40 Familien besetzen
in Mailand Luxuswohnungen
Gestern früh um 5.45 Uhr haben 40 Arbeiterfamilien
ein Haus des neuen Wohnblocks des Istituto Autonome Case
Popolari in der Via Tibaldi besetzt.
Diese Familien haben vorher in alten baufälligen
Häusern, in Baracken oder in viel zu teuren Wohnungen in
den Vorstädten gewohnt. Mit der Häuserbesetzung wollen
sie ihr Recht auf eine angemessene und bezahlbare
Wohnung mit entsprechenden sanitären Anlagen
durchsetzen. Sie sind entschlossen, sich kollektiv zu
organisieren, um ihre Probleme zu lösen; sie wollen
nicht länger auf irgendwelchen Wartelisten stehen,
sondern aus ihrer neu gewonnenen Machtposition mit IACP
verhandeln. Diese Familien sind schon seit langem von
den Genossen, vor allem von Lotta continua, mobilisiert
worden. Auch in den Betrieben und den benachbarten
Schulen haben sie Solidarität und Hilfe gefunden. (Il
Manifesto,, 2. 6. 1971)
40 Familien haben mit einer
Besetzung auf die reformistische Wohnungspolitik
geantwortet
Die 40 Arbeiterfamilien, die gestern früh das
Haus in der via Tibaldi besetzt haben, kommen in
ihrer Aktion voran. Das besetzte Haus ist ein neues
noch unfertiges Gebäude; Bauherr ist das Istituto
Autonomo Case Popolari, das die Wohnungen zum
Verkauf anbietet (es sind Luxuswohnungen, jede
kostet 20 Millionen Lire).
Dazu die Arbeiterfamilien: »Das IACP baut mit dem
Geld der Proletarier Luxuswohnungen, in denen
Proletarier niemals wohnen können.« Jetzt wehen rote
Fahnen auf dem besetzten Haus, und ein Plakat am
Eingang verkündet: »Die KPI ruht sich aus bei der
Wohnungsreform - die Proletarier kämpfen.«
Die Familien (insgesamt 200 Personen) sind
Arbeiter von Pirelli, Brion Varga und aus anderen
Fabriken; die meisten sind vor nicht allzu langer
Zeit aus dem Süden zugezogen. Einige von ihnen
hatten vor der Besetzung zwar schon eine anständige
Wohnung, aber sie konnten die hohen Mieten nicht
bezahlen und mußten sie deshalb räumen; deshalb
haben auch sie sich der Besetzung gestern
angeschlossen.
»Wir wollen nicht hier bleiben, denn das Haus ist
noch nicht fertig; Wasser, Licht, sanitäre Anlagen -
alles fehlt noch. Selbst wenn die Polizei nicht
sofort eingreift und uns rausschmeißt, können wir
hier nicht länger bleiben. Wir brauchen Wohnungen,
und die müssen sie uns geben. Immer wieder haben wir
Wohnungen gefordert; einige von uns haben schon vor
mehr als vier Jahren Anträge an das IACP gestellt.
Aber dann haben wir gesehen, daß nicht nur wir
dieses Problem haben, es betrifft viele von uns. |
Die
Häuser gehören uns.
Die ganze Stadt gehört uns.
|
Deshalb haben wir uns organisiert, zuerst innerhalb
eines Häuserblocks. Wir haben Versammlungen gemacht und
Verantwortliche gewählt. Dann haben wir uns mit weiteren
Familien zusammengeschlossen, um eine gemeinsame Aktion
zu machen. Um uns zu spalten, hat man einigen von uns
eine Wohnung angeboten; aber wir haben uns geweigert,
das Problem individuell zu lösen: alle müssen eine
Wohnung bekommen. So haben wir alle gemeinsam diese
Besetzung beschlossen: wir haben es satt, noch länger zu
warten; was sie uns nicht geben, das nehmen wir uns.«
Inzwischen versuchen alle, das Haus ein bißchen
wohnlicher zu machen und die notwendigsten Dinge zu
besorgen. Im ersten Stock sind eine Kantine und ein
technischer Versorgungsraum eingerichtet worden.
Außerdem ist ein Solidaritätsfonds eingerichtet worden.
Vor dem Haus stehen ständig einige Genossen von Lotta
continua und anderen linken Gruppen Wache. Sie
organisieren auch die Mobilisierung und Propaganda in
den Stadtteilen. Die traditionellen politischen Kräfte
reagieren kalt und zynisch. Die Unita von heute
wirft den Besetzern vor, ihre Aktion sei »unfruchtbar«
und werde von sektiererischen Gruppen manipuliert; die
Zeitung der KPI schreibt: »Die Mechanismen, die den
Arbeitern das Recht auf eine anständige Wohnung
verweigern, sind viel zu kompliziert und mächtig, als
daß man sie mit einer simplen Besetzung außer Kraft
setzen könnte, einer Besetzung von unfertigen Wohnungen,
die dazu noch Volkseigentum sind. Die Millionen
italienischen (und Mailänder) Arbeiter, die eine
wirkliche Kraft sind, machen keine Häuserbesetzungen,
sondern sie kämpfen geduldig für eine neue
Wohnungspolitik, damit das Problem nicht nur für ein
paar Familien, sondern für alle gelöst werden kann.«
Hat die KPI etwa in den vergangenen Jahren eine
»fruchtbarere« Kampf form vorgeschlagen? Hat sie denn
wirklich gekämpft, um diese »komplizierten Mechanismen«
zu zerschlagen? Das ewige und erfolglose Hin und Her um
das Reformgesetz belehrt uns vom Gegenteil.
(Sandro Bianchi, in: Il Manifesto, 3. 6. 1971)
Der Kampf dehnt sich aus. Immer mehr Proletarier
beteiligen sich an der Besetzung
Die Nachricht von der Besetzung hat sich wie
ein Lauffeuer in den proletarischen Stadtteilen
verbreitet. Weitere Familien haben ihre Baracken, in
denen sie bisher gehaust haben, aufgegeben und sich der
Besetzung angeschlossen.
Jetzt halten schon 53 Familien das Haus des IACP
besetzt. Das IACP aber hüllt sich in Schweigen und teilt
nur mit, es habe das Problem dem Bürgermeister und der
Gemeindeversammlung überantwortet, die heute nachmittag
um 17.00 Uhr tagt, um die Sache zu prüfen. Die
Delegierten der Familien haben härtere Kampfformen
angedroht, falls die Gemeindeverwaltung ihre Sache
verschleppt. Gestern haben sie eine Demonstration
gemacht: »Wohnungen sofort!«, »Die Miete zahlt man
nicht, die Wohnung nimmt man sich«, »Nein zu den
Kündigungen, ja zu den Besetzungen: die Kapitalisten
sollen die Krise bezahlen!« - mit diesen Parolen sind
Hunderte von Demonstranten durch die umliegenden Straßen
gezogen. Inzwischen hat eine Familie ganz allein ein
anderes, altes Haus in der via Tibaldi besetzt. ..
(Il Manifesto,, 4. 6. 1971)
Die Familien aus dem besetzten Haus in der Via
Tibaldi demonstrieren vor dem Rathaus
Am Donnerstag haben die Familien, die das Haus in der
via Tibaldi besetzt halten, ein Go-in im Palazzo Marino,
dem Sitz der Gemeindeverwaltung, gemacht. Der
Bürgermeister Aniasi hat es nicht für nötig befunden,
die Proletarier zu empfangen - vielleicht war er
beleidigt, weil seit einigen Tagen vor dem Eingang des
besetzten Hauses ein Hampelmann baumelt, mit einem
Schild um den Hals: »Aniasi, du kriechst den
Kapitalisten in den Arsch«. Im Gegenteil, da die
Proletarier schließlich die heilige Ordnung des Palazzo
Marino empfindlich störten, wurden sie von den
Stadtwachen auf die Straße geworfen; auf dem Platz
gegenüber machten Polizisten und Carabinieri sich
einsatzbereit. Durch die Besetzung in der via Tibaldi
ist das Wohnungsproblem wieder zum Thema Nummer i
geworden und die politischen Kräfte werden gezwungen,
sich in aller Öffentlichkeit zu kompromittieren. Die KPI
wirft den Besetzern permanent vor, sie hätten sich in
ihrer Verzweiflung von bestimmten Individuen benutzen
lassen, die nur ihr eigenes Süppchen kochen wollten; sie
stellt aber auch fest, daß es bereits die dritte
Besetzung innerhalb weniger Monate ist. Daher fordert
sie die Verwaltung auf, zwei Aufgaben in Angriff zu
nehmen: erstens soll jeder Polizeieinsatz vermieden
werden; zweitens soll die Gemeinde für die zahlreichen
Einwanderer aus dem Süden, die kein Dach über dem Kopf
haben, leere Wohnungen beschaffen. Auch die PSI hat sich
in diesem Sinn geäußert und hat vorgeschlagen, man soll
die 700 leeren Wohnungen im Bezirk Pieve Emanuele dazu
benutzen. Die PSIUP hat die Spekulationen des Istituto
Autonomo Case Popolari (IACP) angeprangert; es lasse die
alten Häuser abreißen und neue luxuriöse Häuser bauen,
die wegen der hohen Kosten nur für die Mittelschichten
in Frage kämen und nicht für die Arbeiterfamilien. Wie
auch immer. Bisher ist noch keine praktische
Entscheidung gefallen und die Familien leben weiter in
dem besetzten Haus und verstärken ihren Kampf. Am
Donnerstag Nachmittag haben sie die Straßen blockiert,
um die Öffentlichkeit über ihre Aktion aufzuklären und
Solidarität zu fordern. Durch die Blockaden hat es
starke Verkehrstauungen gegeben, aber die Bevölkerung
war ganz und gar nicht verärgert, wie die bürgerliche
Presse uns weismachen will. Abgesehen von einigen
Dauerhupern haben die meisten Geld für die Familien
gespendet.
(Sandro Bianchi, in: // Manifesto, 5.6. 1971)
Jeder hat das Recht auf eine Wohnung; im Namen dieses
Rechts müssen wir gegen die Gesetze und Institutionen
der Bourgeoisie rebellieren. Der Kampf um dieses Recht
muss zu einer Massenbewegung werden
2000 Polizisten gegen 40 Familien. Aber
inzwischen haben schon 30000 Mailänder Mieter ihre
Mieten selber gesenkt.
Alles hat ganz früh am Sonntag Morgen begonnen. Etwa
2000 Polizisten waren unerwartet in das besetzte Haus in
der via Tibaldi eingedrungen und hatten die Räumung
angeordnet. Schlaftrunken haben die Leute keinen
Widerstand geleistet. Die Familienväter sind auf
Anordnung des Oberstaatsanwalts in grünen Minnas zum
Polizeipräsidium abtransportiert worden. Die Frauen und
Kinder weigerten sich, in die anderen Polizeiwagen zu
steigen; statt dessen haben sie zwei öffentliche
Autobusse besetzt; sie wollten zum Rathaus fahren und
dort gegen den Polizeieinsatz protestieren.
Die beiden Autobusse fahren los, eskortiert von zwei
Funkstreifenwagen. Aber statt zum Rathaus leiten die
Bullen die Autobusse zu zwei Obdachlosenasylen; sie
versuchen den Frauen diese jämmerlichen Unterkünfte
aufzuschwatzen, aber die Frauen weigern sich. Da fragt
die Polizei sie nach ihren Adressen und will sie in die
Baracken zurücktransportieren, aus denen sie erst vor
wenigen Tagen ausgezogen waren, um endlich eine
anständige Wohnung zu bekommen. Die weiblichen
Polizisten versuchen, Panik zu verbreiten: sie
behaupten, es drohe eine Masern-Epedemie, die Kinder
müßten unbedingt voneinander getrennt werden; jeder
solle in seine alte Wohnung zurückkehren oder eine
Unterkunft im Obdachlosenasyl suchen. Aber die Frauen
bleiben hart: sie steigen nicht aus und erreichen
schließlich, daß sie zur Piazza XXIV
Maggio gebracht und dort abgesetzt werden. Nur
wenige Schritte davon entfernt ist das Mailänder Büro
des Manifeste, und genau da wollen sie hin. In
der Zwischenzeit haben sich hier alle Genossen der
Linken versammelt, um über die nächsten Schritte zu
beraten. Über 170 Personen, Frauen und Kinder, werden,
so gut es geht, in dem großen Zimmer untergebracht. Die
Genossen vom Manifeste und von Lotta continua versuchen
Geld, Essen und Trinken herbeizuschaffen. Inzwischen ist
es Abend geworden. Für die vielen Kinder muß eine
Schlafgelegenheit gefunden werden. In den Räumen des
Manifeste können sie unmöglich bleiben, der Platz reicht
nicht aus. Also beschließt man, sie zur
Architekturfakultät zu bringen, die schon seit Wochen
von den Studenten besetzt gehalten wird. Die Familien
richten sich in den HÖr-sälen des obersten Stockwerkes
ein; ein Krankensaal wird provisorisch hergerichtet.
Endlich können sich alle ausruhen. Am anderen Morgen
wird man schon sehen, wie es weitergeht.
Um sieben Uhr abends taucht der Vizepräsident der
Polizei auf und erklärt, er wolle in der Fakultät nach
dem Rechten sehen. Die Genossen sind einverstanden: soll
er ruhig nachsehen, daß alles in Ordnung ist. Aber es
kommen immer mehr Polizisten und nach kurzer Zeit sind
es 2000. Sie umstellen die Fakultät und brechen nach
einer kurzen Warnung in das Gebäude ein, obwohl der
Dekan selbst sie daran zu hindern versucht. Die
Studenten versuchen, die große Eingangstür zu
verbarrikadieren, damit die Frauen und Kinder, die nicht
wissen wohin, nicht mitten in der Nacht auf die Straße
geworfen werden. Aber es ist schon zu spät. Die
Polizisten fangen an zu prügeln, die Verfolgungsjagden
beginnen, allgemeines Durcheinander und die Luft ist
voll von dem vielen Tränengas.
Die Auseinandersetzungen dauern Stunden, denn
inzwischen sind die Leute aus dem ganzen Viertel
zusammengelaufen und blockieren zusammen mit den
Studenten die Straße. Aber schließlich haben es die
Polizisten geschafft: sie schleppen Frauen und Kinder
auf die Straße; zahlreiche Studenten werden verhaftet.
Der Plan der Polizei ist klar: den Sonntag ausnutzen,
um eine breite Mobilisierung der Bevölkerung zu
verhindern. Als die Familien aber in die
Architekturfakultät umziehen, gibt es für Polizei und
Rektor kein Zögern: um jeden Preis verhindern, daß es
zwischen den 40 Familien und den Tausenden Studenten des
Polytechnikums zu einem praktischen Bündnis kommt.
Die Stellungnahme der KPI zu diesen Ereignissen ist
einigermaßen merkwürdig. Die Unita spricht von
»einer abenteuerlichen Aktion, bei der die Sicherheit
von 40 Familien aufs Spiel gesetzt worden ist«. Nicht
ein Wort zu den unglaublichen Angriffen der Polizei;
nicht eine Andeutung, daß sie auf der Seite der Familien
steht. Sie reagiert mit dem Unverständnis einer Partei,
die zu solchen Kämpfen keine Verbindung mehr hat. Sie
kann nicht begreifen, welche Bedeutung eine Ausdehnung
dieses Kampfes haben könnte: in Mailand gibt es schon
mehr als 30000 Familien, die ihre Mieten nicht mehr
bezahlen. Und diese Bewegung breitet sich noch aus. Die
Familien der via Tibaldi sind nur eine Avantgarde, sie
bilden die kämpferische Vorhut von Tausenden, die nur
wenig Verbindung miteinander haben und noch nicht
organisiert sind.
Trincale verläßt die KPI
Zu der Versammlung der Studenten und der 40 Familien
in der Architekturfakultät ist der berühmte
sizilianische Sänger Franco Trincale gekommen und hat
erklärt: er sei schon viele Jahre in der Partei, aber
angesichts der Stellungnahme der Partei zur
Wohnungsreform und der Kommentare der Unitä zu
den Angriffen der Polizei lege er seine Mitgliedschaft
in der KPI jetzt nieder, und zwar nicht vor der Partei
selbst, sondern mitten im Kampf vor den versammelten
Linken.
(Sandro Bianchi, in: // Manifesto, 8.6. 1971)
Ein Kind der vertriebenen Familien ist gestorben. Der
Zorn und die Mobilisierung nehmen zu. FIOM und FIM
solidarisieren sich. Am Samstag findet eine gemeinsame
Demonstration aller Gruppen der revolutionären Linken
statt.
Heute Morgen - Begräbnis des kleinen Ferretti.
Der Widerstand in der Architekturfakultät hält an.
Massimiliano Ferretti, der sieben Monate alte Sohn
einer der Obdachlosenfamilien, ist in der Kinderklinik
der Universität an einem Lungenödem gestorben; er hatte
es sich zugezogen, als die Polizei die Familien aus dem
besetzten Haus in der via Tibaldi vertrieb. Der Tod trat
am Sonntag Abend um 6 Uhr ein, aber der Vater
wurde erst am Dienstag
um 10 Uhr davon unterrichtet. Massimiliano war der
Sohn von Ugo Fer-retti und Silvana Salice; sie kommen
aus Foggia und haben zusammen mit den anderen Familien
das Haus in der via Tibaldi besetzt. Die Familie hatte
früher in einer elenden feuchten Behausung zu ebener
Erde gewohnt. Die Wohnung bestand aus einem Raum, einer
Küche und hatte eine Außentoilette, sie kostete 22.000
Lire im Monat. Da die Familie die Miete nicht mehr
aufbringen konnte, hatte sie einen Räumungsbefehl
erhalten, der übermorgen in Kraft treten sollte. Das ist
die Geschichte der Ferrettis. Massimiliano hatte von
Geburt an einen Herzfehler und war bereits zweimal wegen
eines Lungenödems im Kinderkrankenhaus. Jedesmal ist er
gerettet worden.
Die Ärzte hatten wegen Massimilianos Herzfehler von
der Teilnahme an der Besetzung abgeraten. Aber die
Eltern bestanden darauf, weil sie davon überzeugt waren,
das Kind könne in einer trockenen Wohnung wieder gesund
werden. Die Ärzte hatten früher schon mal ein Attest
ausgeschrieben: »Das Kind muß normale Lebensbedingungen
erhalten; es darf sich nicht in einer Umgebung
aufhalten, die gesundheitsschädlich ist, sonst zieht es
sich Infektionen zu.«
Am Sonntag Morgen um 5 Uhr war die Polizei in der via
Tibaldi erschienen. Von da an saß Massimiliano zusammen
mit den ändern 3 Stunden auf der Straße, im strömenden
Regen und in der Kälte: mit seinem Fieber war er diesen
Anstrengungen nicht gewachsen.
Massimiliano ist ein Opfer der Kämpfe gegen das alte
Unrecht, das die Proletarier von allen Seiten bedrängt.
Die wirklichen Verantwortlichen, die Mörder, sind die
Kapitalisten und ihre Lakaien. Und gerade die - so
unglaublich es ist — versuchen die Schuld den
Proletariern anzuhängen. Es gibt ein Gerücht, daß der
Vater tatsächlich verklagt werden soll, weil er sein
Kind in die via Tibaldi gebracht hat.
Das Begräbnis soll heute Morgen stattfinden. Die
vertriebenen Familien, die Mitglieder der revolutionären
Linken und Tausende Studenten des Polytechnikums werden
vom Platz vor der Architekturfakultät losgehen: »Mein
Sohn wird unter roten Fahnen beerdigt werden«, hat der
Vater heute Morgen gesagt.
Gestern haben sich die vertriebenen Familien wieder
in der Architekturfakultät versammelt. Der Rat der
Fakultät hat am Nachmittag ein Kommunique herausgegeben,
worin die Entlassung des Rektors gefordert wird (er trug
die Verantwortung für den Polizeieinsatz und die
nächtliche Deportation der Familien); außerdem wurde
beschlossen, ein ständiges Seminar über Wohnungsprobleme
einzurichten, an dem alle politischen Kräfte der Stadt
und die betroffenen Familien teilnehmen sollen, damit
den 70 obdachlosen Familien endlich geholfen wird. Bis
zur Lösung des Wohnungsrpoblems sollen sie Gäste der
Architekturfakultät sein.
Am Abend hat das Seminar begonnen. Hunderte von
Genossen der revolutionären linken Gruppen aus Mailand
haben daran teilgenommen. Inzwischen haben sich auch FIM
und FIOM getroffen; sie begrüßen in ihrem Kommunique die
Initiative des Rats der Architekturfakultät und
versprechen ihre volle politische und organisatorische
Unterstützung. Auf einer Pressekonferenz in der
Architekturfakultät haben die vertriebenen Familien
unter anderem gesagt: »Wir wissen, daß Tausende von
Arbeitern denselben Kampf gegen die Unterdrückung der
Bourgeoisie führen müssen. Die bürgerlichen Zeitungen
verbreiten weiterhin falsche Nachrichten über die
Arbeiter und die Obdachlosen. Die Presse hat sich auf
die Seite der Bourgeoisie geschlagen. Ihr seht Leute vor
euch, die nur das genommen haben, was ihnen längst
gehört. Der Kampf aller Unterdrückten ist unser Kampf,
wir werden ihn weiterführen und ihn mit dem Kampf aller
Proletarier verbinden.«
(II Manifesto, 9. 6. 1971)
5000 Polizisten vertreiben die Obdachlosen aus der
Architekturfakultät. Am Samstag Massenprotest.
Das Universitätsviertel ist militärisch
besetzt. Gestern Morgen haben 5000 Polizisten die
Architekturfakultät endgültig geräumt und sämtliche
Gebäude umstellt. Die Gemeinde hat die Stadtpolizei zur
Verfügung gestellt, um den Verkehr nötigenfalls
umzuleiten. Die Mailänder Christdemokraten haben in
einem Kommunique die Schließung der Architekturfakultät
gefordert; der Rektor der Fakultät hat die sofortige
Einstellung der Lehrbetriebs bis Montag verfügt. Mehr
als rooo Studenten haben gestern Morgen vor dem Rektorat
des Polytechnikums gegen die Räumung der Fakultät
protestiert.
Die Räumung der Fakultät begann gestern morgen um 5
Uhr. Das Seminar über Wohnungsprobleme war noch in
vollem Gang. Die Polizisten hatten buchstäblich das
gesamte Gebiet besetzt, alle Zufahrtsstraßen waren
gesperrt. Die Polizei drang ein, als gerade ein Dozent
eine Vorlesung vor Hunderten von Studenten, Arbeitern
und Mitgliedern der linken Gruppen hielt. Die Polizisten
brüllten, unterbrachen den Professor und hinderten ihn
daran weiterzusprechen. Dann befahlen sie die Räumung
und fingen gleich an, einige Studenten aus dem Saal zu
stoßen. Obwohl die Beamten offensichtlich Zusammenstöße
provozieren wollten, verließen alle ruhig und mit
erhobenen Händen den Saal. Ein Polizeihauptmann soll
gerufen haben: »Seid froh, daß es so gelaufen ist, sonst
wäre heute mein großer Tag gewesen.«
Die Studenten und Arbeiter müssen sich mit dem Rücken
an die Wand stellen und dort einige Zeit mit erhobenen
Händen stehenbleiben. Dann werden sie in grüne Minnas
geladen und zum Polizeirevier gebracht.
Kommentar: Damit der Kreis sich nicht schließt
Die Wohnungsbesetzung in Mailand nehmen eine geradezu
beispielhafte Wendung. Nach der ersten Verwirrung haben
die herrschenden politischen Kreise sich krampfhaft
bemüht, das Gleichgewicht wieder herzustellen, das die
70 Proletarierfamilien mit ihrem verzweifelten Protest
ins Wanken gebracht haben.
Ein jeder übernimmt seine Rolle und versucht sie
auszufüllen: Die Polizei räumt und besetzt die
Architekturfakultät und versucht den Studenten, die den
Kampf für bessere Wohnungen unterstützen und
weitertreiben, den politischen und materiellen Boden zu
entziehen; die Gemeinde und die KPI bemühen sich um ein
Notstandsprogramm, um den Besetzern und weiteren 200
obdachlosen Familien Wohnungen zu beschaffen. Die
Gewerkschaften und die ACLI kümmern sich zum einen um
die unmittelbaren Bedürfnisse der betroffenen Familien,
zum ändern beschränken sie sich auf einen ganz
allgemeinen Protest gegen die Wohnungsmisere in Mailand;
die Studentenbewegung von Capanna, die ständig gegen den
Revisionismus tönt und stets zu allen Demonstrationen
der KPI hinmarschiert, will sich nicht an der
Demonstration der linken Gruppen für die Lösung des
Wohnungsproblems und gegen die Unterdrückung der Polizei
beteiligen.
Die Gründe sind verschieden, aber alle wollen
dasselbe: das Wohnungsproblem der Familien aus der via
Tibaldi muß schleunigst gelöst werden, damit der Fall
abgeschlossen wird. Ihre Aktion soll auf keinen Fall
einen allgemeinen Kampf breiterer Massen für die Lösung
des Wohnungsproblems in Mailand und anderswo auslösen.
Wir halten das Ziel, den 70 Familien eine Wohnung zu
beschaffen, keineswegs für zweitrangig. Gerade sie haben
ein Recht darauf, weil sie hart gekämpft und teuer dafür
bezahlt haben; und ihr Sieg kann weitere Aktionen und
eine breitere Bewegung auslösen. Soll die Gemeinde,
sollen die reformistischen Parteien und Gewerkschaften
sich dafür verwenden, wir werden nicht so dumm und
sektiererisch sein, uns darüber zu beklagen. Aber das
politische Problem ist damit nicht gelöst.
In Mailand gibt es zweihundert obdachlose Familien.
Und es gibt zehn-tausende Familien, die in elenden
Wohnungen hausen oder die Miete nicht aufbringen können.
Die KPI, die Gewerkschaften, die ACLI müssen uns
erklären, was sie für richtig halten. Sollen diese
Familien heute kämpfen, Häuser besetzen, die
skandalöserweise leerstehen, die Mieten selbst senken
oder gar nicht bezahlen; oder sollen sie auf die
Auswirkungen eines Gesetzes warten, das die Reformisten
selbst für völlig unangemessen halten und das die
Christdemokraten im Senat dazu noch blockieren und
verschlechtern werden.
Für uns und für alle revolutionären Gruppen ist das
Problem sehr einfach: der Kreis darf sich um diesen
Kampf nicht schließen, wir müssen ihn über den Fall der
70 Familien hinaus ausweiten. Das aber hängt von zwei
Bedingungen ab: von der Form der Einheit und der
politischen Mobilisierung für die kommende Demonstration
am Sonnabend; und von der Fähigkeit, die Propaganda und
die Organisation in den proletarischen Vierteln über die
Demonstration hinaus zu entwickeln und das
Wohnungsproblem und den Kampf der Obdachlosen mit dem
allgemeinen Kampf aller Arbeiter zu verbinden.
(Sandro Bianchi, in: // Manifesto), 10. 6.
1971)
Polizei und Erzbischof in niederträchtigem Komplott
erpressen die Obdachlosen. Begräbnis des kleinen
Ferretti verschoben.
Schon seit einigen Tagen kursieren in Mailand
Gerüchte über irgendwelche Vorstrafen von Ugo Ferretti,
dem Vater des am vergangenen Sonntag verstorbenen
Kindes; er soll aus einer Strafanstalt nahe Venedig
entflohen sein. Diese Nachricht erschien zunächst ganz
klein in den Sonntagsausgaben der Mailänder Zeitungen.
Am Donnerstag Abend haben die Zeitungsredaktionen eine
schriftliche Erklärung von Ugo Ferretti gebracht; darin
spricht er von »allen möglichen Spekulationen« über den
Tod seines Sohnes und gibt seine Entscheidung bekannt,
das Begräbnis seines Sohnes »ganz einfach und nicht mit
roten Fahnen, sondern nach religiösem Brauch« ablaufen
zu lassen. Ugo Ferretti distanziert sich in seiner
Erklärung von der ganzen Bewegung und klagt sie des
politischen Mißbrauchs an. Die Glaubwürdigkeit dieser
Erklärung, die in allen Zeitungen veröffentlicht worden
ist, wird nur von einem Redakteur der Katholischen
Nachrichtenagentur, und zwar von einem gewissen
Tagliabue, bestätigt.
Kaum ist die Nachricht bekannt, machen sich zwei
Genossen auf die Suche nach dem Priester, »der seine
Hand hilfreich ausgestreckt hat«, und stellen sich in
der Wohnung des Don Fernando Tagliabue um 8 Uhr abends
vor. Sie treten in den Arbeitsraum des Priesters; hinter
dem Schreibtisch hängt ein Plakat: »Der Herr hat mich
belohnt, weil ich gehorsam gewesen bin«. Die Genossen
erklären dem Priester: »Wir kennen Ugo gut. Er ist ein
Proletarier, der an den Kampf glaubt; er kann diesen
Brief nicht geschrieben haben. Heute Morgen hat er uns
angerufen und über den Brief gesprochen und gesagt, daß
er so etwas nie unterzeichnen würde. Jetzt wollen wir
Ugo persönlich sehen, lassen Sie uns mit ihm sprechen.
Wir müssen diese Sache klären.« Der Priester will nichts
davon wissen und leugnet, Ferretti irgendwie beeinflußt
zu haben. Aber die Genossen bestehen weiter auf ihrer
Forderung und erreichen schließlich, daß Ugo geholt
wird.
Endlich kommt der Priester mit Ugo und seiner Frau
zurück. Einer der Genossen steht auf und geht ihm
entgegen, sie begrüßen sich. Die Genossen wollen allein
mit Ugo und seiner Frau sprechen. Der Priester willigt
ein und geht hinaus. Ugo zischt seine Frau an, sie solle
schweigen, er wolle reden: »Ich bin noch ein Genösse,
aber jetzt kann ich es euch nicht erklären; heute Abend
kann ich diesen Brief nicht widerrufen. Wartet noch, ich
kann euch noch nicht alles sagen, sie drohen mir mit
zwei Jahren Zuchthaus; wenn ich schweige, wollen sie sie
mir erlassen. Ich war arbeitslos, ich habe zwei oder
drei Autos geklaut.« »Es war das erste mal, daß wir
schwach wurden«, sagte die Frau dazwischen, »Ugo ist ein
braver Kerl«. »Aber das gibt dir kein Recht, so zu
handeln«, antworten die Genossen, »die Proletarier sind
oft gezwungen, zu stehlen, deswegen darfst du nicht den
Kampf aufgeben und uns in den Rücken fallen. Du weißt
genau, daß alle Sachen, die du unterschrieben hast,
nicht wahr sind. Du mußt uns sagen, wie das geschehen
konnte.«
Ugo Ferretti sagt jetzt die Wahrheit: »Sie haben mir
Straferlaß versprochen. Sie haben mich mit einem Beamten
des Bischofs sprechen lassen, der sich dafür verbürgt
hat. Und dann noch mit einem Journalisten des
Avve-nire; und ein Monsignore hat mir 50.000 Lire
gegeben. Sie haben mir sofort eine Wohnung versprochen
und auch eine Arbeit.« - Dann senkt er die Stimme: »Ich
bin noch ein Genösse, ich glaube, daß dieser Kampf
richtig ist, aber heute Abend kann ich nicht widerrufen.
Ein Polizeibeamter ist wegen meines Sohnes in meiner
Wohnung und einer auch hier unten. Morgen müßt ihr aber
kommen und mich mit einem Wagen abholen.« Und er
schreibt schnell die Adresse auf ein Stückchen Papier.
Da schrillt das Telephon. Der eine Genösse nimmt den
Hörer ab, aber der Priester ist schon da und reißt ihm
den Hörer aus der Hand. Er spricht ziemlich lange und
dann beginnt eine Komödie. In Gegenwart des Priesters
spielt Ugo Ferretti seine aufgezwungene pathetische
Rolle weiter. »Das Geld, das ihr mir gegeben habt, könnt
ihr zurückhaben; ich will nichts mehr mit euch zu tun
haben.« Die Genossen gehen auf das Spiel ein; sie wissen
jetzt genug.
Was bedeutet das ganze? Ugo Ferretti ist erpreßt
worden; er sitzt praktisch fest bei diesen Leuten, die
»im Namen Gottes« heimtückisch den Kampf der Obdachlosen
sabotieren. Aber es ist klar, daß der Priester nur das
letzte und schwächste Glied einer Kette ist, die von der
Polizei (die alles gewußt hat, sie hat ihn zwei Tage
lang im Polizeipräsidium festgehalten, sie wußte, daß er
gesucht wurde, und so konnte sie ihn erpressen und jede
seiner Bewegungen beobachten) über hohe Persönlichkeiten
der Kirche bis hin zu den Gerichten in Mailand und zur
Mailänder Christdemokratischen Partei und ihren
Zeitungen reicht. Das Ziel ist klar: nicht nur ein Mann
und Proletarier soll vernichtet wer-
den, sie wollen den Kampf seiner Genossen sabotieren,
die politischen Avantgarden (Lotta continua, Manifeste,
usw.), die diesen Kampf unterstützt und verteidigt
haben, wollen sie diffamieren. Die neue kämpferische
Einheit der Arbeiterklasse, die sich durch den Kampf der
Obdachlosen in Mailand entwickelt hat, und vor allem die
ACLI und die FIM-CISL wollen sie zerschlagen.
(Sandro Bianchi, in: // Manifesto, 12. 6. 1971)
Die »heimliche« Pressekonferenz von Ugo Ferretti auf
Tonband
Wir geben im folgenden Teile des Tonbands
wieder, das Ugo Ferretti während der Pressekonferenz im
Sitz der ACLI in Mailand besprochen hat.
»Ich bin der Vater Massimiliano Ferrettis. Ich muß
etwas richtigstellen. Ich habe weder den Priestern noch
der Presse irgendeine Erklärung gegeben. Nachdem die
Polizei die Architekturfakultät geräumt hatte, bin ich
nach Hause gegangen, aber da war schon die Polizei. Ich
wußte nicht wohin. In der via Tibaldi hatte mich einmal
ein Priester besucht und mir seine Adresse gegeben. Er
hatte mir gesagt, falls ich wollte, könnte ich zu ihm
kommen. Ich hatte keine Ahnung, wo ich die Genossen von
Lotta continua oder Manifeste erreichen konnte, deshalb
bin ich zu dem Priester gegangen.
In diesem Augenblick war mir die Wohnung gleichgültig
geworden, weil mein Sohn tot war. Ich bat den Priester
nur, er solle in Erfahrung bringen, ob es meinem anderen
Sohn Fabio gut ginge. Der Priester brachte meine Frau
und das Kind zu mir. Und ich muß sagen, der Priester war
sehr freundlich. Im Gespräch mit ihm rutschte mir raus,
daß ich polizeilich gesucht wurde. Er ließ Journalisten
kommen und informierte sie darüber. Sie stellten mir
furchtbar viel Fragen und sagten, ich solle meine
Erklärungen zu dem Begräbnis mit roten Fahnen
zurücknehmen, es gäbe Leute, die mir dann helfen würden.
Ich habe gefragt, warum sie, statt uns schon früher zu
helfen, 3000 oder 4000 Polizisten geschickt hätten, als
wären wir Verbrecher.
Der Priester verhörte mich nach allen Regeln der
Kunst und riet mir, ein Gnadengesuch zu stellen.
Verkauft habe ich mich nicht. Ich wollte die Genossen
von Manifeste und von Lotta continua sehen, aber ich
konnte das Zimmer nicht verlassen, weil draußen Polizei
war. Immer wieder sind sie gekommen und haben mir Geld
angeboten, erst 20000 Lire, dann 10000 und noch einmal
10000. Ich will nicht sagen, daß ich es ausgeschlagen
hätte. Ich habe es angenommen, weil ich es brauchte. Ich
habe nicht geglaubt, daß sie es so gegen meine
Kampfgenossen benutzen würden. Es ist wahr, ich habe den
Brief leider wirklich unterschrieben, vielleicht aus
Ahnungslosigkeit. Ein Vertreter des Bischofs ist
gekommen und sie haben mir gesagt, daß sie mir alles
geben und mir auch die Strafe erlassen würden, wenn ich
den Brief unterschriebe. Ich habe nicht nein gesagt, ich
habe eingewilligt, aber ich habe nicht geglaubt, daß sie
das daraus machen würden, was dann kam. Sie haben den
Brief geschrieben, und schon als ich ihn sah, überlief
es mich kalt. Von dem, was da stand, war kein Wort wahr.
Als wir in der via Tibaldi das Haus gemeinsam besetzten,
habe ich das erste mal in meinem Leben Menschlichkeit
gefunden, vom ersten Tag an.
Dem Kind, das später gestorben ist, schien es in der
via Tibaldi zunächst besser zu gehen. Dann ist es krank
geworden, wegen der Kälte und der Feuchtigkeit, weil wir
auf die Tragbahre warten mußten. Ich bleibe dabei, das
Kind ist gestorben, weil die Polizei solch ein
Durcheinander angerichtet hat. Ich verlange, daß das
Begräbnis so gemacht wird, wie ich es will, und niemand
kann mich daran hindern. Es muß von der ACLI ausgehen.
Ich kann leider nicht mitgehen, weil die Polizei mich
sonst verhaftet, und wenn sie mich fangen, kann ich
nicht mehr für meine Frau und für meinen anderen Sohn
arbeiten. Ich will keinen Priester dabei haben, nicht
weil ich Priester nicht mag, sondern weil ich nicht zum
Schluß das Elend meines Sohnes beschönigen will. Ich
will das Begräbnis mit den Genossen, mit den
Obdachlosen, mit allen, die mit mir gekämpft haben; und
alle sollen rote Fahnen tragen, weil mein Sohn im Kampf
gestorben ist. Ich will den Barackenbewohnern sagen, daß
ich sie nicht verraten werde. Und wenn ich es getan
habe, dann nur, weil ich auf Versprechungen reingefallen
bin. Der Leichnam meines Sohnes gehört mir. Mut,
Genossen, laßt uns weiterkämpfen, auch wenn ich bei
eurem Kampf nicht dabeisein kann, weil ich wie ein Hund
gehetzt werde.«
(// Manifesto, 13. 6. 1971)
Die Einheit der Linken wächst im Kampf um das
Wohnungsproblem. Die Reformisten werden zunehmend
isoliert.
Eine breite Einheitsfront entwickelt sich für
die Demonstration am Samstag Nachmittag. Ein Mitglied
der proletarischen Familien und ein von allen
beteiligten Gruppen delegierter Genösse werden eine Rede
halten. Die Demonstration ist bis jetzt noch erlaubt;
aber falls sie noch verboten oder von der Polizei
angegriffen werden sollte, sind die verantwortlichen
Gruppen entschlossen, sie wie geplant durchzuführen.
Inzwischen sind in Mailand starke Truppenverbände der
Polizei zusammengezogen worden.
Das neue Bündnis der linken Kräfte gründet sich auf
zwei politische Entscheidungen: die entschiedene
Gegenposition zum Reformismus und die Entschlossenheit,
die Massen und nicht nur kleine Avantgardegruppen zu
mobilisieren. Der harte Kampf der 70 proletarischen
Familien um Wohnungen hat einen starken Einfluß auf die
politischen Kräfte ausgeübt und einen qualitativen
Sprung bewirkt. Die revolutionäre Linke hat sich zu
einer neuen, höheren Einheit zusammengefunden, und im
Lager der traditionellen Linken haben sich die inneren
Widersprüche bedeutend verschärft.
Die Gruppe um Contropotere, die Zeitung der
Linken in der PSIUP, beteiligt sich an der
Demonstration. Einige Gruppen der ACLI werden ebenfalls
teilnehmen; die gesamte Organisation hat inzwischen eine
andere Position zum Kampf der proletarischen Familien
eingenommen als die KPI. Außerdem werden noch einige
Genossen der FIM-CISL am Samstag mitziehen. Das
Movimento Studentesco der Staatsuniversität weiß noch
nicht so recht, wie es sich verhalten soll. Zunächst
hatte es eine eigene Demonstration geplant, aber viele
Genossen haben erklärt, sie wollten an der großen
Einheitsdemonstration teilnehmen. Deshalb haben sie
gestern die revolutionären politischen Gruppen
aufgefordert, sich mit ihnen zu treffen, um eine
Übereinkunft zu erzielen.
Durch diese Bewegungen im reformistischen Lager wird
die KPI mehr und mehr isoliert; und auch dadurch, daß
sie die Angriffe auf die verschiedenen Gruppen noch
verschärft hat: »Sie mobilisieren gegen die Reformen und
spalten mit ihrer verwirrten Agitation die
Arbeiterbewegung; sie nehmen die Verantwortung auf sich,
Unterdrückungsmaßnahmen zu provozieren.« Für Montag hat
die KPI eine eigene Mieterdemonstration für ihr
Reformgesetz angekündigt.
Am besten kann man die außerordentliche politische
Situation, die sich in Mailand entwickelt hat, an der
Versammlung und der Diskussion im Sitz der ACLI ablesen.
Anwesend bei der Versammlung waren die ACLI, die PSIUP,
die FIM (die FIOM war eingeladen, ist aber nicht
erschienen), die KPI (sie hat sich selbst eingeladen)
und die DC (sie ist von der KPI eingeladen worden). Die
KPI hat zunächst ihren alten Vorschlag unterbreitet, wie
sie sich die Lösung der Wohnungsprobleme denkt. Dann hat
sie die Demonstration vom Samstag hart verurteilt und
wütend gegen ihre Inhalte polemisiert; schließlich hat
sie ausdrücklich erklärt, daß diese Demonstration nicht
durchgeführt werden dürfe, weil sie eine Gefahr im
Hinblick auf die Wahlen darstelle. Die offizielle PSIUP
hat sich sofort auf die Seite der KPI geschlagen, und
zwar gegen die eigene Linke. Der Sekretär der FIM hat
folgendes gesagt: Wer es zuläßt, daß die Polizei am
Samstag die Demonstration angreift, der ist auch
verantwortlich, wenn die Repression in den Betrieben
zunimmt. Dann hat er den Abzug der Polizei aus dem
Polytechnikum gefordert. Dieser Forderung haben sich die
Delegierten aller anwesenden Gruppen außer der DC
angeschlossen. Auch zwei Stadträte von der PSI und von
der DC nahmen an der Versammlung teil. Der von der PSI
sagte, die Proletarierfamilien, die das Haus in der via
Tibaldi besetzt haben, seien gar keine Obdachlosen,
sondern politische Berufsagitatoren. Daraufhin haben FIM
und ACLI die Proletarierfamilien geholt. Einige
Mitglieder dieser Familien sind in den Saal getreten
(während der PSI-Mann schnell verschwand) und haben die
Versammlung im Nu in ein echtes politisches Volksgericht
über die anwesenden politischen und gewerkschaftlichen
Gruppen und Parteien verwandelt. Die Familienväter haben
die Verleumdungen des PSI-Mannes hart zurückgewiesen und
haben die untragbaren Wohnungsbedingungen, unter denen
sie vor der Besetzung gelebt haben, aufgezählt. In
diesem Augenblick betrat ein hoher Beamter aus dem
Rathaus den Raum und gab bekannt, daß 200 Wohnungen zur
Verfügung stünden.
Aber die Proletarier haben daraufhin den Saal nicht
verlassen, sondern geantwortet: »Wir sind nicht die
einzigen, die obdachlos sind, und wir wollen, daß jeder
eine Wohnung bekommt und nicht nur einige wenige; wir
wissen zu gut, daß Tausende von Proletarierfamilien in
Mailand unter denselben Bedingungen leben wie wir. Wir,
die versammelten Proletarier, fordern, daß wir
über die Prioritäten bei der Zuweisung von Wohnungen
entscheiden. Wir fordern von der Gemeinde eine
Aufstellung der Wohnungen, mit dem genauen Datum, wann
sie bezugsfertig sind.«
(Sandro Bianchi, in: // Manifesto, n. 6.
1971)
Die ausgewiesenen Familien fragen: wer ist der
Verbrecher? Der eine Wohnung besetzt oder der 40000 Lire
für drei kleine Zimmer nimmt? Frauen, Kinder,
Jugendliche und alte Leute mit Säuglingen auf dem Arm
sind schon in dem großen Versammlungsraum der ACLI. Sie
wechseln sich vor dem Mikrophon auf dem Tisch ab, wo
sonst der Vorstand die Sitzung führt, und jeder erzählt
seine Geschichte; dann singt irgendeiner Kampflieder zur
Guitarre. Alle skandieren den Refrain: »Die Miete zahlt
man nicht, die Wohnung nimmt man sich«. In den oberen
Stockwerken sind Betten aufgebaut und die Büros sind als
Krankenzimmer eingerichtet. Die Genossinnen passen auf
die vielen Kinder auf, die durch das ganze Haus rennen.
Draußen stehen Genossen Wache, damit keine ungebetenen
Eindringlinge in das Haus kommen.
Jede Entscheidung, jede Mitteilung wird von der
Versammlung der Familiendelegierten kontrolliert, der
Kampf wird wirklich kollektiv geführt. Es ist ein
politischer Organismus, der die Bedeutung dieser
Bewegung sehr gut einschätzen kann; von dem einfachen
Protest einer isolierten Gruppe von Obdachlosen ist das
weit entfernt.
Die Familien werden heute alle an der Demonstration
teilnehmen und den Zug anführen. Sie wollen allen
zeigen, daß ihr Kampf um Wohnungen eng mit dem Kampf der
Genossen bei Fiat, der Arbeiter in allen Betrieben und
der Studenten verbunden ist. »Wir wollen Wohnungen für
alle«, sagen sie. »Wir lassen uns nicht mit allgemeinen
Versprechungen abspeisen, und auch nicht mit
irgendwelchen Zugeständnissen.« Die Obdachlosen, die
diesen Kampf führen, sind keine arbeitslosen
Lumpenproletarier oder besonders elende Familien aus den
Randschichten: sie arbeiten in den großer Mailänder
Betrieben, in den modernen privaten und staatlichen
Unternehmen, Alfa Romeo, Innocenti, Pirelli, Brown
Bo-veri etc. Es sind Arbeiter, die ihre Wohnungen
entweder nicht bezahlen können oder gar keine haben.
»Ich arbeite bei Innocenti«, erzählt G. B. (sie haben
beschlossen, die Namen lieber nicht zu nennen, um den
Kampf nicht zu personalisieren, damit er geschlossen und
einheitlich bleibt); »ich bin vor einem Jahr und vier
Monaten von Salerno nach Mailand gekommen, auf einem
Lastwagen, hinten drauf die Möbel und die Familie, die
Frau und drei Söhne. Sieben Tage lang haben wir alle auf
dem Lastwagen geschlafen, weil uns niemand eine Wohnung
geben wollte: weil wir aus dem Süden kamen, weil ich zu
viele Kinder habe. Aber in Mailand mußte ich bleiben,
weil ich nicht mehr nach Salerno zurückkehren konnte.
Ich arbeitete tageweise und mußte irgendwie auskommen.
Nach einer Woche hat uns ein Verwandter aufgenommen.
Dann hat mir schließlich eine Frau eine Bürgschaft
gegeben, und so konnte ich eine Wohnung für 33.000 Lire
im Monat mieten. In der Zwischenzeit hatte ich Arbeit in
einem metallverarbeitenden Betrieb gefunden, bei Clemen.
Dann bin ich zu Innocenti gegangen, da habe ich 100.000
Lire brutto verdient. Netto bleiben mir 67.000 Lire,
davon mußten fünf Personen leben; deshalb konnte ich
nach sechs bis sieben Monaten die Miete einfach nicht
mehr bezahlen. Ich hatte keine andere Wahl.«
G. D. erzählt folgende Geschichte: »Ich bin mit
meiner Frau und zwei Kindern vor vier Jahren aus Torre
Annunziata gekommen. Am Anfang habe ich bei einer
Verwandten gewohnt; sie hatte neun Kinder und so haben
in der Wohnung etwa fünfzehn Personen gelebt. Es war
nicht auszuhalten. Nach einem Monat habe ich eine
Zweizimmerwohnung gemietet, die 18 km von Mailand
entfernt war und 30.000 Lire kostete. Um bei Tecnomasio
Brown Boveri zu arbeiten, mußte ich monatlich über
10.000 Lire allein für den Autobus ausgeben, und das bei
einem Monatslohn von 95.000 Lire.«
P. G. ist vor zwei Jahren mit seiner Frau aus Enna
gekommen. »Vorher war ich in England, in einer
Wollfabrik; aber da habe ich es nur ein Jahr ausgehalten
und habe dann gehofft, in Mailand wirds was. Zuerst habe
ich Akkord gearbeitet, ohne Arbeitserlaubnis. Sie haben
mich wie ein Tier ausgebeutet. Als ich Krach geschlagen
habe, haben sie mich rausgeworfen.
Drei Monate arbeitslos; meine Frau schwanger. Als sie
ins Krankenhaus kam, mußten wir Schmuck und Trauringe
verkaufen. Jetzt arbeite ich bei Montecatini in der
dritten Kategorie und bekomme 100.000 Lire im Monat,
weil ich auch noch nachts arbeite. Für ein Zimmer von 12
qm mit Außentoilette bezahle ich 30.000 Lire. Das Haus
besteht aus winzigen Zimmerchen, in denen bis zu sechs
Personen leben; dann verlangt die Hausbesitzerin Frau
Bianca Maria Invernizzi sogar 46.000 Lire im Monat, weil
es zu viel Leute sind, wie sie sagt. Eine Zeitlang habe
ich es geschafft, jetzt bezahle ich schon seit sieben
Monaten nichts mehr.« V. G. ist von Neapel nach Mailand
gekommen. Um überhaupt eine Wohnung mieten zu können,
mußte er für sechs Monate im voraus bezahlen, 300.000
Lire auf einmal. »Ich arbeite bei Sepra, einem
metallverarbeitenden Betrieb und bekomme im Monat 92.000
Lire. Ich habe Frau und drei Kinder. Acht Monate lang
habe ich mich unter großen Opfern durchgeschlagen:
Überstunden, Schwarzarbeit nach Schichtende. Dann habe
ich gemerkt: es hat keinen Zweck, immerzu zu kämpfen,
nur um alles bezahlen zu können; es ist besser darum zu
kämpfen, nicht mehr zu bezahlen.«
(Luciana Castellina, in: // Manifesto, 12. 6. 1971)
30000 in Mailand folgen dem Aufruf der neuen Linken.
Es ist also möglich, einen politischen
Massenkampf zu führen und diese Klassengesellschaft
erfolgreich zu bekämpfen.
Wir waren mehr als 30.000, als sich der große
Demonstrationszug von der Piazza Leonardo da Vinci aus
in Bewegung setzte. Überall rote Fahnen. Die
vielfältigsten Kräfte sind hier zusammengeströmt; die
Avantgardegruppen haben sich mit der wirklichen Bewegung
an der Basis vereint, wo ihr eigentliches Wirkungsfeld
liegt und wo sie sich allzu oft - aber nicht heute -
zerstreiten. Nach und nach sind wir immer mehr geworden:
wir, die »Grüppchen«, zusammen mit den obdachlosen
Arbeitern. Der Demonstrationszug ist den Corso Buenos
Aires entlanggezogen, dann über die Piazza del Duomo und
hat schließlich die Piazza Castello erreicht. Dort hat
ein Vertreter der Versammlung der obdachlosen
Proletarier eine Rede gehalten, und im Namen der
verschiednen Gruppen hat Stefano Levi von Lotta continua
gesprochen.
An der Spitze ziehen die obdachlosen Familien: sie
sind alle da, Männer, Frauen und Kinder, auch die
kleinsten. Sie haben bereits einen Sieg in ihrem Kampf
errungen: allen wurde eine Wohnung zugesagt. Dann folgen
die Blöcke der verschiedenen Gruppen und anderer
Organisationen, die sich im Laufe des vergangenen Tages
noch angeschlossen haben: die interne Kommission der
Rinascente, die Gruppe der Angestellten und das Comitato
unitario di Base (CUB) der SIP, die Schu»ungsgruppe der
Arbeiter bei Marelli, das CUB Borletti, das CUB Atm, die
Arbeiterschulungsgruppe bei Philips, das CUB von Pirelli
und von Crouzet, die IV.
Internationale. Hunderte von Plakaten mit Tagesparolen
für den Wohnungskampf, für den Kampf der Arbeiter, für
den Kampf der Studenten. Die Genossen des Manifeste
tragen ein großes Spruchband vor sich her: »Jeder hat
das Recht auf eine Wohnung. Deswegen ist es
gerechtfertigt, gegen die Gesetze und die bürgerlichen
Institutionen zu rebellieren.« Die Gruppe Potere operaio
marschiert unter der Parole, die die Fiat-Arbeiter bei
den Barrikadenkämpfen in Turin im Juli 1969 erfanden:
»Was sagen wir: Schluß jetzt! Was wollen wir: Alles!«
Die Gruppe Lotta continua rief mit diesem Plakat zur
Demonstration auf: »Die Proletarier haben das Recht,
sich Wohnungen zu nehmen, denn sie haben sie gebaut. 70
proletarische Familien haben Widerstand geleistet gegen
die Gewalttaten der Polizei, gegen die Lügen der Presse,
gegen die Erpressungen der Unternehmer. Sie haben sich
nicht auf die falschen Versprechungen und die falschen
Reformen verlassen. Sie haben ein Beispiel für wahre
proletarische Solidarität gegeben und die Arbeiter und
Studenten von ganz Mailand um sich vereint. Das ist der
richtige Weg: kämpfen vor und in der Fabrik, damit
beginnen, sich als Proletarier zu verhalten und zu
leben, also als Menschen, die sich nicht mehr ducken und
ausbeuten lassen.
Nehmen wir uns Häuser, Verkehrsmittel, Schulen, die
Möglichkeit, kollektiv zu leben. Organisieren wir uns
gegen den Unternehmerstaat in der ganzen Stadt, für den
Kommunismus.«
An den Seiten ein Ordnungsdienst, den die Gruppen
gemeinsam organisierthaben. Auch die Genossen von der
ACLI sind dabei. Dann folgen Tausende von Personen aus
anderen politischen und gewerkschaftlichen Gruppen, aus
der PSIUP und aus der FIM; die FIM hatte sich nicht
offiziell angeschlossen, aber selbst ihr Sekretär
Antoniazzi ist da. In einem am Freitag veröffentlichten
Kommunique der FIM heißt es: »Wir begrüßen alle
Initiativen - auch die von den Studenten und
verschiedenen politischen Gruppen angekündigten
Demonstrationen -, die die wirklichen Probleme der
Barackenbewohner, der Obdachlosen, der Einwanderer aus
dem Süden und überhaupt das Wohnungsproblem der Arbeiter
in Angriff nehmen.« 23 Sektionen der PSIUP in Mailand
sind der Aufforderung von Contrepotere, dem
Zeitungsorgan der linken Fraktion in der Partei, gefolgt
und haben sich der Demonstration angeschlossen. Auf die
telegraphische Warnung der lächerlichen Parteibürokraten
haben sie gepfiffen. Außerdem ist noch eine Gruppe von
Mitgliedern der Partito Socialista da, die am Freitag
ihre Teilnahme an der Demonstration erklärt hatten.
(Il Manifesto, 13. 6. 1971)
Die obdachlosen Familien verteilen die
Wohnungen, die sie von der Gemeinde erkämpft haben. Die
in der Architekturfakultät verhafteten Jugendlichen sind
aus dem Gefängnis entlassen.
Am Montag werden die obdachlosen Proletarier die
ersten Wohnungen beziehen können. Weitere Wohnungen
werden in den folgenden Wochen von dem gewählten Komitee
der Versammlung der Familien nach einer sorgfältig
erarbeiteen Prioritätsliste verteilt. Bis zum 31. Juli
1971 werden jedenfalls alle eine Wohnung bezogen haben.
Auch die 200 Familien, die in den »provisorischen
Unterkünften« wohnen. So lautet das Abkommen, das
Bürgermeister und Stadträte am Freitag Abend
unterzeichnen mußten. Damit haben sie einen Vertrag
anerkannt, der ohne Beispiel ist und einen ersten großen
Sieg der Proletarier bedeutet. Vier Delegierte des
Komitees haben die Verantwortung für die genaue
Zuweisung der Wohnungen übernommen.
Die obdachlosen Familien müssen eine Aufstellung
machen über die Schulden der Gekündigten und über alle
Ausgaben, die nötig sein werden und die von den Familien
nicht aufgebracht werden können; außerdem sollen die
Unternehmer die Kündigungen zurücknehmen, die sie gegen
24 Arbeiter, die am Wohnungskampf teilnahmen,
ausgesprochen haben. Über diesen Punkt wird bereits
verhandelt: die Delegierten wissen zu gut, daß
Unterschriften auf einem Stück Papier nichts wert sind,
daß die einzige Garantie für ihren Erfolg eine
weitergehende Mobilisierung ist. Deshalb hat die
Versammlung der 53 Familien beschlossen, sich auch in
Zukunft zweimal in der Woche zu treffen, am Donnerstag
Abend und am Sonntag Morgen. Die vier Delegierten des
Komitees werden die Koordinierung übernehmen, damit der
Kampf weitergehen kann, auch wenn die Familien in den
neuen Wohnungen zerstreut sein werden. Außerdem haben
sie beschlossen, in den entsprechenden Wohngebieten
Mietstreiks zu organisieren, um die Kampffront zu
verbreitern.
Am späten Freitagabend sind 20 Genossen wieder
freigelassen worden, die bei den Auseinandersetzungen
mit der Polizei Sonntag Nacht in der Architekturfakultät
verhaftet worden waren. Der Oberstaatsanwalt hat sie
vorläufig freigelassen, weil »die Indizien nicht
ausreichen, um eine Untersuchungshaft zu rechtfertigen«.
(Sandro Bianchi, in:Il Manifesto 13. 6. 1971)
Editorische Hinweise
Die Berichte erschienen in deutscher Sprache in:
Kursbuch 26, Westberlin Dezember 1971, S.112 - 134
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