Rolle rückwärts
Marokko vor Regierungsumbildung

von Bernard Schmid

08-2013

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Stillstand und Stagnation: Diese Aussichten sind die einzigen, die die Marokkanerinnen und Marokkaner sich von der wahrscheinlichen nächsten Regierung versprechen können. Infolge des Koalitionsbruchs, der am 09. Juli 13 erfolgt war, und des Austritts der bürgerlich-nationalistischen Partei Istiqlal (Unabhängigkeit) aus dem Regierungsbündnis ist die islamistische „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ – der PJD – auf einen neuen Partner angewiesen.

Zwar bleibt den Regierungsislamisten noch eine dritte Partei als Koalitionspartner übrig, die seit Ende 2011 mitregierende linksliberale und ex-kommunistische Partei PPS. Diese heißt lediglich dem Namen nach noch „Partei für Fortschritt und Sozialismus“, ist aber eine vollständig verbürgerlichte Partei, die inzwischen unter fast jeder Bedingung und zu fast jedem Preis im Kabinett bleiben würde. Ironischerweise hatte sie, wie auch manche andere ex-kommunistische Parteien in arabischsprachigen Ländern, ihre Abwendung vom Marxismus nach 1989 und die Hinwendung zu rein bürgerlichen Werten anfänglich damit legitimiert, letztere müssten gegen den Anstieg des Islamismus verteidigt werden. Heute sitzt sie mit der stärksten islamistischen Partei Marokkos in der Regierung. Aber dessen ungeachtet sind PJD und PPS, Islamisten und Linksliberale, allein zu schwach, um über eine Mehrheit zu verfügen.

Vor diesem Hintergrund gilt es seit nunmehr 14 Tagen als wahrscheinlich, dass der bisherige Platz von Istiqlal im Kabinett zukünftig durch die „Sammlung der Unabhängigen“, den RNI, eingenommen wird. Also durch eine dem marokkanischen Königshaus nahe stehende und vor allem aus Honoratioren bestehende, strukturkonservative Partei. Allerdings hatte der RNI am Dienstag vergangener Woche entsprechende Informationen erst einmal offiziell dementiert, und Beobachter wie der marokkanische Politikjournalist Hassan El Mekoui stellen sich inzwischen auf zähe und möglicherweise länger dauernde Verhandlungen ein. Auch Anfang dieser Woche war die neue Koalition noch nicht formal ausgemacht. Unterdessen stellt der RNI mit neuen Forderungen nach, etwa jener nach einer vollständigen Kabinettsumbildung (vgl. http://www.yabiladi.com/ ).

Eventuell, falls die Gespräche doch scheitern, könnte es auch zu vorgezogenen Neuwahlen kommen. Allerdings dürfte der PJD eine solche Perspektive eher fürchten. Die Zeitung Le Soir bezeichnet sie gar als „Katastrophenszenario“, da ihr zufolge dann die Stimmbeteiligung auf nur noch 30 bis 35 Prozent absinken würden – gegenüber rund 50 Prozent bei der letzten Parlamentswahl – und daraus ein starkes Legitimationsdefizit erwüchse. Doch PJD-Premierminister ’Abdelilah Benkirane erklärte am letzten Mittwoch schon einmal, seine Partei sei zu allen denkbaren Szenarien bereit, ausdrücklich auch zu Neuwahlen.

Die jetzt zerbrochene Regierungskoalition hatte ursprünglich einmal als Hoffnungsträger gegolten, oder war jedenfalls von vielen Beobachtern und politischen Akteuren so präsentiert worden. Dazu kam es im Kontext der Bewegungen im Zusammenhang mit dem „Arabischen Frühling“, die im Jahr 2011 auch Marokko berührten, allerdings schwächer als die Nachbarländer Tunesien, Libyen, Ägypten und vorübergehend – allerdings nur kurzfristig – Algerien.

Nach Protestversammlungen und Demonstrationen, die landesweit am 20. Februar 2011 begonnen hatten, ließ das Königshaus die Bevölkerung am 01. Juli desselben Jahres über eine neue Verfassung abstimmen. Diese war zwar „von oben“ in einem Expertengremium ausgearbeitet und kurz zuvor - am 17. Juni 11 - erstmals präsentiert worden. Dennoch öffnete sie, so schien es, erheblich weitere demokratische Spielräume als bisher. Im selben Zusammenhang löste der König das Parlament auf und löste um ein Jahr vorgezogene Neuwahlen am 25. November 2011 aus. Bei ihnen wurde der PJD erstmals, mit einer relativen Mehrheit von 26 % der Stimmen, stärkste Partei und ging einen Monat später eine heterogene Regierungskoalition ein.

Doch dabei ist es zwischenzeitlich geblieben. Seitdem blieben alle Impulse für Reformen, wie immer man die Vorhaben der Koalition auch inhaltlich bewerten möchte, jämmerlich stecken. Auch die neue, demokratischere Verfassung besteht im Augenblick quasi nur auf dem Papier. Denn seit zwei Jahren wurde kein Schritt unternommen, um die notwendigen Ausführungsgesetze oder -dekrete zu verabschieden, mit denen die neuen Spielregeln konkretisiert werden müssten.

In Marokko besteht eine Art Doppelmacht. Neben der formellen, juristischen Regeln gehorchenden Staatsmacht besteht ein „Schattenstaat“, der in der Gesellschaft allgemein bekannt und tief verankert ist. Es handelt sich um ein in der Tradition wurzelndes Netzwerk aus religiösen Bruderschaften, lokalen Feudalherren, die auf Titel wie Qaid hören, und - an seiner Spitze stehenden – informellen doch einflussreichen Beratern des Königs. Es verhält sich ungefähr so, als würden sich in Deutschland bei einem Land- oder Familienstreit viele Menschen zuerst nicht an einen Richter, sondern an den örtlichen Herrn Baron wenden. Die aus dem Parlament hervorgehende Regierung gebietet nicht über den „Schattenstaat“, sondern nur über die formalen, verrechtlichten Strukturen. Doch aus Gründen der eigenen Selbsterhaltung hat das Königshaus seit 1997/98 nacheinander zwei verschiedene Parteien aus dem „zivilen Sektor“, die nicht der Schattenstruktur angehören, an die Regierung kommen lassen. Zuerst war das die marokkanische Sozialdemokratie, die „Sozialistische Union der Volkskräfte“ USFP, die nach einem Jahrzehnt politischen Scheiterns 2011 in die Opposition ging, und danach der PJD. Beide Parteien erhoben den Anspruch, zumindest Reformen durchzuführen und die Macht des Königshauses sowie der feudalen Großfamilien zugunsten ihrer eigenen sozialen Basis zu beschneiden. Auch wenn beide den Fortbestand der Monarchie akzeptierten und garantierten.

An der Spitze ihrer quasi-feudalen Struktur steht der König, seit 1999 amtiert Mohammed VI. Sein politischer, sozialer und ökonomischer Einfluss bleibt immens, obwohl er unter anderem durch die neue Verfassung beschnitten wird – oder würde, falls es auch zu ihrer Umsetzung käme. Die „Parallelregierung“ aus informellen Beratern des Monarchen ist mächtiger als die offizielle, vom Parlament bestimmte Regierung. Ihr stehen die so genannten „Thronparteien“ – wie der Pôle authenticité et modernité (PAM) und der RNI – nahe. Letztere stehen in dieser Legislaturperiode bislang formell in der Opposition, üben jedoch dadurch Einfluss aus, dass sie dem Thron nahe stehen.

Kommt es nun dazu, dass der RNI in die Regierung aufgenommen wird, dann sitzen sie auch formal nunmehr mit am Tisch. Die alte Koalition zerbrach wahrscheinlich auch unter dem Einfluss des Königshauses. Zwar ist Istiqlal eine bürgerliche und keine feudale Partei, im teilweisen Unterschied zu PAM und RNI. Doch die oberen Schichten der marokkanischen Bourgeoisie sind selbst in die feudale Sozialstruktur eingebunden, anders würden sie keine Geschäftslizenzen erhalten. Daher bleiben sie mindestens auf das Wohlwollen des Königshauses und der führenden Familien angewiesen.

Seit einigen Monaten hatte sich das Verhältnis zwischen dem Monarchen Mohammed VI. einerseits, Benkirane und dem PJD andererseits zumindest angespannt. Anders als früher garnierte Premierminister Benkirane in jüngerer Zeit seine Reden nicht mehr mit Hinweisen auf Telefongesprächen, die er mit dem König geführt habe. Am 01. Juli 13 beschloss das Religionsministerium, das nicht in der Hand des PJD liegt, sondern dem Thron nahe steht, die Koranschulen des Salafisten Mohamed Maghraoui in Marrakesch dicht zu machen. Dies war auch eine Kriegserklärung an den PJD. Zwar stehen die Salafisten überwiegend außerhalb des PJD und vertreten eine andere Variante des politischen Islam. Einige von ihnen traten jedoch der Partei bei, andere riefen in den letzten Jahren zu ihrer Wahl auf, weil sie sich davon Zugeständnisse erhofften. Ansonsten warten sie darauf, dass ein eventuelles Scheitern des PJD an der Regierung ihnen selbst mehr Anhänger zutreibt.

Im selben Zeitraum ermutigte der Sturz von Präsident Mohammed Mursi in Ägypten, unter dem – widersprüchlichen - doppelten Einfluss einer Massenbewegung und der Armeespitze, die Gegner des PJD in Marokko zu neuen Schritten. Istiqlal-Parteichef Hamid Chabat forderte Benkirane dazu auf, er möge die Absetzung seines „Bruders und Freunds“ Mohammed Morsi doch „zur Kenntnis nehmen“. Gleichzeitig sandte König Mohammed VI. ein Glückwunschtelegramm an Ägyptens neuen Interimspräsidenten ’Adly Mansouri, den die Militärs auf den frei gewordenen Stuhl von Ex-Präsident Mursi gesetzt haben. Beides musste wie eine Provokation auf den PJD wirken.

Auf die Straße ging die Partei allerdings nicht. Dort protestierten die Salafisten gegen die Entmachtung Mursis, mit Sit-ins in den marokkanischen Städten Casablanca und Tétouane. Allerdings blieben die Versammlungen zahlenmäßig schwach. Derzeit scheint die Stunde der Salafisten nicht gekommen. In einer Befragung durch die Webseite Magharebia zum Thema „Erfasst die salafistische Welle Marokko?“ zeigen sich die Beobachter über die Gefahr einer solchen gespalten, glauben jedoch mehrheitlich nicht an einen massiven Zuwachs dieser Strömung in naher Zukunft.

Um die Monarchie vor den gesellschaftlichen Folgen seiner Entfernung von der Regierungsmacht zu warnen, betonten Premierminister Benkirane und die Parteiführung des PJD unterdessen in jüngster Zeit das Risiko neuer sozialer Konflikte. „Das Feuer ist noch nicht aus“, erklärte ’Abdelilah Benkirane bei einer Versammlung am 30. Juni 13 in Rabat. Auf lokaler Ebene kommt es derzeit vereinzelt zu zugespitzten Konflikten, etwa im Juni und Juli dieses Jahres in der zentralmarokkanischen Stadt Khénifra. Dort kam es zu Arbeiterprotesten, und in Antwort darauf zu massiver Polizeigewalt. Auch die seit 2011 für mehr demokratische Rechte kämpfende „Bewegung des 20. Februar“ macht weiter. An diesem Sonntag wurde ein Sit-in dieser Oppositionsbewegung in der Hauptstadt Rabat von der Polizei gewaltsam abgeräumt, was zu Protesten der Menschenrechtsvereinigung AMDH führte. Allerdings sind die sozialen Kämpfe derzeit deutlich schwächer als in 2012, wo sie einen vorläufigen Höhepunkt erreichten.

Editorische Hinweise

Wir erhielten den Text vom Autor für diese Ausgabe.