tendenzen ausschließen ließ.

Die Frage des Verhältnisses zum Antisemitismus bildet beim FN und inzwischen beim RN eine komplexe Angelegenheit. Vordergründig ist die Frage seit dem Abtritt von Jean-Marie Le Pen vom Parteivorsitz, den er im Januar 2011 abgab, gelöst: Offiziell spielt Antisemitismus seitdem beim FN bzw. RN keine Rolle mehr. Aber auch davor stand er nicht im Parteiprogramm - anders als etwa die scharfe Ablehnung von Einwanderung, der Wunsch nach struktureller Diskriminierung zwischen Franzosen und „Ausländern“ auf dem Arbeitsmarkt und bei Sozialleistungen oder das Bekenntnis zur „nationalen Identität“ -, sondern stets „nur“ im Subtext der Reden von Parteigründer Jean-Marie Le Pen.

Heute ist es damit angeblich vorbei. Doch der neue RN-Bürgermeister von Moissac, der junge Romain Lopez, kommunizierte noch vor wenigen Jahren per Twitter mit dem hauptberuflichen Antisemiten und Publizisten Alain Soral – jener verließ den FN 2009, nachdem er drei Jahre lang dessen „Zentralkomitee“ (so heißt die dritthöchste Führungsinstanz der rechtsextremen Partei) angehörte. Und Lopez ließ sich etwa über den „Nazijäger“ und Vorsitzenden einer Deportiertenvereinigung Serge Klarsfeld mit den Worten aus: „Die Apostel des Opferkomplexes wissen nicht mehr, was sie noch erfinden sollen.“ Heute bezeichnet er das selbst als Jugendsünde. Vgl.: https://fr.timesofisrael.com/ (Daran ändert gar nichts, dass ebendieser Serge Klarsfeld, dem es hier offenkundig an politischer Klarsicht mangelt, soeben Marine Le Pens Erklärung zur Erinnerung an den Jahrestag der Judendeportation im Raum Pariser vom 16./17. Juli 1942 oder rafle du Vel d’Hiv ausdrücklich begrüßt hat. Vgl. https://www.20minutes.fr )

Diese Personalie ist im Falle von Moissac besonders pikant, hat diese Kommune sich doch – indem das damals 8.000 Einwohner/innen zählende Städtchen im Zweiten Weltkrieg und unter der Nazi-Besatzung 500 jüdischen Menschen durch Verstecken das Leben rettete – den Status einer „Stadt der Gerechten“ erworben. (Vgl. https://www.liberation.fr/) In der jüngsten Phase hatte der RN es jedoch geschafft, sein rechtsextremes Profil als nicht im manifesten Widerspruch zu dieser Geschichte stehend erscheinen zu lassen.

Bei Louis Aliot verhält es sich noch weitaus doppelbödiger. Sein biographischer Kontext ist vor allem durch Abstammung von Pieds-noirs, also früheren europäischen Algeriensiedlern – die in Mittelmeernähe im Allgemeinen und in Perpignan besonders zu Hauf wohnen – geprägt. Der in eigenen Vereinen, die eine ähnliche Rolle spielen wie früher die so genannten Vertriebenenverbände in der Bundesrepublik, organisierte Teil der Pieds-noirs bildet traditionell eine Wählerbasis, die zwischen Konservativen und Rechtsextremen schwankt.

In Perpignan kommt dieser speziellen Klientel ein besonderes Gewicht zu. Lokaler Vorsitzender des früheren Front National war dort, ab Mitte der 1980er Jahre bis zu seinem krankheitsbedingten Tod im September 1992, der vormalige OAS-Terrorist Pierre Sergent. Jener war kein „kleiner Fisch“, sondern an mörderischen Aktionen der im Algerienkrieg entstandenen, rechtsextremen „Organisation Geheime Armee“ (OAS, Organisation armée secrète oder Organisation de l’armée secrète) bis hin zu Anschlägen auf Parteisitze der französischen KP mitten in Paris beteiligt. Im Februar 1962 war er in Abwesenheit zum Tod verurteilt worden; profitierte jedoch nach mehrjährigem Exil in Belgien und der Schweiz von dem Amnestiegesetz für OAS-Täter, das die gaullistische Regierung (ursprünglich Hauptzielscheibe der OAS) im Juli 1968 verabschieden ließ, nachdem die Mai-Ereignisse Rechte unterschiedlicher Couleur zusammenrücken ließen. Unter Pierre Sergent an der Spitze erhielt der örtliche FN bereits bei den Kommunalwahlen 1989 in Perpignan in den beiden Durchgängen 25 respektive 30 Prozent der Stimmen. Kurz darauf widersetzte er sich innerhalb der Parteiführung (was bei deren Mitgliedern sonst selten vorkam) offen dem politischen Willen von Jean-Marie Le Pen, als dieser in der „Kuwait-Krise“ und dem folgenden Golfkrieg 1990/91 eine Parteinahme für die iraqische / irakische Diktatur und damit „ein arabisches Land“ statt für den US-Krieg entschied. Pierre Sergent trat für eine gegenläufige politische Linie ein. Dennoch blieb er in der rechtsextremen Partei, bevor im Alter von 66 Jahren verschied.

Vor diesem Hintergrund, wo der Erinnerung an die Algerien-Vergangenheit (im örtlichen politischen Mikroklima) eine zentrale Rolle zukommt, verweist Aliot auch auf eine jüdische Großmutter im kolonialen Algerien. Allerdings weiß selbst seine französischsprachige Wikipedia-Seite, dass er diese in der Öffentlichkeit nicht erwähnt, ohne hinzuzufügen, er sei „sehr gegen Lobbys“ eingestellt. Eine offensichtliche Anspielung an das Denken von Jean-Marie Le Pen, den er vormals verehrte und der wiederholt in Reden Assoziationsketten zwischen Juden, Lobbygruppen“ und internationalem respektive „antinationalem Geist“ herstellte. Vgl. bspw. sehr konkret: https://www.lemonde.fr

Im Übrigen waren im kolonialen Algerien, wo juristisch ein auf konfessionellen Kategorien fußendes Apartheidsystem bestand, die einheimischen Juden seit 1870 mit dem décret Crémieux den Christen, also den in die Siedlungskolonie strömenden Europäern gleichgestellt worden. Dagegen richtete sich im letzten Drittel des 19. Jahrhundert eine Massenbewegung innerhalb der europäischen Siedlerbevölkerung, die in dieser rechtlichen Gleichstellung der Juden ein Einfallstor für die abwegige Idee gleicher Rechte für „die Eingeborenen“ erblickte; sechs von acht Abgeordneten der Siedlungskolonie im Pariser Parlament gehörten um 1900 zeitweilig dem Groupe antijuif oder Groupe antisémite nationaliste (also der sich selbst explizit so bezeichnenden parlamentarischen Antisemitenfraktion) in der französischen Nationalversammlung an. Unter ihnen befanden der berüchtigte antisemitische Schriftsteller Edouard Drumont und, einer der übelsten sonstigen Hetzer, Max Régis. Vgl. auch https://histoirecoloniale.net und http://www.akadem.org/

Doch im 20. Jahrhundert verschoben sich die Fronten: Als ein wachsender Teil der, 90 % der Wohnbevölkerung ausmachenden, arabisch-berberisch-muslimischen Mehrheit die Unabhängigkeitsforderung zu unterstützen begann, vor allem ab 1945, betrachteten die europäischen Siedler die jüdische Minderheit zunehmend als ihre Verbündeten und als Teil einer „Trutzburg“. Da auch der Staat Israel in den fünfziger Jahren ein außenpolitischer und militärischer Verbündeter des in Nordafrika Krieg führenden Frankreich war, geriet der Antisemitismus dann tendenziell aus dem Fokus. Neben dem Kolonialrassismus hatte er allenfalls noch sekundäre Bedeutung.Anders als im rechtsextremen Milieu in anderen Teilen Frankreichs prägt diese Erfahrung den südfranzösischen FN bzw. RN. Vor diesem Hintergrund kam ein Parteifunktionär wie Louis Aliot zu einer strategischen Positionierung, die er 2014 im Gespräch mit der Buchautorin Valérie Igounet – eine Spezialistin für Geschichtsrevisionismus und Neofaschismus in Frankreich - als im Grunde zynisches Kalkül wie folgt darlegte: „Die einzige gläserne Decke“, also die letzte Sperre, die einen vom Griff nach der politischen Macht abhält, „das ist nicht die Haltung zur Einwanderung, auch nicht zum Islam. Es ist der Antisemitismusvorwurf. Nur das. Von dem Moment ab, wo Sie diesen Riegel aufsprengen (où vous faites sauter ce verrou), machen Sie den Weg für den Rest frei.“ – Vgl.: https://www.liberation.fr

Minderheiten gegeneinander ausspielen

Im Alltag in einer Stadt wie Perpignan wesentlich präsenter sind Hassideologien, welche andere Minderheiten betreffen. Dabei schafft es der RN vor Ort jedoch, unterschiedliche Gruppen gegeneinander auszuspielen. Auf der einen Seite stehen die Maghrebiner, die traditionell im Visier des kolonial geprägten Rassismus stehen. Daneben weist Perpignan einen relativ starken Bevölkerungsanteil von Gitans auf. Bei ihnen handelt es sich um in Südfrankreich altansässige Sinti. In Perpignan zählen sie zu den ältesten Bewohnern der Stadt und sprechen untereinander oft auf Katalanisch, der ursprünglichen Verkehrssprache der Region, die heute im Alltag durch das Französische verdrängt wurde. Mehrere Stadtteile werden durch die Gitans geprägt und stellen zugleich arme Wohngegenden mit den für viele Unterschichtsviertel prägenden Problemen – Armut, Arbeitslosigkeit, Alkoholismus – dar. Dabei handelt es sich jedoch nicht um banlieues (Vorstädte) wie bei den „Problemviertel“ vieler französischer Städte, sondern um historische Altstadtviertel wie Saint-Jacques. Dieser rund 8.000 Einwohnerinnen umfassende Stadtteil war bis 1493, also bis zur Vertreibung der Juden aus dem heutigen Spanien einschließlich dem jetzigen französischen Nordkatalonien, das damalige Judenghetto und wurde danach zum so genannten Zigeunerviertel. Dort ist die soziale Situation (mit einer Arbeitslosigkeit um die 85 %; eine Wohnadresse in diesem Quartier braucht man bei einem Bewerbungsgespräch gar nicht erst anzugeben…) besonders angespannt, und viele Einwohner/innen leben wie in einer Art urbanem Indianerreservat. Sinti wohnen jedoch auch im Altstadtviertel Saint-Mathieu sowie in Le Vernet.

Dabei konnte der RN auch Spannungen zwischen Minderheitengruppen ausnutzen. In den letzten Jahren kam es mitunter zu Spannungen zwischen Gitans und der maghrebinischen Minderheit. Diese entluden sich 2005 nach einem Mordfall in Ausschreitungen, die Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterließen. (Vgl. https://www.lemonde.fr)

Ähnlich wie zuvor auch die wichtigsten bürgerlichen Parteien in Perpignan, dessen Lokalpolitik stark durch klientelistische Praktiken geprägt wird, übte sich auch der RN in diesem Jahr im Stimmenkauf innerhalb der Sinti-Community durch Geld- oder Einstellungsversprechungen. Diese werden durch die betreffende Bevölkerung, die seit Jahrhunderten diskriminiert und mehrheitlich ausgesprochen arm ist, desillusioniert aufgenommen, verschafften dem RN jedoch eine Art wohlwollender Neutralität und manche zusätzlichen Stimmen. Seit 1959, also seit den Anfängen der Fünften Republik, hatte das oben erwähnte Stadtviertel Saint-Jacques stets für die amtierende (meist konservative) Rathausmehrheit gestimmt – nicht länger jedoch in diesem Jahr, wo ein Teil seiner Stimmen dem „Herausforderer“ vom RN zugute kam. (Vgl. http://chairecitoyennete.com/)

Überdies hatte Aliot sich 2014 für ein „Festival der Zigeunerkulturen“ in Perpignan einzusetzen begonnen und sich für eine Anerkennung der „Lebensart“ der Gitans auf folklorisierender Grundlage eingesetzt; in diesem Sinne äußerte er sich auch 2017 im Europaparlament. (Vgl. https://www.mediapart.fr/)

Diffizile sozio-ökonomische Situation

Hinzu kommt die allgemeine schwierige soziale Lage in der Stadt. Ebenso wie der gesamte Bezirk, das Département „Östliche Pyrenäen“ oder „Ostpyrenäen“, ist Perpignan von einem gewissen wirtschaftlichen Niedergang geprägt. Hochtechnologien und qualifizierte Jobs konzentrieren sich vor allem in Nord- und Ostfrankreich, näher an den Zentren der EU (Rhein-Main-Gebiet, Nordrhein-Westfalen, Benelux) sowie Großbritannien liegend, während der Mittelmeerraum weitgehend verarmte. Auch erlebte der früher in großem Maßstab im westlichen Teil der französischen Mittelmeerküste angebaute Billigwein, den man etwa an die Wehrpflichtigen ausschenkte, in den letzten Jahrzehnten einen Niedergang. Vor allem aber trug auch der spanische (und portugiesische) EG-Beitritt zum 1. Januar 1986, welcher vergleichsweise billigere Agrarprodukte zollfrei auf die Märkte brachte, zur ökonomischen Krise in der Region bei. (Vgl. dazu auch folgende Hintergrundanalyse: https://www.revueconflits.com ) Heute gibt es im Raum Perpignan qualitativ höherwertigen Wein als früher und daneben Obstanbau, jedoch nur relativ wenige Arbeitsplätze in Acker- und Weinbau. Industrie ist nur schwach ausgeprägt. Vor allem Tourismus und der Häuserankauf durch Rentner/innen aus anderen Landesteilen oder europäischen Staaten sorgen für Einnahmequellen. Perpignan zählt zu den ärmsten französischen Großstädten. (Vgl. https://www.franceculture.fr)

Unterstützung aus der örtlichen Bourgeoisie

Nichtsdestotrotz stimmten beileibe nicht nur ökonomisch Arme für die Liste des RN in Perpignan, auch wenn dessen Wählerschaft tief in Teile der sozialen Unterklassen (jedenfalls der sich als „weiß“ definierenden, wobei bereits oben auf den Sonderfall der Gitans hingewiesen wurde) hinein ausgriff.

Vielmehr hat auch die Positionierung eines Teils der lokalen Bourgeoisie in diesem Wahlfrühjahr zugunsten des RN den Ausschlag gegeben. Auf Ebene der Wohnviertel wurde dies an dieser Stelle (: https://theconversation.com/) durch den Politikwissenschaftler Nicolas Lebourg überzeugend analysiert; vgl. auch : https://lahorde.samizdat.net/ (Anm. : Lebourg ist beileibe kein Linker, vielmehr wiesen seine Kommentare infolge des gewaltsamen Tods des jungen Antifaschisten Clément Méric im Juni 2013 als Anhänger eines gegen radikale Linke wie gegen faschistische Kräfte vorgehenden, starken Staates aus. Doch kann der in Montpellier lehrende Politologe als guter Kenner sowohl der Region als auch der extremen Rechten, über deren Geschichte er mehrere gehaltvolle Schriften verfasste, gelten.)

Konkret widerspiegelte sich dies auf politischer Ebene vor allem darin, dass in den Wochen vor der Stichwahl mehrere vormalige Bewerber/innen auf der Liste der wirtschaftsliberalen Partei Emmanuel Macrons, LREM (La République en marche), aus der ersten Runde nun – im Vorgriff auf den zweiten Wahlgang – öffentlich dem RN und nicht der konservativen Liste den Vorzug gaben. Zwar wäre es logisch erschienen, dass die bisher im Rathaus regierende konservativ-wirtschaftsliberale Partei LR (Les Républicains) der auf nationaler Ebene regierenden Formation LREM näher steht, als die neofaschistische Rechte dies tut. Allerdings muss man berücksichtigen, dass die Macron-Partei – die politisch landesweit zu den Newcomern zählt und bei der Kommunalwahl 2020 auch so gut wie keinen Fuß auf den Boden bekam (vgl. https://www.heise.de/ ) -auf örtlicher Ebene von dem Klientelsystem, das die bisherige Rathausmannschaft mit einem Teil der lokalen Geschäftswelt verflocht, ausgeschlossen blieb. Deswegen konnten mindestens einige Wirtschaftsliberale im RN, sofern er ihnen in seiner örtlichen Ausgabe „wirtschaftsfreundlich" genug erschien, einen Verbündeten beim Aufbrechen von bestehenden Machtstrukturen innerhalb des bürgerlichen Lagers und bei der Umverteilung der Karten erblicken.

Infolge des ersten Wahlgangs waren sowohl die gemeinsame Wahlliste der Sozialdemokratie (PS) mit den Grün-Linksliberalen (EE-LV) als auch jene der Macron-Partei LREM zurückgezogen worden, um allein die besser platzierte konservative Liste gegen den rechtsextremen RN in die Stichwahl einziehen zu lassen. Deren Chancen, den RN doch noch zu schlagen, sollten nicht geschmälert werden.

(Eine alternative, „ökologische und solidarische“ Liste, welche durch Kräfte links von Sozialdemokratie und Grünen sowie das Bürgerinitiativen- und „engagierte zivilgesellschaftliche“ Milieu unterstützt wurde, erhielt im ersten Wahlgang mit 6,6 % ein Ergebnis, das es ihr nicht erlaubte, in die Stichwahl einzuziehen. Dafür hätte sie mindestens zehn Prozent der abgegeben Stimmen erhalten müssen.)

Vgl. zu dieser Vorgeschichte:

Doch mehrere Bewerber/innen, die auf der LREM-Liste unter ihrem Spitzenkandidaten Romain Grau kandidiert hatten, zogen dabei nicht mit und teilten in der Öffentlichkeit mit, dass sie direkt dem RN unter Louis Aliot den Vorzug für die Stichwahl gaben.

Als Erstes tat dies die Kandidatin Josiane Cabanas, gefolgt (am 03. Juni 20) durch Alain Cavalière, welcher zuvor den dritten Listenplatz bei LREM belegt hatte. Ihm folgte wenige Tage später noch die Kandidatin Christine Gonzalez nach. Cavalière ist ein früherer Präsident des örtlichen Handelsgerichts (Tribunal du commerce), und Gonzalez spielt eine wichtige Rolle in einer Vereinigung von Geschäftsleuten in einem Stadtteil von Perpignan.

Vgl. u.a. :

Gewerkschaftliche Reaktionen

Auf Seiten der Gewerkschaften reagierten vor allem die CGT (im Bezirk Ostpyrenäen) und die FSU – Zusammenschluss von Gewerkschaften im Bildungswesen – mit ziemlich klaren Stellungnahmen, und riefen gegen die Wahl des neofaschistischen RN auf:

Ausblick

Auch der RN dürfte wissen, dass die wirtschaftlichen Eckdaten ihm dort keine Wunder erlauben werden. Die Arbeitslosigkeit in Perpignan bezifferte eine Webseite des Rathauses jüngst mit 14 Prozent, die liberale Pariser Abendzeitung Le Monde dagegen mit 25,4 Prozent (vgl. https://www.lemonde.fr/) – es kommt eben wohl darauf an, wie man misst. Deswegen dürfte die extreme Rechte vor Ort weder auf Prestigeprojekte noch auf einschneidende radikale Veränderungen setzen, sondern eher darauf, in den kommenden sechs Jahren zu beweisen, dass sie „regieren kann“, ohne dass es negativ auffällt. Um mittelfristig ihre „Führungsfähigkeit“ und die staatsmännische / staatsfrauliche Qualität ihres Parteipersonals unter vermeintlichen Beweis zu stellen.

Nichtsdestotrotz wird der RN einige symbolträchtige Entscheidungen zu treffen haben. Schon kurz nach Beginn seiner Amtszeit tönte Louis Aliot, die Polizei sei ihm in Perpignan zu schwach vertreten (eine konstante Position, die prinzipiell allen seit 2014 gewählten kommunalen Mandatsträgern der extremen Rechten zu eigen ist); vgl. https://www.rtl.fr/

Voraussichtlich wird das Verhältnis der neuen Rathausführung zum Künstlermilieu und zur Kulturwelt ein schwieriges werden. Die drei designierten Träger/innen des Kulturpreises Prix Méditerranée kündigten bereits am 09. Juli an, die am 03. Oktober dieses Jahres geplante Preisverleihung zu boykottieren – vgl. https://www.lemonde.fr/

Ärger gibt es auch rund um das Kulturzentrum und den dazugehörigen Preis, die nach dem deutschen jüdischen Philosophen Walter Benjamin benannt sind – er lebte zuletzt in Südfrankreich im Exil und beging 1940 Selbstmord in Portbou, im spanischen Katalonien im unmittelbaren Grenzbereich und in der Nähe von Perpignan. Eines der Jurymitglieder des nach ihm benannten Preises, André Bonet, beschloss auf dem Listenplatz Nummer 3 auf der Kommunalwahlliste des RN unter Louis Aliot zu kandidieren. Daraufhin traten im März dieses Jahres 10 von 11 Jurymitgliedern geschlossen zurück. (Vgl. https://www.lasemaineduroussillon.com/) Die neu gewählte rechtsextreme Rathausregierung würde das derzeit geschlossene Kulturzentrum gerne wieder eröffnen, um ein solches, nach einem Antifaschisten benanntes Zentrum in „ihrer“ Stadt fürderhin als Visitenkarte und Beweis ihrer „Offenheit“ oder ihres Sinneswandels zu benutzen. Dem stehen starke Gegenkräfte unter den Träger/inne/n des Kulturzentrums gegenüber; und die Perspektive, ein Walter-Benjamin-Zentrum von einem rechtsextrem regierten Rathaus ausgelenkt zu sehen, führt bereits zu überregionalen Auseinandersetzungen. Vgl. https://www.lindependant.fr/ und https://entreleslignesentrelesmots.blog/

Hier könnte die extreme Rechte noch auf erhebliche Widerstände stoßen. Wir werden die Szenerie weiterhin intensiv beobachten…

Post scriptum & Nebenbemerkung:

Unter den bekennenden Wähler/inne/n von Louis Aliot in Perpignan (dank Wahlrecht für EU-Bürger/innen bei Kommunalwahlen, und dem Wahlgeheimnis zum Trotz) befindet sich offenkundig auch eine deutsche Rassisten-Omma, die seit einigen Jahren - circa 18 an der Zahl - von den günstigen Immobilienpreisen in dieser Ecke profitiert und früher einmal in Deutschland irgendwie als „Linke“ durchging. In den letzten Jahren trat sie vor allem als fanatisch pro-israelisch auftretende Bloggerin und hämmernde Agitatorin gegen Alles, was ihr nach Muslim roch, in Erscheinung – wobei der Lack des dick aufgetragenen Philosemitismus mitunter abbröckelte, wenn es darum ging, dass die deutsche Herrenmenschin wirkliche Juden auf den rechten Weg wies; vgl. https://twitter.com/

Nun, im Zusammenhang mit der Kommunalwahl in Perpignan zeigte eben unsere deutsche Omma auf, wie hässlich die Denke ist, die mitunter aus einer Louis Aliot-Wählerin herausquillt. Eine Kostprobe (als Anmerkung vorausgeschickt sei, dass der bei den letzten Kommunalwahlen am 28. Juni d.J. unterlegene konservative Amtsinhaber Jean-Marc Pujol heißt): Auf dem einen Pujol-Blatt wendet dieser sich an die "liebe Dame", den "lieben Herrn"; er fordert sie auf, ihn zu wählen und dafür zu sorgen, daß auch andere ihn wählen, auf der Rückseite sieht man ihn und seine 56 Mitbewerber für den Gemeinderat, darunter, als Nr. 10, eine Dame mit dem arabischen Namen Fatima Dahine, der man nicht nur nachsagt, seine Geliebte zu sein ( ...) sondern die in Perpignan wichtige öffentliche Posten bekleidet. Den nächsten arabischen Namen liest man unter Nr. 46, weitere unter Nr. 49, 51, 54. So weit zur Integration! /// Vgl. http://eussner.blogspot.com/

Es ist schon bezeichnend, wie hier durch unser Rassisten-Tantchen nach tatsächlich oder vermeintlich arabisch- (oder berber-)stämmigen Namen auf der Liste der Bürgerlichen, die gegen den RN antrat, gefahndet wird. Selbst der RN selbst ist da - jedenfalls beim Auftreten in der Öffentlichkeit - intelligenter, denn auf seinen Kandidatenlisten finden sich auch immer wieder einzelne Bewerber/innen, die selbst solche Namen tragen, u.a. um sich des Rassismusvorwurfs zu erwehren. Oft handelt es sich dabei um so genannte Harkis oder Nachfahren von Harkis, also von faktischen Kollaborateuren, die (aus unterschiedlichen Motivationslagen heraus) im algerischen Konflikt auf Seiten der Kolonialmacht dienten, obwohl sie aus der unterdrückten Mehrheitsbevölkerung hervorgingen.

Wir erhielten den Beitrag vom Autor für diese Ausgabe