Zum Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein
Leseauszug aus: Das Bewußtsein der Arbeiter

von Frank Deppe

08-2013

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Die marxistische Theorie über das Verhältnis von gesellschaftlichem Sein und Bewußtsein ist aber überhaupt nur dann adäquat zu begreifen, wenn der ihr zugrundeliegende Sachverhalt nicht als ein identisches, sondern als ein dialektisches Verhältnis begriffen wird. Die These von der notwendigen Aufhebung des Kapitalismus durch das bewußte geschichtliche Handeln der Arbeiterklasse müßte völlig unverständlich bleiben, würde das Bewußtsein ausschließlich als die Widerspiegelung der unmittelbaren materiellen Lebensverhältnisse produziert; denn geschichts- und gesellschaftsveränderndes Handeln ist — wie der Begriff der Revolution überhaupt — nicht durch die Identität, sondern durch die theoretisch-bewußte und praktische Negation der unmittelbaren Erfahrung möglich. Klassenbewußtsein als das „bewußte gesellschaftliche Sein" der Arbeiterklasse (158) kann darum ebenfalls nicht auf die Artikulation von sozialökonomischen Interessen eingeschränkt werden, obwohl sich — wie Engels bemerkte — „die ökonomischen Verhältnisse einer gegebenen Gesellschaft . . . zunächst als Interessen" darstellen (159). Bewußtes gesellschaftliches Handeln und Planen umschließt der marxistischen Theorie zufolge drei grundlegende Einsichten, die nicht ausschließlich auf der Basis spontaner Interessenartikulation, sondern wesentlich durch historische Lernprozesse entstehen. Es handelt sich dabei um die Notwendigkeit der Solidarität, der Organisation und des Kampfes um die politische Macht.

Friedrich Engels hat in seiner frühen Arbeit über „Die Lage der arbeitenden Klasse in England" die verschiedenen Phasen dieses Bewußtseinsbildungsprozesses herausgearbeitet (160). Erste Form des proletarischen Aufbäumens gegen die unmenschlichen Lebensverhältnisse des entstehenden Kapitalismus war das Verbrechen, der Versuch, individuell und ohnmächtig das Elend zu bewältigen. Diese Formen des spontanen Protestes, die meist mit selbstzerstörerischer Apathie — so z. B. Alkoholismus — einhergehen, sind im übrigen keineswegs auf die Periode der industriellen Revolution des ausgehenden 18. Jahrhunderts beschränkt(161). Sie reproduzieren sich heute in den Slums und Ghettos der Großstädte der westlichen Welt, und sie charakterisieren zum Teil die ohnmächtige Introvertierung der sogenann-ten „kulturrevolutionären Protestbewegung der Jugend". Das historisch nächste Stadium der Protestation, die Phase der „Maschinenstürmerei", in der sich die Arbeiter — als Opposition gegen die Bourgeoisie — gewaltsam der Einführung der Maschinen widersetzten, war einerseits Ausdruck der Einsicht, daß die Arbeitsverhältnisse das Elend verursachten, andererseits vermochte sie aber die Lebensverhältnisse nicht zu verbessern oder gar zu verändern. Im Gegenteil: „War der augenblickliche Zweck erreicht, so fiel die volle Wucht der gesellschaftlichen Macht auf die wieder wehrlosen Übeltäter und züchtigte sie nach Herzenslust, während die Maschinerie dennoch eingeführt wurde." (162) Erst die gewerkschaftlichen Arbeiterassoziationen mit ihrem spezifischen Kampfmittel, der kollektiven Arbeitsverweigerung, hoben die Entwicklung der Arbeiterbewegung und des Arbeiterbewußtseins auf eine qualitativ neue Ebene. Ihre „eigentliche Wichtigkeit" für die Entwicklung von Bewußtsein besteht darin, „daß sie der erste Versuch der Arbeiter sind, die Konkurrenz aufzuheben. Sie setzen die Einsicht voraus, daß die Herrschaft der Bourgeoisie nur auf der Konkurrenz der Arbeiter unter sich beruht, d. h. auf der Zersplitterung des Proletariats, aus der Entgegensetzung der einzelnen Arbeiter gegeneinander." (163) Das „working-men" -Bewußtsein objektiviert sich in der ökonomischen Organisation und in der defensiven Solidarität. Die Verbindung dieses ökonomischen Bewußtseins mit politischen Demokratisierungsforderungen, wie sie sich in der Bewegung des Chartismus darstellte, bezeichnete für Engels schließlich die vierte Phase. Die „Arbeiterfrage" entwickelte sich zur sozialen Hauptfrage des entfalteten Kapitalismus — zu einer Frage, die sich zunehmend auf die Ebene einer sozialen und politischen Machtauseinandersetzung verlagerte. Der Wahlspruch der Chartisten „Politische Macht unser Mittel, soziale Glückseligkeit unser Zweck" (164) signalisiert die Entwicklung des Sozialismus als Bewegung und Bewußtseinsinhalt der Arbeiterklasse. Klassenbewußtsein und Klassenorganisation stellen sich mithin dar als Resultate eines konfliktreichen historischen Prozesses, in dem sich die unmittelbare Erfahrung und Spontaneität zum Begriff der ganzen Gesellschaft und ihres Bewegungsprinzips, der Eigentumsfrage, verallgemeinert. Erst in dieser Beziehung des Denkens auf die „Gesellschaft als Ganzes" — so formulierte später Georg Lukacs — „ .. . erscheint das jeweilige Bewußtsein, das die Menschen über ihr Dasein haben, in allen seinen wesentlichen Bestimmungen" (165).

Zum Verständnis der Kategorie Bewußtsein ist die Darstellung von Engels in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen hebt sie sich klar von der Auffassung ab, daß Formen des kollektiven Bewußtseins — auf die Psychodynamik und das Verhalten des einzelnen Arbeiters aufbauend — als die Aufsummierung und Angleichung des individuellen Bewußtseins vieler Menschen abzuleiten seien. In diesem Zusammenhang ist auch der Begriff des Lernprozesses zu präzisieren. Als Prozeß der individuellen Aneignung von „facts" des gesellschaftlichen und politischen Lebens wäre er gewiß falsch verstanden. Er kann dagegen nur beinhalten, daß Aktion und Bewußtsein der Arbeiterklasse sich — nach einem Wort Hegels — „auf der Höhe ihrer Zeit" organisieren. Insofern ist der marxistische Begriff der Organisation kein formaler oder gar bürokratischer gewesen, sondern bezog stets die Organisation des Bewußtseins der Arbeiterklasse — d. h. die Aufklärung und unermüdliche Schulung der Arbeiterklasse — als wesentliches Element in den gesamten historischen Entwicklungsprozeß des Klassenkampfes mit ein. Ebenso wie später Georg Lukacs die revolutionären Arbeiterräte als ein Zeichen dafür betrachtete, „daß das Proletariat bereits an der Schwelle seines eigenen Bewußtseins . .. steht" (166), versteht Engels die gewerkschaftliche und politische Organisation als die Objektivierung jenes dialektischen Verhältnisses von Klassenlage und Klassenbewußtsein, dessen Inhalt gerade nicht die Identifizierung beider Momente, sondern die Einsicht ist, daß „... die Proletarier ... sich die gesellschaftlichen Produktionskräfte nur erobern (können), indem sie ihre eigene bisherige Aneignungsweise und damit die ganze bisherige Aneignungsweise abschaffen" (167)

Zum anderen arbeitet die Engelssche Darstellungsweise der „Arbeiterbewegungen" den Prozeßcharakter der kollektiven Bewußtseinsentwicklung heraus. Die Durchsetzung der gewerkschaftlichen Massenorganisationen und der politischen Organisation der Arbeiter ist nicht der unmittelbare Umschlag des spontanen Protestes, sondern Resultat langwieriger Klassenauseinandersetzungen, in denen sich das Bewußtsein, die strategischen und programmatischen Konzeptionen sowie die Organisationsformen unter dem Druck der sozialökonomischen Widersprüche und der politischen Repression des bürgerlichen Staates ständig korrigieren und neu formieren. Zumal die Geschichte des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts zeugt davon, daß dieser Prozeß keineswegs ein linear aufsteigender Anpas-sungsprozeß gewesen ist, sondern durch verlustreiche Niederlagen und blutige Unterdrückungsmaßnahmen hindurch immer wieder von neuem die Kraft zur Infragestellung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung gewann (168).

Anmerkungen

158) K. Marx: Deutsche Ideologie, a. a. O., S. 26.

159) ' F. Engels: Zur Wohnungsfrage, MEW, 18, S. 274. "

160) Vgl. neuerdings M. Vester: Die Entstehung des Proletariats als Lernprozeß, Frankfurt/M. 1970; E. P. Thompson: The making of the English working-class, Harmondsworth, Middlesex 1968.

161)  Vgl. Sittengeschichte des Proletariats, Wien—Leipzig o. J., bes. S. 181 ff.

162)  F. Engels: Die Lage ..., a. a. O., MEW, Bd. 2, S. 432.

163) Ebd., S. 436.

164) Ebd, S. 451.

165)  G. Lukacs: Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin 1923, S. 61/62.

166) Ebd., S. 93.

167) K. Marx / F. Engels: Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, S. 472. Aufheben ist hier stets im dreifachen Sinne des Oberwindens, Aufbewahrens und zugleich „Auf-eine-höhere-Stufe-Hebens" begriffen.

168) Nur so ist z. B. die Entwicklung der revolutionären Bewegungen in Frankreich zwischen 1830 und 1871 zu verstehen, vgl. dazu F. Deppe: Verschwörung . .., a. a. O., S. 214/215.

Editorische Hinweise

Der Text wurde entnommen aus: Frank Deppe, Das Bewußtsein der Arbeiter, Köln 1971, S. 61-64