Es gibt keinen Tod
All das Innerste, Verborgenste: Vor 100 Jahren wurde der jiddische Dichter Abraham Sutzkever geboren

von
Antonín Dick

08-2013

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Es war die Liebe zu einer Zwölfjährigen, die den angehenden Dichter von Grund auf umpflügte. Sie ging auf eine jiddischsprachige Schule, er mit 15 auf ein polnischsprachiges Gymnasium. Das heutige Vilnius war ein Zentrum der jiddischen Sprache und Kultur. Jeder dritte Einwohner hatte jüdische Wurzeln. Nach der Schule arbeitete Frejdke in der bibliographischen Abteilung des Jiddischen Wissenschaftlichen Instituts, und unter ihrem Einfluß machte sich Abrascha, wie sie ihn nannte, mit den Werken der klassischen und zeitgenössischen jiddischen Dichtung vertraut, die er später an der Universität systematisch studieren sollte. Frejdke bedeutet »Freude«, Abraham »Vater vieler«.

Durch Frejdke Levitan lernte Abraham Sutzkever den Direktor des Instituts Max Weinreich kennen, der ihn mit den widerstreitenden Strömungen der jiddischen Avantgarde bekanntmachte. Da gab es »Di chaliastre« (Die Bande), die von romantisierender Städtllyrik Abschied nahm, um den deutschen Expressionisten mit ihrer Großstadtrealistik nachzueifern. Zum nichtnaturalistischen Schöpfungsakt eines bildertrunkenen Subjekts wurde das Dichten von den über Europa und Amerika verstreuten »Inzichistn« (Introspektivisten) erklärt. Die linksgerichtete Gruppe »Jung Wilne« (Junges Wilna) faßte Dichtung als politischen Auftrag auf. Ihr schloß Sutzkever sich an, bemühte sich jedenfalls darum. Sein Freund Shmerke Katsherginski sollte rückblickend sagen: »Es war für Sutzkever nicht leicht, in unsere junge Autorenfamilie aufgenommen zu werden. Deshalb nicht leicht, weil er uns fremd war. Genauer gesagt: sein Werk war uns fremd. Unser Auge war an ausgetretene Wege gewöhnt«.

Es war wohl eine zufällige Begegnung mit Joseph Roth, die den heute vor hundet Jahren bei Vilnius geborenen Sutzkever rettete. Roth konnte in Warschau dafür sorgen, daß sich der polnische PEN-Klub des Talents annahm und 1937 dessen erste Gedichtsammlung »Lider« (Gedichte) veröffentlichte. In der zweiten Strophe aus dem 1934 geschriebenen »Nocturne« verzeichnet das lyrische Ich »mit eigenem Blut/ auf dem Schiefer der Nacht,/daß ich hier liege, auf einem Schober Heu, einsam,/und sehe: Über meinem Kopf/steigt wie eine Harfe empor/ein halber Mond,/und es spielt darauf jemand/mit kalten und blutigen Fingern«.

In Abgrenzung zur Lyrik der klassischen Moderne des Westens entwickelte Sutzkever eine der alternativen Moderne des Ostens. »Das progressive Menschenpack« von Marx sollte mit dieser Dichtung jene Revolution initiieren, in deren Verlauf eine im »universellen Austausch erzeugte Universalität der Bedürfnisse, Fähigkeiten, Genüsse, Produktivkräfte etc. der Individuen« alltäglich würde. In der Dichtkunst hatte Arthur Rimbaud das multiple Dasein des Individuums erprobt: »Ich – das ist ein anderer.« Was aber ist die Invariante, die in diesem universellen Austausch von Fähigkeiten und Bedürfnissen Bestand haben wird?

Sutzkever beantworte diese Frage im Rückgriff auf außergewöhnliche Erfahrungen: »Ich – das ist die Kindheit«. Er hatte die Symbolisten studiert, auch Rimbaud. Der hatte seine Kindheit gehaßt. Sutzkever hingegen entdeckte die Flußlandschaft am Irtysch in Sibirien, wohin seine Familie im Ersten Weltkrieg verbracht worden war, als Ort des ekstatischen Aufbruchs. Voll kindlicher Dankbarkeit berauschte er sich am ungebärdigen Leben der Alteingesessenen und meinte später: »Jeder Mensch, aber besonders ein Schriftsteller, hat in seinem Leben und Schaffen seine Sehnsucht, seine Phantasie. Meine Phantasie ist Sibirien. Ich glaube, daß ich dort schon zum Schriftsteller wurde, obwohl ich damals noch keine Gedichte geschrieben habe.«

Am 1. September 1939 überrollten Panzer die polnische Grenze, alles »Undeutsche« niederwalzend. »Bleiben wird nur einer, ein Poet«, schleuderte Sutzkever dem entgegen, »ein wilder Shakespeare, der voll Kraft und Eigensinn Gesang ertönen läßt:/ ›Mein Geist, mein Ariel, bring mir das neue Schicksal, das mein Blut verlangt,/und spei sie aus, zurück, die toten Städte!‹«

Eigensinn? Das Wort ist mit Kindheit aufgeladen. Im Wilna des Dichters mit solcher Einfühlungskraft ließen die Deutschen ein Getto für die Juden errichten, aber das war kein Getto, das war ein Schlachthaus, in dem man Menschen nackt durch die Straßen jagte, ihnen lebendigen Leibs die Augen ausstach, die Gliedmaßen abhackte, heiße Nadeln durch Zungen und Geschlechtsorgane trieb, die Gesichtshaut abzog, die Kinder mißbrauchte und alle obendrein mit Worten und Scheinexekutionen verhöhnte, bevor man sie abschlachtete, fast jeden, 60000 Menschen. Sutzkever wurde zum Chronisten des Wilnaer Infernos. Nicht aus höherer Berufung zur Zeugenschaft, wie ihm nachträglich untergeschoben wurde, sondern wegen eines Pakts, den ein Engel der Dichtung mit ihm geschlossen hatte: »Du hast es in der Hand. Wird dein Gesang mich begeistern, werde ich dich beschützen mit flammendem Schwert, falls nicht – sollst du dich nicht beklagen«.

So dichtete er um sein Leben. »Wer läuft durch die tote Stadt mit schlagenden Flügeln/wie ein Vögelchen mit dem Messerschnitt im Hals,/losgerissen/aus den blutigen Händen des Schlächters?« fragt das Gedicht »Drei Rosen«, und man sieht »einen Menschen, klein wie ein Fingerhut/und größer als jeder./Ohne Kleidung,/nackt wie der Wind./Seine Haut aus blauem gewellten Glas/ist durchsichtig/und macht – wie erschreckend, es zu glauben –/all das Innerste, Verborgene sichtbar:/Eine Schar von Gefühlen, alle in Ketten gefesselt/wie Verbrecher,/und über ihnen eine purpurrote Nagaika,/Jedes einzelne Gefühl/beißt das andere in die Gurgel:/Du bist schuld, du./Und schreit auf Jiddisch«.

Und die Hölle in uns? Schmerzhafter als jede Nagaika-Peitsche: »Mutter, ich bin krank!/Meine Seele ist krätzig/und vielleicht noch schlimmer:/verrückt, aussätzig,/und der Balsam von deinem Munde/ein zu heiliger Trank,/als daß ich ihn begehr/für meine unheilbare Wunde.«

Im Dezember 1941 brachte Frejdke, inzwischen mit Abrascha verheiratet, im Krankenhaus ein Kind zur Welt. In den Wehen umklammerte eine Hand seine Höllendichtungen. Von einem Büttel mit Totenkopf an der Mütze sofort vergiftet, wurde das Neugeborene in die verschneite Blutgrube geworfen. Verzweifelt träumend sucht der Vater in einem Gedicht für das erkaltende Kind einen Zufluchtsort und übergibt es schließlich dem behütenden Schnee der sibirischen Kindheit. Es gibt keinen Tod, es sei denn, man anerkennt die SS.

Später bekannte Sutzkever, nie wieder Gedichte wie in dieser Zeit geschrieben zu haben, in der er im Getto die Fareinigten Partisaner Organisatzije (FPO) mit aufbaute. Mitte September 1943 brachen er, Frejdke und Katsherginski als bewaffnete Kämpfer der FPO aus dem Getto aus, um sich sowjetischen Partisanen anzuschließen. Sie kämpften in der Woroschilow-Brigade. Gedichte von Sutzkever drangen nach Moskau, erregten Aufsehen bei öffentlichen Vorträgen. Im März 1944 ließ der Vorsitzende des Jüdischen Antifaschistischen Komitees, Ilja Ehrenburg, Sutzkever und dessen Frau per Geheimflug über die Frontlinie nach Moskau bringen. Dort schrieb Sutzkever den Augenzeugenbericht »Wilner Getto 1941 bis 1944« nieder. Im Februar 1946 trat er als Zeuge des sowjetischen Anklägers beim Nürnberger Kriegsverbrecherprozeß auf.

Im September 1947 emigrierte das Paar mit der zweijährigen Tochter Rina (Gesang) ins spätere Israel. In Tel Aviv wurde die zweite Tochter Mire geboren (benannt nach einer Gettolehrerin, die die ihr anvertrauten Kinder in den Tod begleitet hatte). Sutzkever gründete eine »Zeitschrift für Literatur und gesellschaftliche Probleme«, Di goldene kejt, veröffentlichte Lyrik- und Prosabände, sein Werk wurde in 30 Sprachen übersetzt. Er starb 2010, acht Jahre nach seiner Frau und lange nach Katsherginski, der nach Argentinien emigriert und dort schon 1954 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Artikel zur Veröffentlichung in dieser Ausgabe. Ersveröffentlicht wurde er in der JUNGEN WELT

Vom Autor erschien bei TREND:


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Rose des Exilgeborenen

Ein Essay von Antonín Dick