Frankreich - "Reform"terror im Hochsommer
Notverordnungen zur Beschäftigungspolitik treten heute in Kraft

von Bernhard Schmid, Paris
08/05

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Auch im Hochsommer kommt der "Reform"terror nicht zur Ruhe. Anlässlich der letzten Kabinettssitzung vor der Augustpause verabschiedete der französische Ministerrat am Dienstag dieser Woche schnell noch das Bündel aus einem halben Dutzend Notverordnungen, die angeblich die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit voran bringen sollen. Am Mittwoch, 3. August wurden die sechs Verordnungen (ordonnances) im Journal Officiel, dem französischen staatsoffiziellen Anzeiger, veröffentlicht ­ um am Donnerstag, 4. August in Kraft zu treten.  

Die Regierung hatte sich Anfang Juli dieses Jahres vom Parlament eine Gesetzesgrundlage absegnen lassen, aufgrund derer das Kabinett seine neuen "Reformen" auf dem Verordnungswege umsetzen konnte. Das bedeutet, dass die Maßnahmen zwar Gesetzeskraft erhalten (und wie Gesetzestexte im Staatsanzeiger veröffentlicht werden), aber nicht durch die Abgeordneten im Einzelnen diskutiert werden konnten. Stattdessen hatten die Parlamentarier allein über die "Gesamtphilosophie" des Reformpakets, wie sie aus dem dafür verabschiedeten Ermächtigungsgesetz hervorgeht, zu debattieren ­ aber eben nicht über den konkreten Inhalt der Maßnahmen. Selbst unter bürgerlichen Parlamentariern rief diese "Missachtung des Parlaments" zu Sommeranfang einiges Zähneknirschen hervor.  

Ursprünglich hieß es noch, dass die mit Abstand wichtigste (und umstrittenste) Maßnahme des neuen "Reform"pakets, also die faktische Abschaffung des Kündigungsschutzes in kleinen und mittleren Betrieben während der ersten zwei Jahre, "voraussichtlich zum 1. September" in Kraft treten solle. Offenkundig hatte man es aber eilig, und die neue Regel gilt nunmehr bereits ab heute. Auch war anfänglich noch geplant, dass die de facto erfolgende Aufhebung des Kündigungsschutzes während der ersten beiden Jahre der Vertragsdauer "in Betrieben mit weniger als 10 Beschäftigten" gelten solle. Von Anfang an war aber im Regierungslager diskutiert worden, ob man die Schwelle nicht auf 20 Beschäftigte anheben solle. Jetzt steht in den Zeitungen, die Maßnahme werde "zunächst in Betrieben mit höchstens 20 Beschäftigten" gelten. Die Tendenz geht also klar in Richtung Ausweitung des Geltungsbereichs der neuen Regel. Die sechs Notverordnungen im Einzelnen  

Im Einzelnen enthalten die Verordnungen, die zum Paket des so genannten "Plan d¹urgence d¹aide à l¹emploi" (Dringlichkeits- oder Notplan zur Beschäftigungshilfe) gehören, folgende Bestimmungen:  

  • Die faktische Aufhebung des Kündigungsschutzes in den Betrieben mit höchstens 20 Beschäftigten.
     
  • Die Nichtberücksichtigung der unter 26jährigen Mitarbeiter bei der Berechnung der Beschäftigtenzahl des Unternehmens. Diese Maßnahme, die zeitlich befristet ist und zum 31. Dezember 2007 ausläuft (wenn sie dann nicht verlängert wird...), soll angeblich jungen Leuten dazu verhelfen, leichter einen Job zu finden. Sie wird vor allem dazu dienen, dass in bestimmten Bereichen wie etwa im Fastfood-Sektor (Stichwort: McJobs für Studierende und Jugendliche aus Migrantenfamilien) fast alle Beschäftigten unter die neue Regel fallen und also zukünftig aus der Mitarbeiterzahl des Unternehmens herausgerechnet werden. Die konkrete Auswirkung wird darin bestehen, dass kein Betriebsrat gewählt werden kann und Gewerkschaften keine (teilweise freigestellten) Vertrauensleute benennen können, denn die Ausübung dieser gesetzlich garantierten Rechte hängt vom Erreichen oder Überschreiten einer bestimmten Mitarbeiterzahl ab ­ einen Betriebsrat und freigestellte Gewerkschaftsvertreter gibt es beispielsweise jeweils ab 50 Beschäftigten im Betrieb.  
  • - Die "berufliche Eingliederung" von jungen Leuten ohne Berufsqualifikation durch die Armee. Es handelt sich um die Ausdehnung einer Regel, die bisher in den französischen Übersee-Départements bestand, auf die "Metropole". Die Betroffenen können sich, indem sie sich bei der Armee verpflichten (Frankreich hat seit Anfang dieses Jahrzehnts eine Berufsarmee und die Wehrpflicht abgeschafft), eine dort absolvierte berufliche Ausbildung anerkennen lassen. Als Ziel wird proklamiert, auf diesem Wege im Jahr 2007 insgesamt 20.000 junge Leute zu "qualifizieren". Die Militaristen dürfen sich auch freuen.  
     
  • Die Erleichterung des Verwaltungsaufwands bei Unternehmen mit höchstens 5 Beschäftigten; sie können nunmehr die Unterzeichnung des Arbeitsvertrags, die gesetzlich erforderliche Anmeldung des Beschäftigungsverhältnisses und die Meldung bei der Sozialversicherung in einem Aufwasch erledigen. Das Einheitsformular nennt sich "Beschäftigungsscheck".  
     
  • Die Aufhebung bisher bestehender Höchst-Altersgrenzen bei der Bewerbung zum Eintritt in den öffentlichen Dienst. (Letzterer funktioniert in Frankreich über Concours, d.h. über nach dem Wettbewerbsprinzip funktionierende Aufnahmetests mit manchmal hohen Anforderungen an die Allgemeinbildung.) Selbst die Regierung hält diese Abschaffung der Altersbegrenzungen für eine weitgehend symbolische Neuerung.  
     
  • Steuerliche Maßnahmen: Unter 26jährige können, sofern sie einen Beruf ergreifen, in dem Arbeitskräfte- bzw. Fachkräftemangel herrscht (im Moment wird vor allem an das Gaststättengewerbe und an den Bausektor gedacht), dafür einen Steuerkredit in Höhe von 1.000 Euro bekommen. Und für mittelständische Betriebe wird der Grenzwert, unterhalb dessen die Arbeitgeber bestimmte Abgaben (vor allem für den sozialen Wohnungsbau und die berufliche Fortbildung) nicht abführen müssen, von bisher 10 Mitarbeitern auf nunmehr 20 Beschäftigte angehoben. Angeblich werden deswegen mehr Arbeitsplätze in mittleren Betrieben entstehen. Vor allem sparen diese nunmehr im Durchschnitt 5.000 Euro pro Jahr.  

Die Demontage des Kündigungsschutzes  

Die einschneidenste der geschilderten Maßnahmen bleibt aber doch die faktische Aufhebung des Kündigungsschutzes während der ersten beide Jahre des Arbeitsverhältnisses, (zur Zeit) in Betrieben mit höchstens 20 Beschäftigten.  

Bisher hatte der Arbeitgeber, der eine(n) Lohnabhängige(n) neu einstellte, die Auswahl zwischen zwei Vertragstypen. Er konnte einen unbefristeten Vertrag (CDI) abschließen, den er unter Angabe von Rechtfertigungsgründen ­ aus einem betrieblichen Motiv oder aus einem personenbezogenen (d.h. verhaltens- oder personenbedingten) Grund ­ aufkündigen kann. Falls der Rechtfertigungsgrund durch das Arbeitsgericht nicht akzeptiert wird, so schuldet der Arbeitgeber eine Abfindungszahlung, aber in der Regel keine Weiterbeschäftigung (außer wenn die Kündigung unter Verletzung eines Grundrechts erfolgte, d.h. etwa wegen legaler gewerkschaftlicher Betätigung oder Ausübung des Streikrechts ausgesprochen wurde). Und der Arbeitgeber konnte einen befristeten Vertrag (CDD) eingehen, wenn er voraussichtlich nur einen vorübergehenden Bedarf an zusätzlichen Arbeitskräften hat. Bei dem CDD hat der Arbeitgeber den Vorteil, dass er den Endpunkt des Arbeitsverhältnisses von vornherein kennt, aber er darf den Vertrag nur aus besonders wichtigem Grund (etwa einem schweren disziplinarrechtlichen Verstoß des Lohnabhängigen) vor Ablauf der vereinbarten Dauer kündigen. Ansonsten muss er, falls er den befristeten Vertrag gesetzeswidrig vor Ablauf der vereinbarten Dauer kündigt, den Lohn für die gesamte Laufzeit des CDD bezahlen.  

Nunmehr kommt aber ein neuer Vertragstyp hinzu, den der Arbeitgeber wählen kann, der so genannte "Neueinstellungsvertrag" (contrat nouvelle embauche). Er erlaubt es dem ­ mittelständischen ­ Arbeitgeber, einen Lohnabhängigen einzustellen, aber ohne Angabe von Rechtfertigungsgründen innerhalb der ersten beiden Jahre des Beschäftigungsverhältnisses zu entlassen. Angeblich soll sich dies beschäftigungsfördernd auswirken, da ­ so führt die Regierung zur Begründung der neuen Regelung an ­ die mittelständischen Betriebe auch bei Arbeitskräftebedarf bisher keine Neueinstellungen vorgenommen hätten, "weil sie die Beschäftigten sonst nicht mehr loswerden konnten". Diese Behauptung ist jedoch insofern absolut unzutreffend, als auch bisher der unbefristete Arbeitsvertrag ­ bei Vorliegen von Rechtfertigungsgründen, etwa bei einer "Bedrohung der Wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens" ­ aufgekündigt werden konnte.  

Gérard Filoche, beruflich als Arbeitsinspektor tätig und dezidierter Parteilinker bei den französischen Sozialisten, hat zur Analyse der absehbaren Auswirkungen dieses neuen Regelwerks einen interessanten Text verfasst (vgl. http://www.legrandsoir.info). Er schildert die zu erwartenden Konsequenzen wie folgt: "Wenn ein abhängig Beschäftigter unbezahlte Überstunden verweigert, dann kann er ’gefeuertŒ werden. Wenn ein abhängig Beschäftigter sich vor Ablauf der zwei Jahre zur Wahl der betrieblichen Vertrauensleute (Anm.: "délégués du personnel", diese Vertrauensleute werden in den Betrieben mit mindestens 10 Beschäftigten durch das Personal gewählt) bewirbt, dann kann er ebenfalls ’gefeuertŒ werden. Wenn er seinem Patron missfällt, dann kann er von heute auf morgen Œrausfliegen, ohne dagegen klagen zu können. Missfallen erregen, das kann aus allen möglichen Gründen erfolgen - aber in den meisten Fällen deswegen, weil jemand seine Rechte geltend macht, auf den Kollektivvertrag (Anm.: ungefähre Entsprechung zum deutschen Tarifvertrag) hinweist, auf den gesetzlichen Arbeitsbedingungen besteht, auf seine Würde besteht, nicht Gewehr bei Fuß steht. Was ist, wenn der Patron ihn seinen Kaffee kochen lässt, ihn um die Erledigung von Arbeiten bei ihm zu Hause bittet oder Arbeiten, für die er nicht ausgebildet ist, um Samstags- oder Sonntagsarbeit, ihn 12 Stunden am Stück am Arbeitsplatz bleiben lässt, ihn auffordert, Spesen nicht abzurechnen oder nicht in die Gewerkschaft einzutreten, keine Politik zu machen und nicht an der Wahl zum Arbeitsgericht teilzunehmen...? Wenn der Beschäftigte sich beschwert, ist er draußen. Keine schriftliche Angabe von Gründen ist erforderlich, also kann es auch keinen Prozess geben (...). Der Villepin-Vertrag eröffnet also eine <rechtsfreie Zone>, da der Beschäftigte während zwei Jahren, zwei mal 365 Tagen, jeden Abend beim Zu-Bett-Gehen nicht weiß, ob er am nächsten Abend noch eine Arbeit hat. Und am Vorabend des 730. Tages wird er erst recht zittern: Selbst wenn er sich zwei Jahre lang mächtig ins Zeug gelegt hat, kann der Arbeitgeber ihn feuern und einen anderen (Anm.: "Neubeschäftigten" nach derselben Regelung) nehmen..."  

Gewerkschaftliche Reaktionen  

Alle größeren gewerkschaftlichen Organisationen haben sich kritisch zum Inkrafttreten des neuen Maßnahmenbündels geäußert. Auch die (rechts)sozialdemokratische CFDT spricht auf ihrer Homepage von einer "falschen Orientierung". Mitten im Hochsommer ist jedoch an eine erfolgreiche Mobilisierung kaum zu denken. Der drittgrößte Gewerkschaftsbund, Force Ouvrière (FO), sprach von einer "sozialen Notwehrsituation" für die Beschäftigten. Für den Herbst haben mehrere Gewerkschaften Mobilisierungen angekündigt, so auch der Sekretär der CGC (Gewerkschaft der höheren Angestellten) Jean-Louis Walter in einem Interview mit der Wirtschaftszeitung "Les Echos" vom Mittwoch.  

Die CGT erwägt derzeit, für die dritte Septemberwoche zu "einheitlichen" Demonstrationen gegen die neue Offensive der neokonservativ-neoliberalen Regierung aufzurufen.  

Post scriptum: Die Bekanntgabe der Gewinne aus dem ersten Halbjahr 2005 zeigt eine erneute Gewinnexplosion bei vielen führenden französischen Unternehmen. France Télécom verzeichnet eine Profitsteigerung um 240 Prozent, der Stahlkonzern Arcelor um 122 Prozent und der Automobilkonzern Renault um 52 Prozent. (Zahlen nach "L¹Humanité" vom 3. August)  

Editorische Anmerkungen

Der Text wurde uns vom Autor am 4.8.2005 zur Verfügung gestellt.