Die deutsche Linke hat zu Israel/Palästina schon
immer ein gebrochenes Verhältnis gehabt. In den frühen 60er Jahren spielte
Israel für die fortschrittliche bzw. demokratische Bewegung in Deutschland
ungefähr die Rolle, die in den späten 60er Jahren China spielte: Israel galt
als besonders demokratisches Land, als sozialistisches Ideal mit seinen
Kibbuzim und als Bastion des Antifaschismus. Viele junge Deutsche sind aus
antifaschistischer Einstellung heraus nach Israel gegangen, haben in den
Kibbuzim gearbeitet und dies als einen Beitrag zum Kampf gegen den Faschismus
verstanden. Die Positionen der arabischen Staaten gegenüber Israel
wurden entweder nicht zur Kenntnis genommen oder für Relikte des
Antisemitismus gehalten, das Schicksal des palästinensischen
Volkes war vollkommen unbekannt, und auch der Befreiungskampf der Algerier hat
an dem blinden Fleck im Auge der demokratischen Jugend in Deutschland
gegenüber den Problemen der arabischen Welt nichts geändert. Unter den
Demokraten und Linken fand in Deutschland die Entführung Eichmanns ungeteilten
Beifall, Kritik daran blieb der Rechten vorbehalten. In keinem Land Europas
war die Identifikation von Antifaschismus und pro-israelischer Haltung derart
stark. Das begann sich erst 1967 während und nach dem Krieg zu ändern, wobei
die Berichterstattung der Springerpresse eine gewisse Rolle spielte, vor allem
ihr Versuch, pro-israelische Sympathien in Deutschland gegen die schon
ziemlich entfaltete antiimperialistische Bewegung zu mobilisieren. Dieser
Prozeß des Umdenkens ging aber sehr langsam vor sich. Die Nachricht vom
Ausbruch des 67er Krieges erreichte die damalige linke Bewegung in Deutschland
in einer besonderen Situation. Am 5.6.1967 befanden sich Tausende von
Studenten auf dem Campus der Freien Universität Berlin. Sie protestierten
gegen die Erschießung Benno Ohnesorgs, der bei einer Demonstration am 2. Juni
gegen den Schah in Berlin den Tod gefunden hatte. Als die Nachricht vom
Ausbruch des Krieges eintraf, bildeten sich um die wenigen arabischen
Studenten Diskussionstrauben. Die arabischen Studenten fanden weder Gehör noch
Verständnis, sondern ertranken fast in einem Meer an Feindseligkeit. Noch
1968, auf dem Berliner Vietnamkongreß, wurde ein schwarzer Amerikaner, der das
Problem des besetzten Palästinas zur Sprache bringen wollte, am Reden
gehindert. Der bürgerlichen Presse, etwa der ZEIT, blieb es vorbehalten, auf
das Schicksal der Palästinenser aufmerksam zu machen, auf die Menschen aus den
Flüchtlingslagern in der Westbank, die abermals zum Aufbruch und zur Flucht
gezwungen wurden. In anderen europäischen Ländern war es ähnlich, so erklärte
Sartre bei Ausbruch des Krieges, daß ihn die Ereignisse noch zwingen werden,
eine pro-amerikanische Position einzunehmen.Das
besondere Verhältnis der europäischen Öffentlichkeit hängt mit der
faschistischen Besetzung, der Vernichtung des europäischen Judentums und dem
antifaschistischen Kampf zusammen. Nirgends aber war die Identifikation mit
Israel so ausgeprägt wie in Deutschland. Das hatte seine Rückwirkungen auf die
sich dann allmählich herausbildende Palästinasolidarität in Deutschland. Die
deutsche Linke hatte gegenüber der europäischen in dieser Frage einen
Vorsprung aufzuholen und übernahm ziemlich schematisch antiimperialistische
Positionen, ohne die Phase der Betroffenheit über geschehenes Unrecht und der
Empörung gegen Unterdrückung und Entrechtung durchlaufen zu haben. Diese
schematische Anwendung antiimperialistischer Kategorien auf das
Palästina/Israel-Problem wirkt bis heute fort und ist die Ursache einiger
Schwächen der Palästinasolidaritätsbewegung. Zum einen setzt sie in ihrer
Argumentation auf einem relativ hohen theoretischen Niveau an, argumentiert in
erster Linie historisch, völkerrechtlich und imperialismustheoretisch. Erst in
letzter Zeit findet sie eine von der Anschauung motivierte Sprache und
argumentiert vom Schicksal der betroffenen Menschen her. Die
Solidaritätsbewegung mit Vietnam und die Empörung gegen den Rassismus in
Südafrika erfaßt breiteste Kreise unter Einschluß rechtsliberaler und
liberalkonservativer Kreise bis hin zur antiimperialistischen Linken, und zwar
weil sie das Schicksal der Betroffenen anspricht und vor Augen führt. Anders
die Palästinasolidaritätsbewegung. Sie wendet sich gleichsam an ein
Fachpublikum und ist bis heute auf die Linke beschränkt
und hat nicht einmal eine besonders breite Basis in den linken Organisationen
selbst. Die unter Linken vorherrschende Argumentationsweise, die in erster
Linie die historische Entwicklung vom l. Zionisten-Kongreß
in Basel, dem Hussein/McMahon-Briefwechsel (1),
der Balfour-Deklaration (2)
etc. etc. aufzählt und der begrifflichen Anstrengung, Zionismus mit
Imperialismus gleichzusetzen, besondere Aufmerksamkeit schenkt, hat dazu
gefuhrt, daß selbst unter Linken das Palästinaproblem eine Spezialdisziplin
für Fortgeschrittene ist. Im Bewußtsein der linken Palästinaspezialisten
existiert die palästinensische Realität auch eher im Medium palästinensischer
Strategievorstellungen und der 10-Punkte-Erklärung der PLO als in den
Tatsachen des palästinensischen Alltags in den Lagern, im Exil, auf dem
Westufer und im eigentlichen Israel. Die meisten Linken, die in der
Palästinasolidarität stehen, sind in der Frage, ob Israel ein Staat ist oder
ein Existenzrecht hat, meist versierter als in der Frage, welche konkreten
Auswirkungen die Besatzungspolitik auf die Menschen in Palästina hat oder wie
Palästinenser im europäischen Exil leben. Während die meisten, die sich in der
Vietnamsolidarität engagierten, nie was vom 10-Punkte-Programm der FNL gehört
hatten, geschweige denn seinen Inhalt kannten, dafür aber von der Realität des
Bombenterrors ausgingen, kennen die, die in Palästinasolidaritätskreisen
arbeiten, das 10-Punkte-Programm der PLO meist auswendig.
Der Schematismus, mit dem der Palästina/Israel-Konflikt
unter die Kategorien des Kampfes der Dritten Welt gegen Imperialismus
subsumiert wurde, hatte aber nicht nur Sterilität der Argumentationsweise und
Isolierung der Palästinasolidarität auf dem linken Flügel der öffentlichen
Meinung zur Folge, sondern führte auch zu Kurzsichtigkeit und
Fehleinschätzungen. Die Linke entwickelte bislang überhaupt keine
Kritikfähigkeit gegenüber der einen Seite des Widerspruches, der PLO. Da die
PLO im Gegensatzpaar Unterdrücker - Unterdrückte die Position des Befreiers
einnimmt, war sie prinzipiell im Recht, und bestimmte Schwächen, wie
Widersprüchlichkeit der Programmatik, Terrorismus als militärstrategische
Leitlinie, mangelnde Verankerung uner den Palästinensern in den besetzten
Gebieten und in Israel, Abhängigkeit von arabischen Staaten, lösten zwar
Unbehagen aus, wurden aber nicht richtig zur Kenntnis genommen.
Palästinasolidarität ist auf Seiten der Linken gekennzeichnet durch einen
Hurrapalästinensismus, der die vielschichtigen Probleme einer Nation im Exil
und unter Besatzung ausblendet.
Auch die andere Seite des Widerspruchs wurde von der
Linken nicht richtig wahrgenommen. Erst relativ spät kommt die Erkenntnis zu
ihrem Recht, daß Israel trotz rassistischer Politik gegenüber den
Palästinensern nicht Rhodesien ist, daß Israel inzwischen mehr ist als ein
„Zionist Entity" und die Juden mehr als eine Religionsgemeinschaft, daß
Israel, was immer sein Ursprung war, heute eine Nation ist und die Juden in
Israel zumindest eine Gemeinschaft mit volksähnlichem Charakter sind; daß
keine Lösung des Nahostkonfliktes ohne Anerkennung der nationalen Rechte der
Palästinenser aber auch keine ohne Anerkennung der nationalen Rechte der
Israelis denkbar ist.
Schließlich bricht unter dem Eindruck der
Holocaust-Diskussion nochmal die Frage nach dem Zusammenhang zwischen
Judenvernichtung und Entstehung des Staates Israel auf, ohne daß die Linke auf
diese Frage mehr als eine stereotype Antwort hat.
Das Palästinaproblem und das Schicksal des
palästinensischen Volkes und sein mögliches Verhältnis zu Israel beschäftigt
heute die Öffentlichkeit in zunehmendem Maße. Das ist zum Teil auf
internationale Erfolge der PLO zurückzuführen, zu einem gut Teil auch auf
palästinensische Terroranschläge, die damit immerhin etwas Positives bewirkt
haben, besonders aber auf die israelisch-ägyptischen Friedensverhandlungen
und die in diesen Verhandlungen besonders umstrittene Frage der
palästinensischen Souveränität bzw. Autonomie. Überprüft man aber, welches die
brennendsten Fragen sind, die die Öffentlichkeit stellt, muß man feststellen,
daß die Linke auf diese Fragen als Antworten nur Formeln hat, die inzwischen
brüchig sind.
Terrorismus
Meist steht die Frage nach dem Terrorismus der
Palästinenser im Vordergrund. Selbst da, wo zugegeben wird, daß der
Terrorismus eine gewisse Anfangsfunktion hatte dadurch, daß er erst der
Weltöffentlichkeit ein Paar Ohrfeigen verpassen mußte, damit sie das
Palästinaproblem zur Kenntnis nahm, ist der Hauptgrund für Zurückhaltung
gegenüber palästinensischen Zielvorstellungen der Abscheu vor dem Terrorismus.
Die Linke hat auf diese Frage keine Antwort, sondern nur Bruchstücke einer
Antwort, die aber jedes für sich unzureichend sind. Ein Teil der Antwort
besteht darin, den Terrorismus als Strategie der PLO zu leugnen und darauf zu
verweisen, daß sie sich von einer Reihe solcher Anschläge distanziert hat.
Andererseits gibt es aber Anschläge, und zwar besonders solche, die tiefe
Spuren im Bewußtsein der Öffentlichkeit gelassen haben, wie der Überfall auf
eine Schule und ein Jugendlager in Maalot bzw. Kiriat Schmone, auf die
israelische Olympiamannschaft in München, den Bus auf der Straße von Tel Aviv
nach Haifa und die Anschläge auf den Märkten von Jerusalem und Tel Aviv, zu
denen sich die eine oder andere Organisation bekannt hat, und außerdem wissen
wir heute, daß z.B. der „Schwarze September" sehr wohl eine geheim operierende
Unterorganisation der Fatah war bzw. ist. Die anderen Teile der Antwort sind
nicht überzeugender.
Sie bestehen in dem Verweis auf die Durchmilitarisierung
der israelischen Gesellschaft, die ein Unterscheiden zwischen zivilen und
militärischen Zielen unmöglich macht, bzw. in einem Verweis auf die besondere
Lage, vor allem auch die psychologische, der Palästinenser.
Existenzrecht Israels
Die zweitwichtigste Frage ist die nach dem Existenzrecht
Israels. Bisher betrachtet die Linke immer noch das 10-Punkte-Programm als für
sich verbindlich und antwortet mit dem Verweis auf den Staat, in dem Juden,
Moslems und Araber gleichberechtigt leben können. Dieser strategischen
Zielsetzung haftet aber heute etwas Utopisches an, im positiven wie im
negativen Sinn, heute jedenfalls fehlt jeder Ansatz für die Umsetzung eines
derartigen Planes, schon weil keine der angesprochenen Gruppen sich heute als
religiöse Gruppe versteht.
Bündnispartner
Die dritte Frage schließt sich meist an die zweite an
und fragt danach, wer auf israelischer Seite Partner der Palästinenser sein
könnte. Die Standardantwort darauf fällt je nach Standort der linken
Gruppierung verschieden aus und verweist entweder auf die israelische
Arbeiterklasse oder die orientalischen Juden als Bündnispartner der
Palästinenser. Beide Verweise sind völlig spekulativ. Weder die Arbeiter noch
die Orientalen stellen heute in Israel auch nur ein Oppositionspoten-tial dar.
Dieses propalästinensische Oppositionspotential muß erst noch geschaffen
werden und wird sich zunächst sicherlich nicht aus den angesprochenen
Bevölkerungsgruppen rekrutieren. Die einzig heute in Israel existierende
organisierte Opposition, die Rakach und ihr Block, sind keine israelische
sondern eine nationale palästinensische Opposition.
Judenstaat und Judenverfolgung
Die vierte Frage schließlich gilt dem Zusammenhang von
Judenstaat und Judenverfolgung, haben die Juden nach allem, was ihnen angetan
wurde, nicht ein Recht auf einen Staat und ein Leben in Frieden. Auf den
Zusammenhang zwischen Israel und Nationalsozialismus angesprochen antwortet
die Linke für gewöhnlich mit dem Verweis auf die zionistisch-faschistische
Zusammenarbeit. Diese Zusammenarbeit hat es gegeben, sie ist, wie
unvollständig auch immer, dokumentiert (3), und dennoch
ist der Verweis auf diese Zusammenarbeit in dieser Frage nicht sehr
aussagekräftig. Mit den Nazis haben halt alle zusammengearbeitet, wenn es
ihnen gepaßt hat. Stalin hat mit den Nazis zusammengearbeitet, die
Westalliierten, die meisten arabischen Staaten, die palästinensische
Nationalbewegung (4), warum also nicht der Zionismus?
Die Zusammenarbeit der Zionisten mit den Nazis war nicht
konstitutiv für die Schaffung des Staates Israel, hingegen war
Auschwitz auf seine Weise dafür konstitutiv. Die Nazis haben in Europa eine
Situation geschaffen, in der vielen Juden, ob sie Zionisten waren oder nicht,
keine andere Wahl blieb, als nach Palästina zu gehen.
Dieser kurze Abriß der Geschichte des Verhältnisses der
Linken zu Israel/ Palästina ist ernüchternd. Die antiimperialistische Bewegung
steht heute mit ziemlich leeren Händen vor einem wachsenden Interesse an den
Palästinensern, und was es an Ansätzen zu einer breiteren Solidaritätsbewegung
gibt, kommt von Gruppen und Organisationen, die von Hause aus eher Israel
verpflichtet sind, wie z.B. der Aktion Sühnezeichen, dem aus der
Deutsch-Israelischen Gesellschaft ausgescherten Deutsch-Israelischen
Arbeitskreis für Frieden im Nahen Osten, verschiedenen kirchlichen
Friedensdiensten, Gruppen also, die überhaupt kein antiimperialistisches
Selbstverständnis haben. Die ESG hat als einzige Gruppe mit einer
antiimperialistischen Dimension versucht, einen Zugang zu dieser Strömung zu
finden, ist in einer Reihe von Fragen aus dem linken Konsens ausgeschert und
steht dennoch ziemlich isoliert in dieser Bewegung. Zeit also für einen
Neuanfang und ein Überdenken aller Positionen.
Palästinasolidarität in Deutschland
Die Wahrheit sowie Recht und Unrecht sind absolute
Größen, und kein Volk hat ein besonderes Verhältnis zur Wahrheit oder zum
Recht. So gesehen ist es eigentlich egal, ob man Palästinasolidarität in
Deutschland, Kanada oder in Syrien organisiert. Die Verbrechen des Zionismus
bleiben Verbrechen, ob man sie von Deutschland oder von Palästina aus
betrachtet. Dennoch glaube ich, daß Palästinasolidarität in Deutschland zu
organisieren bedeutet, daß man von anderen Voraussetzungen ausgehen muß, und
das nicht nur aus taktischen Gründen.(5) Die Deutschen
sind bestimmten historischen Erfahrungen verpflichtet, die Arabern und
Palästinensern nicht zugänglich sind. Das heißt, daß sich Deutschen eine
Dimension dieses Konfliktes erschließt, der Arabern und Palästinensern
weitestgehend verschlossen ist und auch bleiben wird, wenn sich die
europäische und besonders die deutsche Solidaritätsbewegung nicht in dieser
Frage einen eigenen Standpunkt erarbeitet und sich auf der Grundlage einer
eigenständigen Arbeit die Autorität erwirbt, diesen auch unverblümt zu
vertreten.
Solidaritätsbewegungen entstehen nicht aus dem Nichts,
sondern haben eine eigene Geschichte, deren Tradition sie verpflichtet sind.
Die antiimperialistische Solidaritätsbewegung, wie sie in den 60er Jahren in
Deutschland entstand, wurzelt in den Traditionen des Kampfes für Demokratie
und des Antifaschismus. Die Geschichte von Demokratie, Humanismus, politischem
Liberalismus und Antifaschismus ist in Europa und vor allem in Deutschland
aber seit Jahrhunderten untrennbar mit der Geschichte des europäischen
Judentums verbunden und das gleich in zweierlei Hinsicht: politisch und
geistesgeschichtlich.
Politisch ist die demokratische Bewegung Europas davon
gekennzeichnet, daß sie um das Schicksal des Judentums
und seines Emanzipationskampfes besorgt war. Alle demokratischen Bewegungen
Europas zählten die Emanzipation der Juden zu ihren Programmpunkten. Die
Niederlande zogen durch ihre demokratische Rebellion gegen Spanien die
unterdrückten Juden Spaniens und Portugals an, so daß Amsterdam zu einer
Hochburg des Judentums in Europa wurde. Die französische Revolution gab den
Juden volle Bürgerrechte, und jakobinische Strömungen in Deutschland
artikulierten ebenso programmatische Forderungen zur Judenfrage wie die
revolutionäre Bewegung des Vormärz und des Jahres 1848. Die demokratischen
Bewegungen Europas definierten sich geradezu im Kampf
gegen und in der Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus.
Geistesgeschichtlich beruft sich die
antiimperialistische Bewegung in Deutschland auf jüdisches Gedankengut und ist
diesem Erbe verpflichtet. Der ,,Geist der Utopie", der im Werk des Juden Karl
Marx lebendig geblieben ist, zog die neue Linke an und nicht der zum
Herrschaftsinstrument verkommene Sowjetmarxismus. Daß eine derartige
Neuentdeckung des Werkes von Karl Marx und eine Renaissance des Marxismus
überhaupt möglich war, verdankt die neue Linke einer Generation jüdischer
Denker, die ebenso wie das Werk von Marx selbst in der Tradition jüdischer
Prophetie stehen. Diesen „Geist der Utopie" wieder lebendig gemacht zu haben,
ist die Leistung solcher Leute wie Walter Benjamin, Ernst Bloch, Theodor
Adorno und Ludwig Marcuse. Diese utopischen Sozialisten sind nicht nur rein
zufällig Juden, sondern knüpfen mehr oder minder bewußt an die Tradition
jüdischer Prophetie an(6). Dieser Strang jüdischer
Geistesgeschichte ist nicht durch den Zionismus abgetötet worden, sondern lebt
in Unterströmungen des Zionismus weiter, in den politischen Anstrengungen von
Leuten wie Ahad Harn, Martin Buber und Nahum Goldmann.
Aus einer derartigen politischen und
geistesgeschichtlichen Tradition kann man nicht einfach aussteigen. Daß die
Palästinasolidaritätsbewegung es dennoch zu tun versucht hat, ist der
Hauptgrund dafür, daß große Teile selbst der Linken sich in ihr nicht
wiedererkannten. Das ist auch der Hauptgrund dafür, daß die
Palästinasolidaritätsbewegung weitgehend ein Monopol eines kleinen Teils der
antiimperialistischen Linken ist, der keinerlei Verbindung mehr zur
demokratischen Strömung in diesem Land hat.
Wie gebrochen das Verhältnis besonders jenes Teils der
Linken, der sich mit der Palästinasolidarität befaßt, zu seiner eigenen
Tradition des Kampfes gegen Antisemitismus ist, wurde während der Diskussion
über den Holocaust-Film deutlich. An dieser Filmserie wurden vorwiegend
ästhetische Mängel und das Moment der Rechtfertigung des Zionismus
herausgestellt. Diese Diskussion offenbarte einen abschreckenden Mangel an
Sensibilität und den stark theoretischen Charakter der Palästinasolidarität,
die in ihrer Parteinahme für die palästinensische Sache den tragischen
Charakter der israelisch-palästinensischen Konfrontation ausblendet. Wer von
der Darstellung des Untergangs des europäischen Judentums nicht zunächst
ergriffen und erschüttert ist, stattdessen die ästhetischen Kathegorien in den
Mittelpunkt rückt oder die Aussage des Films auf die Rechtfertigung des
Zionismus reduziert, der verdrängt die Kontinuität historischer Verantwortung
und legt ein Maß an Gefühlskälte oder Gefühlsverdrängung an den Tag, die
Zweifel an der moralischen und emotionalen Integrität seines Engagements für
unterdrückte Völker aufkommen läßt.
Die Stellungnahme der PLO zum Holocaustfilm (7) kann niemals die Stellungnahme
der deutschen Solidaritätsbewegung werden, wenn sich diese nicht außerhalb
ihrer eigenen Tradition stellen will. Diese Differenz sollte nicht unter den
Tisch gewischt sondern thematisiert werden. In kaum einer anderen Frage der
nationalen Befreiung ist die europäische und vor allem die deutsche Linke so
gut in der Lage, aus der Solidarität ein Geben und Nehmen zu machen wie im
Palästina/ Israelkonflikt.
Nahum Goldmann hat mit der Feststellung
„ohne Auschwitz kein Israel" völlig recht. Es ist zwar ebenso richtig, daß der
Holocaust allein niemals Israel geschaffen hätte, Israel nur entstehen konnte,
weil der Zionismus im Bunde mit dem britischen Imperialismus die Grundlagen
dieses Staates frühzeitig und lange vor der Judenverfolgung der Faschisten
gelegt hatte. Ebenso richtig aber ist es, daß diese zionistisch-britischen
Anstrengungen niemals zu einem Staatsgebilde wie dem heutigen Israel geführt
hätten, wenn der Faschismus und die Politik der Alliierten nicht eine
Situation geschaffen hätten, in der der Masse des europäischen Judentums in
der Tat keine andere Zuflucht als Palästina blieb.
Heute ist das Selbstbewußtsein der
Israelis weitgehend von der faschistischen Vernichtungsgefahr geprägt bzw.
von dem Bewußtsein, dieser Gefahr entkommen zu sein und vor dieser Gefahr nur
in Israel, im eigenen Staat, sicher zu sein. Keine Lösung des Nahostkonfliktes
ist denkbar, die die Geschichte der Juden und vor allem die jüngste
Geschichte nicht berücksichtigt. Das ist eine Erkenntnis, von der die PLO,
die Masse der Palästinenser und die Masse der Araber noch ziemlich weit
entfernt sind, aus verständlichen Gründen, warum sollten sie auch die Zeche
zahlen. Und dennoch wird die Existenz der Juden in Palästina und die Existenz
des Staates Israel untrennbar mit dem Trauma der Vernichtung verbunden
bleiben. Von den Juden aus gesehen heißt also die Zerschlagung Israels die
Fortsetzung von Auschwitz. Und solange die palästinensische Strategie davon
nicht ausgeht, gibt es in Palästina nur Kampf bis zum letzten Israeli und
keine Möglichkeit einer politischen Einigung. In dieser Frage kann die
europäische, vor allem aber die deutsche Palästinasolidaritätsbewegung einen
Beitrag zum Verständnis des Problems leisten. Und das sollte sie auch tun.
Fußnoten
1) Während des Ersten Weltkrieges
war Großbritannien vital daran interessiert, die unter os-manischer Herrschaft
lebenden Araber auf die Seite der Allierten in den Krieg gegen das osmanische
Reich zu ziehen. Der britische Hochkommissar in Kairo wandte sich an Hussein,
den Scherif von Mekka, den Hüter der heiligen Stätten des Islam. Hussein stand
über seinen Sohn Feisal mit arabischen nationalistischen Organisationen in
Damaskus in Verbindung. In der Korrespondenz zwischen McMahon und Hussein (der
erste Brief datiert vom 14.7.1915) geht es um britische Garantien für ein nach
dem Sieg über das osmanische Reich zu errichtendes unabhängiges
gesamtarabisches Königreich auf dem Territorium der heutigen Staaten der
arabischen Halbinsel (unter Ausschluß Adens) sowie der heutigen Staaten
Jordanien, Irak, Syrien, Palästina. Ausgenommen sollte lediglich das Gebiet
des heutigen Libanon sein. Dieses an Hussein Scharif gegebene Versprechen
wurde nie erfüllt, obwohl Hussein und sein Sohn Feisal einen arabischen
Aufstand leiteten, der den Türken schwere Schläge versetzte, ein Aufstand, der
untrennbar mit dem Namen Lawrence von Arabien verbunden ist.
2) Bei der Balfour-Deklaration
handelt es sich um einen Brief vom 2.11.1917 des britischen Außenministers
Balfour an Graf Rothschild, einen Sprecher der zionistischen Bewegung, in dem
dieser die Sympathie der königlich-britischen Regierung für die Pläne der
Zionisten ausdrückt, auf dem Gebiet Palästinas eine Heimstätte für die Juden
zu errichten. Die Balfour-Deklaration, die von den Zionisten als Rechtstitel
auf Palästina angesehen wird, steht in krassem Widerspruch zu den von McMahon
gegebenen Zusicherungen. Die in Frage stehenden Dokumente sind in zahllosen
Palästinamonographien auszugsweise wiedergegeben, z.B. in Edouard Atiyah und
Henry Cattan, Palästina, Versprechen und Enttäuschung, Palästina Monographie
Bd. 3, Rastatt 1970, S. 30 und S. 23. Ausführlichere Informationen finden sich
in George Antonius, The Arab Awakening, London 1946, und Robert John, Sami
Hadawi, The Palestine Diary, Palestine Research Centre, Beirut 1970.
3) Siehe: Paris Yahya, Zionist Relation with Nazi
Germany, Palestine Research Centre. Beirut 1978.
4) Haj Amin AI Hussein!, Mufti von Jerusalem und
langjähriger Führer und unangefochtene Autorität des palästinensischen
Widerstandes gegen die britische Mandatsmacht und zionistische Besiedlung,
ging nach seiner Ausweisung durch die Briten aus Palästina nach Berlin und
leitete dann jahrelang mit deutschen Geldern einen arabischen Rundfunksender,
der nach Palästina hinein strahlte.
5) Man kann davon ausgehen, daß
pro israelische Sympathie in Deutschland sehr häufig als Ausdruck des
Antifaschismus und weniger als Ausdruck des Prozionismus zu werten ist, und
entsprechend muß eine Politik, die alle demokratischen und antifaschistischen
Kräfte gewinnen will, vorgehen.
6) Am
Anfang dieser Erneuerung des Marxismus steht das Werk eines Nichtmarxisten,
des jüdischen Historikers und Philosophen Gerschom
Scholem. Die historische Darstellung und Deutung der jüdischen Mystik macht
sein Lebenswerk aus. Gerschom Scholem verband eine langjährige enge Beziehung
zu Walter Benjamin, den er nachhaltig beeinflußte und dem sowohl Bloch wie
auch Adorno und Marcuse verpflichtet sind.
7) aus einem SPIEGEL-Gespräch mit Jassir
Arafat („Der Spiegel", 12/79, S. 136)
SPIEGEL: Das ist eine Frage der deutschen Vergangenheit, über die wir wohl
schwerlich miteinander diskutieren können. Vielleicht haben Sie aber auch
davon gehört, wie tief die amerikanische Fernsehserie „Holocaust" Millionen
Deutsche bewegt hat. Arafat: Wie könnt Ihr so etwas akzeptieren? Warum die
neue Diskussion, warum die geistige Besatzung? Der Spiegel reitet auch auf
dieser Welle und veröffentlicht eine Serie über Konzentrationslager. Als ob
nur die Juden gelitten hätten und Millionen aus anderen Völkern nicht zählen
würden. Palästinenser leiden und sterben täglich durch die zionistische
Besatzung (...) Und noch zur Holocaust-Serie: Sie ist ein geplantes Theater.
Als die Zionisten merkten, daß die Sympathien für sie nachließen und die Maske
von ihrem Gesicht fiel, fingen sie an, dieses Theater zu veranstalten.
Editorische Anmerkungen:
Der Text umfasst die beiden letzten
Abschnitte des im Frühjahr 1980 erschienenen Artikels "Palästinasolidarität
nach Indochina, Holocaust und Camp David".
Dieser Artikel wurde in der
Zeitschrift "Befreiung", die zum maoistischen westdeutschen Spektrum
gehörte, in der Nr. 17/18 veröffentlicht. Die Nummerierung der
Fußnoten wurde für den virtuelle Reprint angepasst.