Stadtumbau & Stadtteilkämpfe

Stadtkrise und soziale Bewegungen (Leseauszug 2)
Die Bedingungen lokaler sozialistischer Politik

von Juan Rodriguez-Lores

8-2013

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Global gesehen, kann man zwischen zwei historischen Typen lokaler Reformstrategie gegen die kapitalistische Stadt unterscheiden:

a) Radikale Reformprojekte, bei denen man glaubte, die politische Kraft der Arbeiterklasse für den Ausbau einer alternativen Gesellschaft und Stadt dadurch besser einsetzen zu können, daß man sie von der bürgerlichen Gesellschaft und der Stadt isolierte. Diese „Oasen" sozialistischen Friedens (frühsozialistische Antistädte einer neuen sozialen und staatlichen Ordnung oder sozialdemokratische Siedlungen eines proletarischen Kollektivs(9) haben meist an den Grenzen des »Munizipalismus" und unter dem Druck des „nationalen" Kontextes scheitern müssen: sie wurden aufgegeben oder ihre ursprüngliche Intention wurde schließlich pervertiert.

b) Eine andere, bis heute verfolgte lokale Reformstrategie beruft sich auf die Rolle des Staates als Vertreter des „allgemeinen Interesses"; ungeachtet der ideologischen Funktion dieser Rolle greift sie u. a. auf die Planung zurück als Instrument zur Durchsetzung der Fiktion dieses „allgemeinen Interesses" gegenüber den privaten Einzelinteressen. Da die darauf gegründeten Teilpolitiken eine systemstabilisierende Funktion haben können, indem sie zwischen den sozialen Konflikten vermitteln, kann eine solche Strategie in bestimmten konjunkturellen Phasen mit objektiven Erfolgen rechnen, die auf eine „Rationalisierung" und Verbesserung des Alltagslebens hinauslaufen (so z. B. ermöglicht die Regulierung der „Wirkungsweise" der Grundrente oder die Senkung der Reproduktionskosten der Arbeitskraft durch öffentliche Leistungen eine konfliktfreiere Abwicklung des Reproduktionsprozesses).

Es ist jedoch gleichermaßen illusorisch, auf dem klassischen sozialistischen „Munizipalismus" zu beharren, wie der systemkonformen lokalen Reformpolitik unbeschränkte Wirkungskraft zu testieren. Während man im ersteren Fall den notwendigen kompromißlerischen Charakter lokaler Reformen innerhalb eines „feindlichen" nationalen Kontextes vergessen möchte, so daß aus dem möglichen revolutionären Potential des Kompromisses schließlich ein Anpassungsmechanismus wird, unterschätzt man im zweiten Fall die widersprüchliche Lage der politischen lokalen Institutionen innerhalb des politischen und ökonomischen Systems.

Wir werden im folgenden versuchen, an drei Aspekten der gegenwärtigen historischen Lage Bedingungen zur Überwindung dieses Dilemmas festzuhalten: (a) der immanenten Widersprüchlichkeit der politischen lokalen Institutionen; (b) dem historischen Auftrag der städtischen Protestbewegungen; (c) den Perspektiven einer sozialistischen Strategie im Kampf um die Stadt. Dabei beziehen wir uns lediglich auf historische Erfahrungen in Italien seit Mitte der sechziger Jahre, speziell auf die lokale Strategie der traditionellen Linken, die (zunächst mit beträchtlichem Erfolg) in einem rationalen und sozialorientierten Management der kapitalistischen Entwicklung bestand, bis sie an strukturellen Handlungsrestriktionen der lokalen Institutionen sowie an der Politisierung der städtischen Probleme als Klassenprobleme scheitern und zumindestens teilweise diese Ansätze einer Revision unterziehen mußte.

2.1 Die immanente Widersprüchlichkeit der lokalen Institutionen. Der Sinn lokaler Autonomie

Bei der Entwicklung der Industriegesellschaft auf der Basis massiver Verstädterungsprozesse fällt vornehmlich den lokalen Institutionen die Aufgabe der Organisierung des „Alltagslebens" des Kapitals wie der Arbeiterklasse zu: durch Bereitstellung von Einrichtungen für den Massenkonsum (Wohnung, Gesundheit, Bildung, Kultur, Sport usw.) und für die verschiedenen Phasen des Produktionszyklus (von den sog. technischen Infrastrukturen bis zu der für diesen Zyklus zu errichtenden funktionalen Raumhierarchie). Diese Aufgabe gerät aber zwangsläufig an einem bestimmten Punkt in Konflikt mit der materiellen Entwicklung, aus der heraus sie sich aufdrängte. Die Bedingungen, die zu diesem Konflikt zwischen lokaler Politik und kapitalistischer Entwicklung führen, wurden in Italien später als in anderen europäischen Landern durch eine einseitige und rasche Industrialisierung des Nordens(10) seit den fünfziger Jahren materiell geschaffen und durch die darauf reagierenden Arbeiterkämpfe zu sozialen und politischen Problemen gemacht: einerseits vollzog sich die Überfüllung der „maßvollen" historischen Stadtstrukturen mit einem neuen, zum großen Teil aus dem Süden eingewanderten Industrieproletariat, andererseits setzten sich umfassende städtische Umgestaltungen für die Schaffung von neuem Raum für die direkt-produktiven und die tertiären Funktionen auf städtischem Territorium durch. Die Krise der Kommunen war seit diesem Zeitpunkt nicht nur eine finanzielle (auf Grund der entstandenen Mehrkosten für die Schaffung von Reproduktionsbedingungen für die Arbeitskraft und von technischen Infrastrukturen für die produktive Entwicklung), sondern ebenso eine politische. Die Unregierbarkeit der Städte kann zumindest an zwei Aspekten festgehalten werden: (a) die finanzielle wie politische Abhängigkeitssituation der lokalen Entscheidungseinheiten innerhalb der staatlichen politisch-administrativen Struktur, die sich darin zeigt, daß die dezentralen Planungsinstanzen immer mehr zu bloßen Ausführungsorganen der zentralen Politik dequalifiziert wurden; (b) die Abhängigkeitssituation der lokalen politischen Planung von der „objektiven" kapitalistischen Entwicklung, auf die sie mit ihren institutionellen Planungsinstrumenten weder „subjektiv" reagieren noch ihr entgegensteuern konnte.

(a) Schon die ersten Mobilisierungen der städtischen Bevölkerung seit Mitte der sechziger Jahre ließen deutlich werden, daß die Lösung der städtischen Konflikte weder nach oben weiter delegiert noch auf die Zukunft einer sozialistischen Gesellschaft verschoben werden konnte. Es zeigte sich, daß im Bewußtsein der Bevölkerung der Auftrag der lokalen Institutionen begriffen wurde und dies auch trotz ihrer offenbar gewordenen Handlungskrise. Die Strategie der italienischen Kommunen zur Erweiterung ihres Handlungsspielraums bestand lange Zeit ausschließlich darin, die in der politisch-administrativen Struktur verankerten Handlungsrestriktionen zu bekämpfen.(11) Die konservativen Kommunen verfolgten dabei lediglich eine Entflechtung des bürokratischen und urbanistischen lokalen Systems: angefangen bei den Quartieren sollten selbständige Lebensräume nach dem Muster eines präkapitalistischen Munizipalismus geschaffen werden.

Die von der KPI angeführten Kommunen dagegen organisierten sich gegen den Zentralstaat und suchten nach einer politischen Lösung, der „Dezentralisierung" des Staates. Dieses Ziel einer weitgehenden kommunalen Autonomie und einer demokratischen Kontrolle der staatlichen Politik von unten wurde stufenweise erkämpft: Einrichtung der Regionen, Übertragung von Teilen ihrer legislativen und Planungsbefugnisse auf die Kommunen, schließlich Ausbau der Quartiersinstitutionen als neue Basis für die demokratische Kontrolle der lokalen Politik und Planung durch die Gesellschaft. Ein Ziel scheint jedoch nach wie vor in weiter Ferne zu liegen: die finanzielle Autonomie der lokalen Regierungen, so daß die bisher erkämpfte Autonomie im politischen und Planungsbereich weitgehend unwirksam geblieben ist.(12)

(b) Gravierender ist jedoch der zweite, weniger berücksichtigte Aspekt der politischen Krise der lokalen Regierung, der Widerspruch zwischen kommunaler Planung und der autonomen „Planung" des Kapitals. In immer geringerem Maße ist die kommunale Planung Instrument der Vermittlung von Konflikten in der Stadtentwicklung, und immer mehr ist es das Kapital selbst, das mittels außerurbanistischer Instrumente und Maßnahmen die räumliche und soziale Struktur der Stadt direkt bestimmt (man denke z. B. an die industrielle Dezentralisierung, die Beschäftigungs- und Energiepolitik usw.). Die erkämpfte lokale Autonomie einer sozialistischen Stadtverwaltung jagt schließlich einer Illusion nach, wenn sie nur auf die Rückgewinnung der „Planung" als einem politischen Instrument für Reformpolitik gerichtet ist. So brachte die Ausschöpfung eines erkämpften politisch-admini-strativen und planerischen Autonomieraums den links regierten Kommunen in Italien bis Anfang der siebziger Jahre den Ruf ein, „gute" Verwalter zu sein; eine solche Strategie verschärfte jedoch langfristig die lokale Finanzkrise, löste nicht das Problem der Steuerung objektiver städtischer Prozesse und ging nicht über das hinaus, was jede andere progressiv-bürgerliche praktische Politik auch leisten kann: schlechten Realitäten gute (aber unwirksame) Pläne entgegenzusetzen, lokale Organe zum Sprachrohr sozialistischer Propaganda zu machen (die, wie im Falle der „unkorrupten" Stadtverwaltung, dem Sozialismus eine moralische Legitimation verleiht), und sektorale Reformen in Prosperitätsphasen durchzusetzen, die aber in den Rezessionsphasen wieder zurückgenommen werden müssen. Erst Anfang der siebziger Jahre war eine strategische Wende zu erkennen, die - programmatisch klar formuliert - bisher nur an wenigen Projekten realisiert werden konnte. Sie zielte darauf, den zugewiesenen oder gegenüber den zentralen staatlichen Instanzen erkämpften Handlungsspielraum antikapitalistisch zu orientieren, ihn also zu sprengen und die Legitimation für das dann notwendige „illegale" Handeln im Rahmen einer Veränderung der sozialen Kräfteverhältnisse zu suchen.

2.2 Historische Rolle der städtischen Bewegungen

Heute bieten sich die sozialen städtischen Bewegungen als eine neue Basis an, um den historischen Auftrag einer sozialistischen lokalen Regierung anders als zuvor zu definieren. Ihr objektiver Standpunkt qualifiziert die Rolle der städtischen Bewegungen politisch anders, als es der Fall bei den reformistischen Projekten zur Verbesserung der Lage der „arbeitenden" Bevölkerung bzw. zur Rationalisierung des staatlichen Handelns ist; sie begreifen nämlich die Organisation der Stadt und der in ihr sich vollziehenden Reproduktion des Lebens als eigene Aufgabe der betroffenen Massen und nicht mehr länger in Funktion der Produktion (als sog. „Reproduktion der Arbeitskraft"). Das subjektive Bewußtsein dieses „Klassen"-Standpunktes hat sich wohl nur in wenigen Fällen entfalten können; ungeachtet davon greift jedoch die gesellschaftliche Praxis, die einen solchen Standpunkt manifestiert, eine historische Lücke der traditionellen Politik der organisierten Arbeiterbewegung auf und verlangt von dieser Politik eine spezifische Antwort innerhalb des lokalen Rahmens. So sind auch in Italien die sozialen städtischen Bewegungen zunächst durch jene „Kinderkrankheiten" geprägt, die ihr beschränkter Entstehungszusammenhang (das „ökologische" Milieu, das Quartier usw.) typischerweise überall verursacht: durch einen Sektoralismus, der in der Reduktion der Forderungen auf isolierte Fragen (Wohn-, Verkehrs-, Umweltfragen usw.) hervortritt, und durch spontaneistische Organisationsformen, die paradoxerweise trotz ihres praktischen Radikalismus autoritätsfixiert bleiben und sich bald wieder auflösen, wenn die sektoralen Ziele erreicht bzw. verfehlt sind. Diese Situation scheint aber in der Praxis von großen Teilen der Bewegung bereits überwunden zu sein:

a) Auf ideologischer Ebene, wenn die zersplitterten, mannigfaltigen Forderungen (vom Kindergarten über die kulturellen und sportlichen Einrichtungen bis zur Wohnung als öffentlicher Dienstleistung) auf ein einheitliches Programm zurückgeführt werden, das die politische wie die urbanistische Struktur der bestehenden Stadt in Frage stellt; seine wesentlichen Elemente sind: die Selbstverwaltung des Alltagslebens und die Forderungen nach einem Stadttypus, in dem - bei Aufhebung des Warencharakters des städtischen kollektiven Konsums — eine „egalitäre" Befriedigung der kollektiven Bedürfnisse möglich wird;

b) Auf praktisch-politischer und organisatorischer Ebene, wenn Aktions- und Organisationsformen entwickelt werden, die nicht mehr allein die staatlich-lokalen Institutionen als Verhandlungspartner bzw. Gegner ansehen, sondern direkt jene kapitalistischen Kräfte (in Italien den sog. „Baublock"(13), die mittelbar, aber auch unmittelbar die Entwicklung der Stadt prägen und bestimmen. Es ist notwendig, diese zwei Ebenen in ihrer Wechselbeziehung zu sehen. So waren es die Organisationsformen (selbstverwaltete Stadtteilkomitees, Delegiertenräte für ganze Zonen, verschiedene Problembereiche und geographische Zonen übergreifende Organe, z. B. die Unione Inquilini) und Formen eigener radikaler Selbsttätigkeit (Häuserbesetzungen, eigenmächtige Reduzierung der Mieten usw.), die primär zu einer übergreifenden Sicht der Probleme und einer kohärenten Zielformulierung innerhalb der Bewegung selbst führten. Solche sozialen städtischen Bewegungen setzen damit sozialistischer lokaler Politik nicht nur konkrete Ziele (die Befriedigung der kollektiven Bedürfnisse, den „indirekten" Lohn); sie zeigen darüber hinaus auch den politischen Weg, auf dem die lokale Politik zwischen den Klippen ihrer immanenten Widersprüchlichkeit hindurch sich weiter entwickeln kann. Indem sie Selbstverwaltungsformen des Alltags praktizieren, initiieren und fordern sie zugleich eine neue, demokratische Art des Regierens, in dessen Mittelpunkt die politische Beteiligung der Massen stehen soll; indem sie die gesamtgesellschaftliche Funktion der lokalen Institutionen und der Stadt (Instrumente bzw. Ort des Reproduktionszyklus des „Kapitals" und der „Arbeitskraft" zu sein) praktisch negieren, geben sie dem lokalen Kampf eine antikapitalistische Qualität und antizipieren damit ein neues Entwicklungsmodell für die Stadt, das eine reale Alternative für die „soziale Rentabilität" der lokal-öffentlichen Investitionen enthält. Die politische Praxis dieser sozialen städtischen Bewegungen hat in den letzten Jahren einen nachhaltigen Einfluß auf die Theoriebildungsprozesse und auf die interne Reorganisation der linken Parteien und der Gewerkschaften ausgeübt. Dies hat sich u. a. in kommunalen Reformprogrammen sowie in der Vermehrung der parteilichen und gewerkschaftlichen Basisorganisationen, die an lokalen Problemen orientiert sind, geäußert.(14) Historisch relevant war vor allem ihr Einfluß auf die Veränderung der politischen Klassenverhältnisse - besonders auf kommunaler und regionaler Ebene.(15)

Dies schließt jedoch nicht aus, daß die praktischen Beziehungen der politischen Linken zu diesen Bewegungen fast immer gespalten und widersprüchlich waren und sie ihren historischen Auftrag nicht immer richtig wahrzunehmen wußten. Bei der traditionellen Linken, in den lokalen Institutionen bereits verankert, hat die Tendenz bestanden, die sozialen städtischen Bewegungen als Druckmittel für eine Politik der sozialen Reformen von oben zu instrumentalisieren, die Problemformulierung an der Basis von ihrer politisch-parlamentarischen Formulierung zu scheiden und erstere durch letztere zu ersetzen - eine Strategie, die politische Reformen blockiert und soziale Reformen u. a. von der besonderen Ressourcenverteilung in Prosperitätsphasen abhängig macht; im Namen des Anspruchs, die städtischen Bewegungen unter eine abstrakte „Führungsrolle" der Arbeiterbewegung zu stellen, haben beide Parteien und die Gewerkschaften meistens die Rolle eines integrativen Ordnungs- und Bremsfaktors des städtischen Protestes gespielt. Aber auch die Neue Linke ist in ihren Beziehungen zu diesen Bewegungen in dem Maße gescheitert, in dem sie auf dem ursprünglich spontaneistischen Charakter des städtischen Protestes beharren und ihn unmittelbar an globalen Veränderungen in Staat und Gesellschaft orientieren wollte. Sind im ersten Fall Radikalität und Spontaneität als politische Haltungen bekämpft und in ihrer organisatorischen Entfaltung weitgehend blockiert worden, so sind im zweiten Fall den städtischen Bewegungen die realen Instrumente für ihre politische Wirksamkeit verweigert worden.

2.3 Kampf gegen die „kapitalistische Nutzung der Stadt". Ziele und Perspektiven

Gegenüber einer allzu mechanischen Betrachtungsweise der Beziehungen von Kapitalismus und Stadt läßt sich schon geschichtlich leicht feststellen, daß die „kapitalistische Nutzung" des städtischen Territoriums nicht allein die Schaffung der bestmöglichen Bedingungen der Reproduktion des Kapitals zum Ziel hat, aus denen sich dann nur negative Folgen für die Arbeitskraft ergeben. Im Gegenteil: zu einer solchen „Nutzung" gehört ebenfalls (wenigstens in bestimmten konjunkturellen Phasen der kapitalistischen Entwicklung, vor allem aber in den entwickeltesten Zonen) die Schaffung von Bedingungen für eine erweiterte und kostengünstige Reproduktion der Arbeiterklasse.(16) Diese Tatsache schuf den Raum für den klassischen apolitischen Kommunalreformismus und erklärt die heutige Funktion reformistischer „Teilpolitiken" (in den Bereichen der Bodenreform, der Partizipation, des sozialen Wohnungsbaus usw.) für die Entschärfung und Kanalisierung von Konflikten auf städtischem Territorium. In diesem Sinne kann auch die Durchsetzung eines privatkapitalistischen und eines sog. „allgemeinen" Interessen als ein einheitlicher Prozeß der „Nutzung der Stadt" im kapitalistischen System angesehen werden.(17)

Es wäre jedoch falsch, daraus den Schluß zu ziehen, daß dieser Organisationsprozeß des städtischen Territoriums nur dem „Projekt" der herrschenden Klasse folgt und daß die unteren sozialen Schichten im städtischen Bereich nur in einen innerkapitalistischen Konflikt eingespannt (und höchstens zum Träger der progressivsten Ideologien des Kapitals gemacht) werden. Gerade einige Praxisformen der heutigen sozialen städtischen Bewegungen erzwingen wieder eine dialektische Betrachtungsweise der Stadt, nämlich: die Stadt nicht als mechanisches Resultat einer Gesamtstrategie des Kapitals, sondern als historisches Resultat des Klassenkampfes zu sehen. In dieser Betrachtungsweise ist dann die „kapitalistische (d. h. die vorherrschende) Nutzung" der Stadt ebenso Ausdruck des Reproduktionsniveaus, das sich die organisierte Arbeiterklasse politisch „leisten" kann. Das gilt nicht allein für eine Arbeiterklasse, die als hegemoniale Kraft die räumliche und ökonomisch-soziale Struktur der Stadt subjektiv prägt, sondern auch für eine Klasse, die sich nur als bloße „Arbeitskraft" (als „Teil des Kapitals", in einseitiger Anhängigkeit vom Lohn) reproduzieren kann.

Aus dieser Sachlage heraus kann sich für eine lokale sozialistische Strategie im Grunde noch nicht die Perspektive einer „sozialistischen" Alternative zur „kapitalistischen Nutzung" der Stadt ergeben, sondern lediglich die eines politischen Kampfes um die Stadt, um ihre Kontrolle. Dabei können traditionell reformistische Kampfstrategien (gegen die Bodenrente, die Spekulation, den privaten Wohnungsbau usw.) eine neue politische Qualität erhalten: sie können nicht mehr nur als bloße Instrumente der Verbesserung der Reproduktionsbedingungen der Arbeitskraft und der kapitalistischen Rationalisierung der Stadt, sondern auch als Mittel begriffen werden, um den Warencharakter der Stadt prozessual aufzuheben und sie dem individuellen Konsum und dem Marktmechanismus zu entziehen.(18)

Versuchen wir abschließend eine kurze Zusammenfassung unserer bisherigen Überlegungen, die den Sinn des folgenden, knapp dargestellten historischen Beispiels verständlicher machen sollten. Für eine lokale sozialistische Regierung genügt es nicht, die kommunale Politik, ihr planerisches und finanzielles Handeln an der Befriedigung jener kollektiven Bedürfnisse zu orientieren, die das System vernachlässigt bzw. vernachlässigen muß. Der Kampf gegen eine systembedingte Ressourcenknappheit und für die Erweiterung des lokalen Handlungsspielraums muß auf mehreren Ebenen gleichzeitig ausgetragen werden: a) Auf der Ebene der Institutionen gegen einen staatlichen Zentralismus, der eine juristische wie politisch-administrative Repression ausübt; hier fragt sich, inwiefern die erkämpfte lokale Handlungsautonomie den „Munizipalismus" überwindet und eine politische Machtbeteiligung der städtischen Bevölkerung realisiert, die in eine Kontrolle der allgemeinen Staatspolitik und ihrer Instrumente durch die dezentralen Instanzen einzumünden vermag und somit die Frage lokaler Demokratisierung mit der weitergehenden nationalen Macht- und Demokratiefrage verbindet.

b) Gesellschaftlich gegen die „Planung" des Kapitals, dessen Repression sich nicht nur durch die Investitionsverweigerung der Privatinvestoren manifestieren kann, sondern vor allem durch spezifische ökonomische Mechanismen für die Produktion der Stadt (Bodenrente, private Bauproduktion, industrielle Entwicklungspolitik usw.), die für reformerische Politik als Multiplikator der Reformkosten und als strukturelle Restriktionen wirken.

c) Städtebaulich gegen die räumliche Hierarchie der heutigen Stadt, die eine ständige Vernichtung von „kulturellen" wie auch ökonomischen Ressourcen in sich einschließt und jede Reformpolitik „überteuert".

So verstanden, bedeutet die Lösung der „ökonomischen Krise" (auch als Krise der Staatsfinanzen) für eine reformerische Politik, die diesen Namen verdient, nicht „Rationalisierung" der öffentlichen Investitionen oder „sozialere" Allokation der knappen Ressourcen. Sie kann sich nur als schrittweise Politik zur Veränderung der staatlichen Macht, der Klassenverhältnisse und der sozialen, ökonomischen und räumlichen Struktur der Stadt begreifen.

Anmerkungen

9) Der sozialdemokratisch beeinflußte Städtebau in der Weimarer Republik (insbes. die experimentellen Siedlungen in Frankfurt) werden heute immer mehr zu einem ideengeschichtlichen Bezugspunkt im reformerischen Denken der Stadtplanung. Zur historischen Interpretation dieser Projekte aus den zwanziger Jahren und ihrer heutigen theoretischen Wiederaufnahme vgl.: M. Tafuri, „Sozialdemokratie und Stadt in der Weimarer Republik", in: Werk /Oeuvre, 3/1974; J. R. Lores und G. Uhlig, „Zur Problematik der Zeitschrift ,Das Neue Frankfurt'", in: Werkberichte des Lehrstuhls für Planungstheorie der R WTH Aachen: Reprint aus „Das Neue Frankfurt/Die Neue Stadt" (1926 - 1934), Aachen 1977.

10) Diese ungleichgewichtige Form der Industrialisierung führte jedoch nicht allein direkt zu einer forcierten Verstädterung im Norden des Landes; indirekt verursachte sie gleichzeitig eine ähnliche Situation in Mittel- und Süditalien: dadurch, daß der traditionellen Erwerbsstruktur auf dem Lande die Basis entzogen wurde (Auswanderung von Arbeitskräften in den Norden, Unfähigkeit der präkapitalistischen Industrie im Süden, gegenüber den Industrieprodukten aus dem Norden konkurrenzfähig zu bleiben), setzte aus dem Land auch ein Wanderungsprozeß in die großen städtischen Zentren des Südens ein.

11) Zur Geschichte der kommunalen Dezentralisierung in Italien vgl. außer der italienischen Literatur: J. Rodriguez-Lores, „Kommunale Dezentralisierung und politische Planungsbeteiligung in Italien", in: Stadtbauwelt, 49/1976; B. Dente, „Arbeiterbewegung und Kommunen. Zur Kritik der Quartiersräte in Italien", in: arch+, 36/1977.

12) In der Finanzpolitik sind die italienischen Kommunen in den siebziger Jahren in engere Abhängigkeit von der Zentralregierung geraten. So liegt seit der Steuerreform vom 1. 1. 1973 die Finanzhoheit bei der Zentralregierung. Die Entschädigung, die den Kommunen für diesen Steuerverlust gewährt wird, bemißt sich auf der Basis der kommunalen Einnahmen im Jahre 1972. Aufgrund der starken Geldentwertung aber hatte sie sich real bis 1975 um mehr als die Hälfte verringert. Vgl. dazu: G. Pazzeschi, „Kommunale und interkommunale Planung in Bologna. Vorschläge für die Wiederherstellung des strukturellen Gleichgewichtes in den öffentlichen Finanzen", in: Kooperierende Lehrstühle für Planung der RWTH Aachen (Hrsg.), Sozialorientierte Stadterhaltung als politischer Prozeß. Praxisberichte und Analysen zu Re-formprojekten in Bologna und ausgewählten deutschen Städten, Köln 1976 (Kohlhammer), S. 56-71.

13) Der Begriff „Baublock" („blocco edilizio") ist in der italienischen Diskussion in erster Linie ein historischer Begriff, der die städtebauliche Praxis unter den Mitte-Links- und christdemokratischen Regierungen seit den sechziger Jahren bezeichnet, und gleichzeitig ein politischer Begriff, der bei der Bildung von Strategien von Klassenallianzen im Kampf um die Stadt bestimmend ist. Der Begriff als solcher bezeichnet eine einheitliche Front von historischen Interessen, auf die die kapitalistische Bauproduktion in Italien konkret gegründet ist: Interessen der Grundeigentümer, der Spekulanten, der Bauunternehmer, der Kreditanstalten, der Hauseigentümer und derjenigen Bevölkerungsgruppen, die als potentielle Haus- oder Wohnungseigentümer fungieren, sowie der Teile des politisch-administrativen Systems, die diese Interessen unterstützen.

14) Als politischer Faktor der Stadt- und Territorialplanung haben sich die gewerkschaftlichen „Zonenräte" besonders bewährt - territorial organisierte Basisorganisationen der Gewerkschaften, die die Reproduktionsfragen der Arbeiter zum Gegenstand ihrer Arbeit haben.

15) Hier sind u. a. die letzten Wahlerfolge der linken Parteien zu nennen, die in den Kommunal- und Regionalwahlen ab 1975 die Mehrheit der Stadtregierungen in den großen Industriezentren sowie die wichtigsten Regionalregierungen stellen konnten.

16) Ein interessantes historisches Beispiel ist der Reformismus im Städtebau der zwanziger Jahre. 1918 schrieb W. Rathenau: „Die Grundlage des neuen städtischen Wohllebens muß der städtische Boden bilden, der weder für den Millionenbauer noch für den Grundstücksschieber, Bauspekulanten und Mietstyrannen gewachsen ist ... Dagegen muß der städtische Grund, neu gebaut ... nach einigen Menschenaltern freies Eigentum der Gemeinde geworden sein. Die architektonische Verwahrlosung unserer Straßen wird, solange sie besteht, ein sichtbar mahnendes Zeugnis geben von der Verwahrlosung unserer Wiitschaftsbegriffe, die einem Stande unbewußter Monopolisten eine beliebig gesteigerte Besteuerung der Gemeinwesen in ihren besten Jahrzehnten zugewendet und unzählige Milliarden an bürgerliche Rentenempfänger verschenkt haben." (Die Neue Wirtschaft, 1918, 42).

17) Dies schließt nicht aus, daß dieser kapitalistische Gesamtprozeß durchaus konfliktuellen Charakter haben kann, und das schon allein aufgrund der Tatsache, daß auch der kapitalistische Block aus oft konträren Interessen besteht. Man denke z. B. an die zweideutige Funktion des Grundeigentums bei der kapitalistischen Entwicklung der Stadt: dient es (vor allem in den historischen Wachstumsphasen) als Kanal und Instrument für die Durchsetzung einer bestimmten Form der Entwicklung, so kann es auch (vor allem durch Überteuerung der Reproduktionskosten in Rezessionsphasen usw.) als Störfaktor der Entwicklung fungieren. Ähnlich zweideutig hat die urbanisti-sche Planung ihre Beziehungen zum Grundeigentum gestaltet: stand bei der Entstehung des modernen urbanistischen Plans im 19. Jahrhundert primär die Absicherung der Grund- und Hauseigentümerinteressen im Vordergrund, so sollte der „Plan" in anderen historischen Phasen die Funktion haben, die Wirkungsweise der Grundrente zu regulieren, ja sie einzudämmen und zu bekämpfen.

18) Es geht also um eine Lösung der Stadtfrage vom Standpunkt des Gebrauchswerts der Stadt für die Reproduktion des Lebens und um eine Lösung der damit verbundenen „Finanzfrage" als ökonomisch-rationellerer und kostensparender Allokation der vorhandenen Ressourcen. Beide hängen aber von der Realisierung jener politischen Hypothese ab, die schon zuerst Engels in bezug auf eine „sozialistische" Lösung der Wohnfrage formulierte: „Ich bin zufrieden, wenn ich nachweisen kann, ... daß (in unserer Gesellschaft) Häuser genug vorhanden sind, um den arbeitenden Massen vorläufig ein geräumiges und gesundes Unterkommen zu bieten. ... Und da haben wir schon gesehen, daß der Wohnungsnot sofort (nach einer sozialen Revolution) abgeholfen werden kann durch Expropriation eines Teils der den besitzenden Klassen gehörenden Luxuswohnungen und durch Bequartierung des übrigen Teils." (F. Engels, Zur Wohnungsfrage, Frankfurt a. M. 1974,8. 107 und 56). Was die heutigen Stadtkämpfe und ihre organische Verbindung mit der lokalen Politik und Planung zeigen können, ist, daß diese politische Hypothese Engels' dynamisch interpretiert werden muß, als ein Prozeß, der schon heute in der kapitalistischen Gesellschaft einsetzt.

Editorische Hinweise

Leseauszug aus:  Stadtkrise und soziale Bewegungen, hrg. v. Margit Mayer u.a.Köln/Ffm 1978, S, 149-157