Die "originäre Problematik" des "Kapitals"
Über Althussers strukturalistischen Angriff auf die Geschichte

von Alfred Schmidt

08-2012

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Wie nun sieht auf Grund der erörterten Prämissen der Althussersche Zugang zur »originären Problematik« des Kapitals aus? Althusser, und dem ist zunächst beizupflichten, empfiehlt eine »symptomatische Lektüre« des Marxschen Werks, eine solche nämlich, die jenen Motiven nachspürt, die objektiv in ihm angelegt sind, aber erst heute interessant werden; Marx selbst mußten sie unbewußt bleiben. Der Verfasser dieses Aufsatzes vertritt seit Jahren die Ansicht, daß Marx in seinen programatischen Vor- und Nachworten, die immer wieder als verbindlich zitiert werden, weit hinter dem zurückbleibt, was er in seinen materialen Untersuchungen theoretisch leistet. Daraus nun aber — wie dies bei Althusser geschieht — zu schließen, das Marxsche Selbstverständnis sei völlig belanglos für die philosophische Interpretation, ist ebenso verfehlt wie ein allzu naives Hinnehmen der Texte. Wohin es führt, wenn die Selbsteinschätzung eines so reflektierten Schriftstellers wie

Marx gänzlich mißachtet wird, zeigt sich besonders scharf an der Tendenz des »strukturalisierten« Marxismus, jedes sachliche Fortwirken Hegels im Kapital zu leugnen, nur um ja dem Marxschen Unternehmen den Glanz radikalen Neubeginns verleihen zu können. So fegt Althusser die gesamte Literatur über Marx seit Geschichte und Klassenbewußtsein beiseite, wenn er »die ganze modische Theorie der >Verdinglichung< zu einer bloßen Projektion der Entfremdungstheorie der Frühschriften auf die Analyse des Fetischcharakters der Ware im Kapital stempelt.(34) Es geht hier, wohlgemerkt, nicht darum, den inflationären - Marx hätte gesagt »belletristischen« — Gebrauch der Kategorie der Entfremdung oder des Humanismus zu verteidigen, wie er sich neuerdings bei Theologen eingebürgert hat. Althusser ist zuzustimmen, wenn er dagegen polemisiert, daß »die Zuflucht zur Moral, die tief in jeder humanistischen Ideologie verankert ist«, oft genug dazu dient, reale Probleme »imaginär« zu behandeln.(35) Ebenso berechtigt ist es, wenn er daran erinnert, wie sehr die kritische Theorie nach 1850 genötigt war, objektiven Strukturen gegenüber subjektivmenschlichen Momenten den Vorrang einzuräumen; die Entfremdungsthematik kommt zwar dem Begriff wie der Sache nach beim reifen Marx durchaus noch vor, aber sie wird nicht mehr an den abstrakten Kategorien eines (von Feuerbach inspirierten) aktivistischen Humanismus, sondern an den Inhalten der politischen Ökonomie entwickelt.

Freilich — und das wird von Strukturalisten meist übersehen — sind die Menschen für den dialektischen Materialismus keineswegs nur »Objekte« fester Ordnungen, sondern immer auch »Subjekte« ihrer jene Ordnungen stets wieder aufsprengenden Geschichte. Diese entsteht »dank der einfachen Tatsache, daß jede Generation die von der alten Generation erworbenen Produktivkräfte vorfindet, die ihr als Rohmaterial für neue Produktion dienen [. . .]. Die soziale Geschichte der Menschen ist stets nur die Geschichte ihrer individuellen Entwicklung, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht«.(36) Am Anfang des Achtzehnten Brumaire hebt Marx in einem be-

rühmten Satz hervor, daß die Menschen »ihre eigene Geschichte« machen, wenn auch »nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundnen, gegebenen und überlieferten Umständen«.(37) Aus beiden Zitaten geht schlagend hervor, daß Marx darin streng dialektisch dachte, daß er nie über den fertigen Produkten das Produzieren, nie über den Strukturen die strukturierende Tätigkeit vergaß. Die dialektischen Materialisten, betont auch der reife Marx, verbinden »die wissenschaftliche Einsicht in die ökonomische Struktur der bürgerlichen Gesellschaft« mit dem Kampf »um selbstbewußte Teilnahme an dem unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Umwälzungsprozeß der Gesellschaft«.(38) Auch hier bilden Struktur und Prozeß eine untrennbare Einheit. Jede Gegenwart ist durch Vergangenes strukturiert und bringt einen neuen, künftigen Zustand aus sich hervor. Was das Kapital angeht, dasjenige Werk also, auf das Althus-ser sich besonders gern beruft, so liefert es ebensowenig eine Handhabe für »theoretischen Anti-Humanismus« und »Anti-Historizismus« wie die anderen Arbeiten der Autoren. Untersuchen wir vorerst den Komplex des »Anti-Humanismus«. In der Tat gibt es beim reifen Marx nicht wenige Äußerungen, die auf den ersten Blick eine rein objektivistische Interpretation nahelegen. So unterstreicht er in seiner Polemik gegen Adolph Wagner, daß seine »analytische Methode« keineswegs »von dem Menschen, sondern der ökonomisch gegebnen Gesellschaftsperiode« ausgeht.'? Im »Rohentwurf« des Kapitals heißt es ausdrücklich: »Die Gesellschaft besteht nicht aus Individuen, sondern drückt die Summe der Beziehungen, Verhältnisse aus, worin diese Individuen zueinander stehn(40); sie ist, anders gesagt, ein objektiver Funktionszusammenhang. Im Kapital selbst schließlich schreibt Marx besonders drastisch, es handle sich bei seiner Untersuchung »um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnisen und Interessen«.(41)

Aber diese den Strukturalisten so imponierende Objektivität des Sozialen ist für den Dialektiker Marx kein unableitbar Letztes. Er begreift sie als produziert, »vermittelt« durch die zwar subjektiv bewußten, aber hinsichtlich ihres gesellschaftlichen Gesamtresultats unbewußten Handlungen der Menschen. »Sosehr nun«, entwickelt der Marxsche Rohentwurf, »das Ganze [. . .] als gesellschaftlicher Prozeß erscheint, und sosehr die einzelnen Momente dieser Bewegung vom bewußten Willen und besondern Zwecken der Individuen ausgehn, sosehr erscheint die Totalität des Prozesses als ein objektiver Zusammenhang, der naturwüchsig entsteht; zwar aus dem Aufeinanderwirken der bewußten Individuen hervorgeht, aber weder in ihrem Bewußtsein liegt, noch als Ganzes unter sie subsumiert wird. Ihr eignes Aufeinanderstoßen produziert ihnen eine über ihnen stehende, fremde gesellschaftliche Macht [. . .]. Die gesellschaftliche Beziehung der Individuen aufeinander als verselbständigte Macht über den Individuen, werde sie nun vorgestellt als Naturmacht, Zufall oder in sonst beliebiger Form, ist notwendiges Resultat dessen, daß der Ausgangspunkt nicht das freie gesellschaftliche Individuum ist«.(42)

Wenn irgendwo, dann wird hier einsichtig, wie unzulänglich die strukturalistische Interpretation der Marxschen Ökonomie ist. Bei aller Präponderanz der objektiven Strukturen im kapitalistischen System denkt Marx gar nicht daran, deren Ver-mitteltheit durch die lebendigen Menschen zu ignorieren. Daß diese zu bloßen »Trägern« und »Vollzugsorganen« eines unabhängig von ihnen bestehenden »objektiven Zusammenhangs« herabgesetzt werden, ist für ihn nicht etwa wissenschaftliche Norm, sondern Anlaß zu schärfster Kritik; denn »der Mensch« kann als »freies gesellschaftliches Individuum« zum Ausgangspunkt des Denkens erst dann werden, wenn er in der Realität kein Anhängsel entfremdeter, weil unbeherrschter Strukturen mehr ist. Marcuse hat denn auch nachdrücklich auf Elemente eines »kommunistischen Individualismus« bei Marx und Engels hingewiesen (43) darauf, daß die Autoren bereits in der Theorie jeden Fetischdienst hinsichtlich der Sozialisierung der Produktionsmittel oder des Wachstums der Arbeitsproduktivität zurückweisen; daß sie diese Faktoren der Idee einer allseitigen Entfaltung individueller Anlagen und Kräfte unterordnen. Soweit die Strukturalisten sich dabei bescheiden, vorhandene Strukturen aufzuweisen und zu zergliedern, versehen sie diese mit einer Art metaphysischer Weihe; ihre Theorie wird, mit anderen Worten, ungewollt zur Apologetik des Bestehenden. So übersieht Althusser völlig, daß seine Reduktion der (in Wahrheit geschichtlich motivierten) Lehre von der materiellen Produktionsweise des Lebens auf eine »Kombinatorik«, ein »System von Formen(44) den - im theoretischen Sinn - kritischen Impuls bei Marx unterschlägt. Solange »les vrais >sujets< (au sens de sujets constituants du proces)« nicht »les >individus concrets<, les >hommes reels< (45) sind, sondern die subjektlosnaturwüchsigen Produktionsverhältnisse, herrscht ein falscher Zustand. Ihn kann die strukturalistische Marx-Interpretation innertbeoretisch nicht wirklich bewältigen, weil die (auch materialistisch nicht zu überspringende) Konstitutionsfrage außerhalb ihres Horizonts verbleibt; sie kann ihn lediglich moralisch verdammen - in den Kategorien eines der politischen Sphäre entlehnten Humanismus. Daß sich die bürgerlichen Produktionsverhältnisse nicht auf eine »intersubjectivite an-thropologique (46) (die freilich stets auch die produktive Beziehung der Menschen zur Natur einschließt) zurückführen lassen, steht bei Marx gerade zur Kritik. Althusser jedoch trennt, wie wir bereits sahen, seine theoretische Konstruktion von der Idee der Weltveränderung, an welcher der Wissenscbaßsbegriff des dialektischen Materialismus gerade orientiert ist. Erkenntnistheoretisch ist Althussers Interpretationsansatz im strengen Sinn »naiv«, weil er die ökonomische Subjekt-Objekt-Dialektik zugunsten eines formalisierten Objektivismus aufgibt. Für Marx ist der wahre Gegenstand der Erkenntnis »ein von der zufälligen Erscheinung wesentlich unterschiedner und sie bestimmender Hintergrund«, der sich freilich zugleich in der Erscheinung manifestiert, in ihr aufscheint, durch sie »durchleuchtet«, wobei letztere immer auch konstitutiv fürs Wesen* ist.(47) Dieser den materialistisch-dialektischen Begriff von Wissenschaft geradezu definierende Gedanke ist für den Strukturalismus unbrauchbar, wo nicht gar sinnlos. Zwar gibt es auch für Althusser einzelne »Ebenen« der gesellschaftlichen Wirklichkeit, die durch ihre Beziehungen zum Ganzen signifikant werden. Aber, und darin liegt die entscheidende Differenz zu Marx, solche Beziehungen sind, wie Jaeggi darlegt, »keine Phänomene, keine Widerspiegelungen, kein Ausdruck eines Ganzen, das sich [. . .] hinter ihnen befände; sie sind im Gegenteil das Reale selbst, bilden das Ganze, innerhalb dessen sie ihre Signifikanz annehmen«.(48)

Indem sich Althusser, ähnlich übrigens wie die amerikanische, funktionalistisch gerichtete Soziologie (vor allem Parsons) am kahlen Modell eines komplex strukturierten Ganzen orientiert, das heißt an einem fertigen System, in das untergeordnete Strukturen (ideologische Bereiche) einzugliedern sind, wird sein Denken »eindimensional« im Sinn Marcuses. Mit den leibhaftigen Menschen und ihren ungestillten Bedürfnissen, die (in seiner Theorie jedenfalls) der starren Logik des sozialen Systems überantwortet werden, eliminiert Althusser materiale Geschichte, mit ihr die Idee des Werdens überhaupt.

Fußnoten

34) Cf. Marxismus und Humanismus, in: l. c., S. 180, Fußnote.

35) Ibid., cf. S. 201f

36) Marx an P. W. Annenkow, Brief vom 28.12.184«, in: Marx/Engels, ausgewählte Schriften, Band II, Berlin 1966, S. 412 f.

37) In: ibid., Band I, Berlin 1966, S. 116.

38) Marx, Herr Vogt, Berlin 1953, S. 75; 76.

39) Marx, Randglossen zu Adolph Wagners Lehrbuch der politischen Ökonomie, in: Marx/Engels, Werke, Band 19, Berlin 1962, S. 371 (Hervorhebungen von Marx).

40) Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 176 (Hervorhebungen vom Verfasser).

41) Marx, Das Kapital, Band I, I. c., S. 8; Vorwort zur ersten Auflage.

42) Marx, Grundrisse, 1. c., S. in (Hervorhebung von Marx). - Cf. zu dieser Dialektik von objektiver Struktur und subjektiven, sie konstituierenden Akten auch S. 155 f.

43 Cf. die Darstellung der Marxschen Theorie in seinem Buch Vernunft und Revolution, Neuwied/Berlin 1961, insbesondere S. 159 f.

44) Cf. Jaeggi, 1. c., S. 153.

44) Cf. Jaeggi, l. c.,S. 153

45) Althusser, Lire le Capital, 1. c., S.

46) Ibid.

47) Marx, Das Kapital, Band I, 1. c., S. 69.

48) Jaeggi, I.e., S. 53; cf. auch S. 52, wo Jaeggi darauf hinweist, daß der Strukturbegriff, wie Althusser ihn benutzt, nicht mit dem dialektischen Begriff von Totalität gleichgesetzt werden kann. »Struktur« ist vielmehr ein
»methodologischer Operator [. . .], der es ermöglicht, das Verschiedene und das Vielfältige zu erklären; gleichzeitig zeigt die Struktur, daß das Ganze ( -stets schon als feste Größe gegeben -, A. S.) nichts anderes ist als die Verschiedenheit, die das Reale ausmacht«.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus Alfred Schmidt: Der strukturalistische Angriff auf die Geschichte, erschienen in: Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie, Hrg. Alfred Schmidt, Ffm 1974, 4 Auflage, S. 204-209

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