Genua und die Spaltung der italienischen Linken

Referat eines Genossen aus Rom über die Repression in Italien, ihren Zusammenhang mit den Klassenkämpfen und einige linke Sackgassen
 

08/04

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Über den aktuellen Stand der laufenden Prozesse wird nachher die Anwältin berichten. Deshalb werde ich mich nicht mit speziellen, den Verlauf der Prozesse betreffenden Fragen beschäftigen, sondern mit einigen Überlegungen zu den Ereignissen in Genua beginnen, um dann kurz auf andere Verfahren einzugehen, die eine große Anzahl von Genossinnen und Genossen in Italien getroffen haben und nach wie vor treffen. Zuletzt werde ich versuchen, die Genueser Prozesse und die Verfahren nach Genua in einen allgemeineren Rahmen zu stellen, um zu einer kurzen Analyse der Repressionsstrategie des italienischen Staates zu gelangen. Eine Kontextualisierung des qualitativen Sprungs, der durch die Repression in jenen Julitagen im Jahr 2001 gemacht wurde, ist unerlässlich, um die repressiven Dynamiken zu verstehen und sich darüber bewusst zu werden, dass die Methoden, mit denen damals experimentiert wurde, keineswegs ad acta gelegt wurden.

Unbestreitbar ist, dass in Genua die Repression für normale, italienische Verhältnisse ein außergewöhnliches Niveau erreicht hat, doch nach Genua ist die Haltung des Staates gegenüber der radikalen Linken keineswegs gemäßigter geworden. Auch wenn sich solche bürgerkriegsähnlichen Vorfälle nicht mehr wiederholt haben, zeigt das Ausmaß der Verfahren gegen Hunderte von GenossInnen einen Verfolgungswillen von Seiten der Staatsanwälte, der dem, den Polizei und Carabinieri im Juli 2001 in körperliche Gewalt umsetzten, in kaum etwas nachsteht. Die Ereignisse von Genua sind also zwar besonders bedeutend, aber sie bleiben dennoch ein Mosaikstein in einer repressiven Strategie, die in den letzten Jahren ein hohes Maß an Kontinuität aufwies. Ich will vor allem versuchen zu zeigen, was Genua für die in Italien aktiven Genossen bedeutet und welche Auswirkungen die Repression auf die politischen Positionen der verschiedenen Strömungen gehabt hat.

I.
Im kollektiven Verständnis der Linksradikalen in Italien wird Genua als ein schon lange befürchtetes und jetzt Wirklichkeit gewordenes Ereignis wahrgenommen, nach dem es kein Zurück mehr gibt. Die Erschießung Carlo Giulianis hat einer Generation von Genossinnen und Genossen ihre Illusionen genommen - einer Generation, die den sozialen Krieg der sechziger und siebziger Jahre nicht persönlich miterlebt hat und deswegen die Waffen des Staates vor Genua nicht unmittelbar kennen gelernt hatte, sondern nur vermittelt durch Erzählungen, Geschichtsbücher oder Nachrichtensendungen der „Gesellschaft des Spektakels“. Zudem ist Genua ein „Point of no return“ in Bezug auf den Spaltungsprozeß der sogenannten „Bewegung“ in Italien, auch wenn dieser schon einige Jahre zuvor begonnen hatte. Schon seit mindestens vier Jahren tendieren die linken und linksradikalen Gruppen dazu, sich voneinander zu entfernen und sich in zwei, oder wenn man will, drei Spektren zusammenzufinden, die aufgrund von unvereinbaren theoretischen und praktischen Ansätzen in Bezug auf zentrale politische Fragen getrennt voneinander agierten. Zu diesen zentralen Fragen gehören das Verhältnis zu den staatlichen Institutionen, den Parteien und den Massenmedien, die Bedeutung des Konzepts der Selbstorganisation und die Ziele einer linken bzw. linksradikalen Politik. Im Verlauf der Zeit wurde immer deutlicher, dass diesen verschiedenen Ansätzen grundsätzlich verschiedene Analysen der Gesellschaft und politische Zielsetzungen zugrunde liegen.

Diese Spaltung ist in Genua zu einer unüberwindbaren Kluft geworden als die Disobbedienti und Sozialforen, im Einklang mit Ministern, Polizeichefs und bürgerlichen Medien, dem mysteriösen „Schwarzen Block“ vorwarfen, „die Reaktionen der Bullen provoziert zu haben“, und damit die Angriffe auf friedliche Demonstranten und den Mord an Carlo Giuliani selbst verschuldet zu haben. Da der italienische Staat nicht zugeben konnte, dass die bürgerkriegsähnlichen Verhältnisse in Genua Ausdruck einer verbreiteten und explosiven sozialen Unzufriedenheit waren, prangerte er den ominösen black block an - die alles kaputtschlagenden Provokateure, die gewalttätigen Extremisten. Der Staat hat ein Feindbild geschaffen, um seine Verbrechen zu legitimieren. Bei der Schaffung dieses Feindbildes haben die Sprecher der „tute bianche“, die Liebhaber des „Zivilen Ungehorsams“ und des „passiven Widerstandes“, de facto mitgearbeitet. Verängstigt durch die Radikalisierung und die alles andere als gewaltfreie Praxis vieler DemonstrantInnen, konnten sie sich nur von der Gewalt distanzieren, wenn sie ihren Anschein von Legitimität in den Augen der heißgeliebten Massenmedien, den staatlichen Institutionen, von denen sie finanziert werden, den Mitte-Links-Parteien und ihrer zahlenmäßig nicht gerade unbedeutenden Gefolgschaft von Katholiken und Pfadfindern wahren wollten. Die politische Spaltung der Bewegung wurde zur unüberwindlichen Kluft, als die unermüdlichen Unschuldsbeteuerungen der einen sich als funktional für die Beschuldigung derjenigen erwiesen, die, statt sich von den Gewalttätern zu distanzieren, den Staat und seine Diener auf die Anklagebank brachten. Das wichtigste politische Ergebnis der Repression in Genua war also die endgültige Trennung der verschiedenen Spektren und eine Polarisierung ihrer jeweiligen politischen Positionen.

Diese Polarisierung betrifft nicht nur ihre Stellung zur Justiz oder die Frage, wie man eine Antirepressionskampagne aufziehen sollte, vielmehr hat sich das politische Handeln der verschiedenen Gruppierungen insgesamt polarisiert. Kommunistische Autonome und Anarchisten haben in Genua die Bestätigung für ihr Misstrauen gegen den Staat und die Notwendigkeit eines gewaltsamen Umsturzes der kapitalistischen Verhältnisse gefunden. Die militanten Aktionen aus diesem Spektrum sind nach Genua spürbar angestiegen, und auch die Kritik an den Disobbedienti und den Sozialforen hat sich radikalisiert. Sie werden nicht mehr nur als „Reformisten“ und „Sozialdemokraten“ gesehen, sondern auch als „neue Polizei“, da sie sich immer wieder bereit zeigen, die Aufgaben der Ordnungskräfte zu übernehmen und einen friedlichen Verlauf von Demonstrationen zu garantieren, um so im Austausch für diese verantwortliche Tätigkeit finanzielle Unterstützung und politische Anerkennung durch staatliche Institutionen einzustreichen. Die Disobbedienti und die Sozialforen dagegen sind auf ihrem Weg zur Institutionalisierung weiter vorangeschritten, indem sie ihre Reaktion auf die Ereignisse in Genua auf Aktionen mit dem Ziel, die Mitte-Rechts-Regierung zu Fall zu bringen, und eine Kampagne für „Wahrheit und Gerechtigkeit“ beschränkten. Diese Kampagne gründet auf der Überzeugung, dass die Gerichtsbarkeit irgendwie dazu gelangen könnte, sich von den Ordnungskräften zu distanzieren und ihr Verhalten strafrechtlich zu verfolgen, d.h. auf der Annahme einer radikalen Gewaltentrennung , die nur im Kopf einiger Denker des achtzehnten Jahrhunderts jemals existiert hat. Indem die Organisatoren dieser Kampagne glauben, aus einem Konflikt zwischen den Gewalten irgendeinen Vorteil ziehen zu können, indem sie sich auf Gerechtigkeit beziehen, ohne im Geringsten zu spezifizieren, um was für eine Gerechtigkeit es sich dabei handeln soll, entfernen sie sich von einer radikalen Gesellschaftskritik, um bei der Bürgerrechtsbewegung und den Fackelmärschen der empörten Zivilgesellschaft zu landen.

Die Polarisierung der politischen Positionen und die endgültige Spaltung dessen, was vorher noch irgendwie als „Bewegung“ bezeichnet werden konnte, sind Aspekte, die einen zentralen Stellenwert für das Verständnis der Genueser Strafverfahren haben. Denn die Staatsanwälte haben es vorgezogen, zahlreiche Verfahren zu eröffnen, die sich gezielt gegen das eine oder andere politische Spektrum richten, statt alles in einem Mega-Prozess gegen die TeilnehmerInnen an den Demonstrationen in Genua zusammenzuwerfen. So haben die verschiedenen Prozesse dazu beigetragen, die schon existierende Trennung zu verhärten; sie haben einen unmittelbar politischen Charakter angenommen, insofern sich jeder Angeklagte nicht nur für die ihm vorgeworfenen Straftaten verantworten muss, sondern auch für seine Zugehörigkeit zum einen oder anderen Spektrum.

II.
Nach Genua hat die Repressionsmaschinerie des Staates ihre Aktivität sichtbar intensiviert. In letzter Zeit richtete sie sich insbesondere gegen die autonomen und anarchistischen Gruppen, die mit dem Bündnis Europposizione in Zusammenhang stehen. Dieses Bündnis initiierte eine Kampagne, in deren Zentrum eine radikale Kritik der Europäischen Union steht, die als genau so unreformierbar angesehen wird wie jeder andere kapitalistische Staat. Die Repression gegen das Europposizione-Bündnis begann gleich nach der Demo gegen den Gipfel zur europäischen Verfassung, der am 4. Oktober letzten Jahres in Rom stattfand. Zwei Genossen, Massimo und Tombolino, wurden verhaftet, weil sie einen Zivilbullen gewaltsam aus der Demo entfernt haben. Sie saßen monatelang in U-Haft, obwohl gesetzlich keine U-Haft vorgesehen ist, wenn dem Geschädigten weniger als fünf Tage Arbeitsunfähigkeit prognostiziert werden. Die Wohnungen einiger GenossInnen, die bei der Organisation des Europposizione-Blocks besonders aktiv gewesen waren, wurden von vermummten und mit Maschinenpistolen bewaffneten Polizisten durchsucht. 26 Personen wurden im Zuge der Polizeiangriffe auf die ersten beiden Soli-Kundgebungen festgenommen, die unmittelbar nach der Verhaftung von Massimo vor dem Gefängnis in Rom und Cagliari stattfanden. Ein Prozess gegen sie steht noch aus. Einige Monate nach diesen Festnahmen, am 13. Februar dieses Jahres, wurde mit 39 zeitgleich durchgeführten Hausdurchsuchungen ein weiteres Verfahren eingeleitet. Opfer dieser Durchsuchungen waren die GenossInnen aus den Gruppen von Autonomia di Classe in Rom und Viterbo, die das Europposizione-Bündnis ins Leben gerufen hatten. 21 Personen werden beschuldigt, in Viterbo eine „subversive Vereinigung“ mit dem Namen „Komitee gegen Knast und soziale Repression“ gegründet zu haben; gegen 30 andere wird wegen weniger schwerer Straftaten ermittelt, die mit der Teilnahme an politischen Aktionen dieses Komitees in Zusammenhang stehen. Das Verfahren stützt sich auf einen 200 Seiten langen Bericht, den die politische Polizei DIGOS ausgearbeitet und an einen Staatsanwalt aus dem Bereich Terrorismusbekämpfung weitergeleitet hat. Dieser Bericht besteht aus einer Unmenge von Protokollen, die das Ergebnis einer konstanten und erschreckend ausgiebigen Überwachungstätigkeit sind, die vom Abhören von Versammlungen bis zur persönlichen Beschattung Einzelner ging. Diese Überwachung richtete sich nicht nur gegen die 51 Angeklagten, sondern gegen fast hundert GenossInnen, das heißt gegen alle die in Rom und Viterbo im autonomen und anarcho-autonomen Spektrum besonders aktiv sind.

Noch wichtiger und krasser als das Verfahren gegen Europposizione ist ein seit zehn Jahren laufender Mega-Prozess, der unter dem Namen des Vorsitzenden Richters Marini bekannt geworden ist, und kürzlich abgeschlossen wurde. Es handelt sich um das schwerwiegendste Verfahren, das seit 1979 gegen GenossInnen, die nicht Teil einer bewaffneten Organisation sind, geführt wurde. Der Marini-Prozess beruht auf einem gerichtlichem Konstrukt, demzufolge fast hundert Angeklagte Teil einer mysteriösen terroristischen und aufständisch-anarchistischen Organisation sein sollen, die angeblich in Italien, Spanien und Griechenland ihren Ursprung hat. Obwohl es außer den Aussagen einer Kronzeugin, die sich außer an eine Reihe von Namen an keinerlei Fakten mehr erinnern kann, keine Beweise für die Existenz einer solchen Organisation gibt, wurden eine Reihe von direkten Aktionen, Sabotageaktionen, Anschlägen und Banküberfällen von den Richtern miteinander in Verbindung gebracht, um von einem organisierten Umsturz-Projekt sprechen zu können, von einer bewaffneten anarchistischen Bande. Die Ermittlungen und der Prozess selbst sind mit Methoden geführt und von einer Hetzkampagne begleitet worden, die denen des Prozesses gegen Sacco und Vanzetti in den zwanziger Jahren in nichts nachstehen. Am 20. April wurde in letzter Instanz das Urteil gesprochen. Sechs GenossInnen sind zu langjährigen Haftstrafen verurteilt worden: Francesco Porcu zu lebenslänglicher Haft, einschließlich anderthalb Jahre Isolationshaft, Rose Ann Scrocco zu 45 Jahren Haft, sie ist aber zum Glück untergetaucht, Gregorian Garagin zu 39 Jahren, Angela Maria Lo Vechhio (Marina) zu 15 Jahren, Orlando Campo zu zehn, und Alfredo Maria Bonanno, ein bekannter anarchistischer Theoretiker, zu sechs Jahren. Die GenossInnen befinden sich jetzt schon im Gefängnis.

III.
Um ein vollständiges Bild der Situation zu vermitteln, müssten außer dem Marini-Prozess und dem Prozess gegen Europposizione eine Unzahl weiterer Verfahren aufgeführt werden, die in den letzten drei Jahren die politische Arbeit der GenossInnen aus vielen Gruppen in allen Städten Italiens stark behindert haben. Statt mich damit aufzuhalten sie alle aufzuzählen, denke ich, dass es sinnvoller ist, Zeit für einige allgemeinere Überlegungen zu lassen. Vor allem ist es notwendig hervorzuheben, dass die Prozesse gegen KommunistInnen und AnarchistInnen von einer Reihe von Maßnahmen begleitet werden, die nicht nur das Leben derer, die die Verhältnisse umstürzen wollen, sondern die gesamte Gesellschaft immer mehr in ein Gefängnis verwandeln: Parallel zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes, zum Abbau des Sozialstaates und der Forderung nach Opferbereitschaft, um die Wirtschaft zu sanieren und sich eine wichtigere Rolle an der Spitze des neugeborenen imperialistischen Blocks Europa zu erobern, verstärkt der Staat die soziale Kontrolle durch Videoüberwachung und die neu eingeführten Kontaktbereichsbeamten und verschärft die Strafgesetze dahingehend, dass jetzt auch bei politischen Straftaten Anti-Mafia-Gesetze anwendbar sind. Jeder Ausdruck eines gesellschaftlichen Konflikts wird, sobald er die Gleise eines harmlosen Kampfes mit gemäßigten und demokratischen Forderungen verlässt, mit scharfer Repression bekämpft. Ein Beispiel dafür sind die Zahlungsbefehle in Höhe von 250 Euro, mit denen über tausend FahrerInnen der öffentlichen Verkehrsbetriebe in Genua bestraft wurden, weil sie dem Beispiel ihrer Mailänder Kollegen gefolgt waren, die mehrere kämpferische und wilde Streiks geführt hatten.

Die linksradikalen Gruppen leben also nicht in einem luftleeren Raum. Die Repression die sie trifft, ist die andere Seite der sozialen Repression, die Tag für Tag zur Verteidigung der kapitalistischen Ausbeutung ausgeübt wird: Gefängnisse sind der notwendige Ausdruck der Klassenherrschaft und sie wurden sicherlich nicht erfunden, weil KommunistInnen und AnarchistInnen und ihre revolutionären Ideen existieren. Die Ursache der Repression darf also nicht in der Existenz der jeweilig diensthabenden Henker gesucht werden, in der Existenz der verschiedenen Staatsanwälte, die Karriere machen, indem sie diejenigen ins Gefängnis bringen, die die existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse umstürzen wollen: die Repression ist dem Zwangscharakter der kapitalistischen Verhältnisse immanent und Kind ihrer Widersprüche.

All das, was so als ein etwas abstrakter und nichtssagender Gedanke erscheinen könnte, wird klarer, wenn man es auf das italienische Beispiel der letzten Jahre bezieht. In einer Phase der ökonomischen Krise mit der daraus folgenden Notwendigkeit zur Intensivierung der Lohnausbeutung müssen soziale Kämpfe präventiv unterdrückt werden, um eine mögliche Radikalisierung solcher Kämpfe von vornherein zu verhindern. Es ist diese präventive Repression, die die GenossInnen trifft und mit der versucht wird, eine Verbindung zwischen ihnen und den Dynamiken spontaner sozialer Rebellion zu verhindern. Diese Repression ist in den letzten Jahren angestiegen - parallel zur Verschärfung der ökonomischen Krise und dem Anstieg der sozialen Kämpfe der ArbeiterInnen, ihrer Generalstreiks und ihrer radikaleren, wilden Streiks.

Um die Repression der letzten Jahre in Italien zu verstehen, muss man jedoch auch andere Faktoren berücksichtigen. Von besonderer Bedeutung ist zum Beispiel die schrittweise Ausweitung der Verselbständigung des Polizeiapparates und eine zunehmende Politisierung der Bullen. Diese Prozesse sind in Genua deutlich geworden, aber auch bei späteren Vorfällen sind sie klar zu beobachten, so zum Beispiel bei den brutalen Polizeiübergriffen in einem Krankenhaus in Mailand nach dem Tod eines von Faschisten angegriffenen Genossen vor ungefähr einem Jahr. In diesem Zusammenhang ist es notwendig darauf hinzuweisen, dass zwar sicherlich die Sympathie vieler Minister der Berlusconi-Regierung für faschistoide Methoden einen Einfluss auf das Vorgehen der Polizei und ihr Vertrauen auf Straffreiheit hat, die Verselbständigung des Polizeiapparats dennoch nicht nur mit Blick auf die Mitte-Rechts-Regierung erklärbar ist. Es war die Mitte-Links-Regierung unter D’Alema, die im Jahr 2000 einen entscheidenden Schritt in Richtung Unabhängigkeit des Polizeiapparats machte, indem sie den Carabinieri das Recht zubilligte, ihre Kommandanten selbst zu wählen. Mit Blick auf die repressive Strategie des italienischen Staates in den letzten Jahren muss man sagen, dass sie trotz Farbenwechsels an der Staatsspitze von einer deutlichen Kontinuität gekennzeichnet ist. Genua war die Bewährungsprobe: Von da an haben die Strafverfahren als eine Art Keil fungiert, der die ohnehin schon gespaltene Bewegung noch weiter auseinander brachte.

Dieser Keil hat einige Teile des Spektrums weiter nach rechts getrieben, bis sie wieder ins System verfassungsmäßiger Positionen eingegliedert werden konnten und für die Wiederherstellung des sozialen Friedens einsetzbar waren. Bei anderen Teilen der Szene kam es zu einer Radikalisierung, weniger auf theoretischer als vielmehr auf praktischer Ebene, durch die es den staatlichen Organen einfacher wird, sie zu isolieren und als „terroristische Gruppen“ zu bekämpfen. Diese Repressionsstrategie funktioniert: Die strafrechtliche Verfolgung von Hunderten von GenossInnen hat viele von ihnen zu verzweifelten Versuchen getrieben, auf all das eine angemessene Antwort zu geben, ohne darauf zu achten, dass die Staatsdiener wie Scharfschützen darauf lauern, dass wir blind vor Wut aus der Deckung treten und uns festnehmen lassen. Auf der anderen Seite sind die von einer anderen möglichen Welt Träumenden damit beschäftigt, das Übertreten der demokratischen Spielregeln zu verhindern, indem sie bei Demos häufig und gerne durch Ketten, die der Polizei den Rücken zuwenden und sich gegen die eventuell aus dem Ruder laufende Demo richten, die Beschützer der Ordnungskräfte spielen.

Die Repressionsstrategie funktioniert, weil viele radikale Gruppen ihre tägliche politische Arbeit zum Teil aufgeben, um sich Kampagnen gegen die Repression zu widmen und sich so in den engen Raum einer selbstreferentiellen Politik zurückziehen, die zu einer weiteren Isolierung und damit zu größerer Verwundbarkeit führt. Nicht ein frontaler Gegenangriff, sondern immer weiter verbreitete, immer bewusstere und immer unkontrollierbarere soziale Kämpfe sind der Sand, der das Getriebe der Repressionsmaschinerie sabotieren kann. Weder ein Regierungswechsel noch die Demokratisierung des Polizeiapparates stellen eine Lösung für das Problem der Repression dar, sondern nur der Umsturz der Klassenherrschaft, die diese Repression hervorbringt.

Solidarität mit allen eingeknasteten und angeklagten Genossinnen und Genossen und mit allen Gefangenen der Lohnarbeit!

Für eine Gesellschaft ohne Knäste und Klassen!

Editorische Anmerkungen:

Das Referat wurde auf einer Veranstaltung der freundinnen und freunde der klassenlosen Gesellschaft am 23.04.2004 in Berlin gehalten und uns mit der Bitte um Veröffentlichung am 28.7.2004 zugesandt.