Ich möchte
Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Stigmatisierung
von Erwerbslosen in beiden deutschen Staaten
darstellen.
Es gab in der DDR nicht
nur ein Recht auf Arbeit, sondern auch eine Pflicht
zur Arbeit. Menschen, die nicht
arbeiteten, wurden stigmatisiert. Sie wurden von der
Staatsmacht als „Asoziale“ kriminalisiert, von der
kleinbürgerlichen Normalbevölkerung als „Assis“
diffamiert.
Aber: da es keine
Sozialleistungen für Arbeitsfähige gab, wurden sie
auch nicht als Kostenfaktoren angesehen.
Aber: da es auch ein Recht
auf Arbeit gab, konnten sie jederzeit einen Job
bekommen.
Aber: die Subkultur fand
Nischen in der Arbeitsgesellschaft. Da die Miet- und
Lebenshaltungskosten gering waren, kam man auch mit
niedrigen Löhnen und Phasen der Arbeitslosigkeit
zurecht. Es gab keinen und kaum Existenzdruck und man
hing nicht am staatlichen Tropf. Die Subkultur war vom
Staat weitestgehend unabhängig.
Heute werden die
Erwerbslosen aufgrund der Eigentumsverhältnisse, die
hohe Miet- und Lebenshaltungskosten produzieren, und der
Perspektive niedriger Löhne in staatlicher Abhängigkeit
gehalten, was ihnen wiederum zum Vorwurf gemacht wird.
Der Staat will die Kosten reduzieren und diffamiert
Erwerbslose als Kostenfaktoren. Das gelingt ihm, indem
die hart, und oftmals prekär Arbeitenden gegen die
vermeintlichen Sozialschmarotzer aufgehetzt werden. Die
Klasse der Lohnabhängigen soll gespalten werden.
Der Zorn der Verlierer und der
Mittelschicht, die Angst vor dem Abstieg hat, soll auf
jene gerichtet werden, denen es noch schlechter geht. Es
soll Hass gegen Minderheiten, die sich nicht wehren
können, geschürt werden. Ziel ist die Senkung der
Sozialleistungen und eine Arbeitspflicht für
Erwerbslose, die dadurch alle in den Niedriglohnsektor
gedrängt werden sollen.
Geschichtlicher Rückblick:
DDR
Hier beziehe ich mich auf
das Buch „Das Begehren, anders zu sein“, dass ich im
Oktober 2012 beim Unrast-Verlag herausgegeben habe.
Nach 1945 waren beide
deutschen Staaten Arbeitsgesellschaften. Es bestanden im
Osten und im Westen Arbeitshäuser. Diese wurden in der
DDR in den 50er Jahren in „Heime für soziale Betreuung“
umbenannt. 1961 wurde mit einer Verordnung
Arbeitserziehungskommandos eingeführt.
1968 wurde im
Strafgesetzbuch der DDR ein „Asozialenparagraph“
eingeführt, auf der Grundlage dieses §249 wurden in den
70er Jahren zwischen 5000 und 14000 Personen pro Jahr
verurteilt, Mitte der 70er Jahre waren es 10 000.
§249: „Wer das
gesellschaftliche Zusammenleben der Bürger oder die
öffentliche Ordnung dadurch gefährdet, daß er sich aus
Arbeitsscheu einer geregelten Arbeit hartnäckig
entzieht, obwohl er arbeitsfähig ist, oder wer der
Prostitution nachgeht oder wer sich auf andere unlautere
Weise Mittel zum Unterhalt verschafft, wird mit
Verurteilung auf Bewährung oder mit Haftstrafe,
Arbeitserziehung oder mit Freiheitsstrafe bis zu zwei
Jahren bestraft. Zusätzlich kann auf
Aufenthaltsbeschränkung und auf staatliche Kontroll- und
Erziehungsaufsicht erkannt werden.“ (S. 202)
Es waren also
„Arbeitsbummelei“, „Arbeitsscheu“, „Prostitution“ und
das „Verschaffen von Mitteln zum Unterhalt auf andere
unlautere Weise“ (d.h. Bettelei, Wahrsagerei,
Glücksspiel, Verschleuderung der Familienhabe,
Unterstützung durch andere), die strafrechtlich relevant
sein konnten.
Ich habe in meinem Text
„Alltag und Repression in der DDR“ einige Beispiele
zitiert (S.33):
Es sind Berliner Einzelfälle
von „kriminell Gefährdeten“ (nach damaliger
Terminologie)
„(m26J.) Hartnäckige
Arbeitsscheu, brachte Familie in erhebliche
wirtschaftliche Probleme;
(m20) Lebte parasitär auf Kosten der Großmutter,
ungefestigte Einstellung zur Arbeit, Umgang mit anderen
Asozialen
(m40) Labiler Charakter, wurde von der arbeitenden Frau
miternährt, Mitbewohner im Haus informierte Polizei
(w21) Laufende Arbeitsbummelei, Negieren jeglicher
Einflußnahme, trieb sich wohnungslos umher
(m40) Negative Grundhaltung zur Arbeit, spricht im
Übermaß dem Alkohol zu und kann diesen nicht von sich
aus meiden“ usw.
Damit gerieten
Lebensentwürfe jenseits der geregelten Arbeit in eine
rechtliche Grauzone. Kriminalisiert wurden auch
Ausreisewillige und kulturelle Dissidenten mit
„äußerlich sichtbaren Merkmalen von Dekadenz“.
„Dekadent“ waren demnach zum Beispiel Punks.
Das Ministerium für
Staatssicherheit zu Punks
„Punks haben nur selten
geordnete Arbeitsverhältnisse. Häufiger Wechsel der
Arbeitsstelle, oft ohne Arbeit, unter der ehemals
erworbenen Qualifikation beschäftigt, schlechte
Arbeitsdisziplin, zahlreiche Bummelschichten,
Alkoholgenuß während der Arbeitszeit.(...) Der Punk hält
nichts vom Arbeiten. In Arbeit kann er keinen Sinn
erkennen. Ihm fehlen dazu die Voraussetzungen wie
Ausdauer, Fleiß, geordneter Tagesablauf, Fähigkeit zur
Planung des Alltags.“ (S.207)
Die
Subkultur wehrte sich gegen einen tabellarischen
Lebenslauf, eine Standardisierung ihres Lebens, die eine
lebenslange Erwerbsarbeit beinhaltete.
Peter antwortet in einem
Interview: „Ja, wir hatten ja mit 19 einen
Ausreiseantrag gestellt. Wir fanden alles Scheiße.
Konnten nicht reisen. Konnten nicht die Stones hören.
Sowieso haben wir uns eingesperrt gefühlt....Hier ist
sowieso nichts zu holen. Hier sollen wir lernen und uns
ein Leben lang in der Industrie abschinden.“ (S.191)
Henryk Gericke antwortet in
einem Interview auf die Frage, wogegen sie sich
aufgelehnt hätten:
"Gegen das
Staatsgefängnis, in dem wir leben mussten. Wir waren ja
nicht wie im Westen mit zuwenig Zukunft konfrontiert. Es
war einfach zuviel des Guten, das sich zum Schlechten
wendete. Es war eine Utopie, die uns fertig machte.
(...) Mit 14 dämmerte einem, wie das Leben aussehen
wird. Es stand von staatswegen geschrieben, dass man
lebenslänglich an derselben Werkbank oder im selben Büro
zubringt. Vorher NVA, davor FDJ, davor diesen
Pionierdrill durchmacht. Und mit 65
unwahrscheinlicherweise zum ersten Mal zum Beispiel nach
Irland fahren kann, denn Westgeld hatten ja die
wenigsten. Da entsteht eine ungeheure Angst, gerade
durch die viel gerühmten sozialen Errungenschaften. Die
waren das Totschlagargument für den eingeforderten
Kadavergehorsam." (S. 169)
Und zur Arbeitsplatzbindung
erzählt er: „Gefürchtet war die
sogenannte Arbeitsplatzbindung. Das bedeutete, dass man
als Punk auf irgendein Dorf verfrachtet werden konnte,
zur Untermiete wohnte und früh um vier Uhr aufstehen und
Schweineställe ausmisten durfte. Undenkbar, aber wahr.
Da bekam man natürlich Ärger mit den Dorfbullen und der
bäuerisch geprägten Jugend. Viele sind deshalb nach
Berlin zurück, haben sich illegal bewegt, wurden
aufgegriffen und inhaftiert." (S. 172)
Bert Papenfuß aus der
künstlerischen Prenzlauer Berg- Szene antwortet, ob sie
nicht mal wegen „Asozialität“ zum ABV mußten:
„Ja doch hin und wieder. Die
kamen normalerweise vorbei. Oder man mußte zur Klärung
eines Sachverhaltes hin. Mehr oder weniger witzig. In
den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren
sind ja noch Leute wegen Asozialiät in den Knast
gekommen. Diese extreme Bedrohung haben wir so nicht
mehr gespürt. Wir haben uns schon manchmal unwohl
gefühlt, aber bedroht, Angst vorm Gefängnis deswegen
hatten wir nicht.“ (S. 184)
Die Subkultur entwickelte
dagegen selbstbestimmte Erwerbsbiographien.
Dirk Moldt schreibt: „in den
siebziger und vor allem in den achtziger Jahren
entwickelten sich besonders in den Altbaugebieten der
Großstadtzentren gerade unter jungen Menschen weit
verzweigte Netzwerke, über die Dienstleistungen und
Waren ausgetauscht wurden. Gerade in diesen Milieus mit
hohem Kreativpotenzial waren Menschen zahlreicher
vertreten, die ihren Lebensunterhalt außerhalb staatlich
genormter Arbeitsrechtspraxis zu verdienen versuchten.
Zur Überlebensstrategie gehörte auch die Kommunikation
mit Gleichgesinnten, das Experimentieren und
Ausprobieren neuer Wege, sich aus staatlichen Strukturen
auszuklinken, die als einengend wahrgenommen wurden.
Produkte, wie
selbstgefertigte Kleidung, Schuhe, Lederwaren,
Töpferwaren oder Spielzeug, fanden reißend Absatz auf
Märkten. Künstler, die in touristischen Zentren Porträts
malten, berichteten von sagenhaften Umsätzen. Die
Normalbürger waren bereit, für Mangelwaren und
-dienstleistungen enorme Geldbeträge zu zahlen. Die
»Eigenständigen« konnten für monatlich zehn Mark eine
Krankenversicherung abschließen. In den späten achtziger
Jahren ließ die Bedrohung derartiger Lebensstrategien
durch den Staat nach und erreichte längst nicht mehr
alle, die keiner „geregelten«
Achtdreiviertelstundenarbeit nachgingen, obwohl bis 1989
immer noch Menschen wegen »Asozialität« eingesperrt
wurden.
Die eigentliche Dimension
dieser ertrotzten Freiheiten wird deutlich, wenn man die
eigenständige Erwerbstätigkeit als Teil eines
Komplettausstiegs aus staatlichen Strukturen und aus der
Gesellschaft der Mitläufer, Mitmacher und Zuschauer
ansieht. Wehrdienstverweigerungen, Wohnungsbesetzungen,
Aussteigerjobs, Subkultur, viel Freizeit, Bildung und
Reisen – freilich nur innerhalb der Möglichkeiten, die
der SED-Staat gebot – sowie großes kulturelles und
politisches Engagement waren Elemente eines Kosmos real
gelebter Freiheiten in einer prosperierenden
Parallelgesellschaft in der DDR.“ S. 222/ 223
Sven Korzilius schreibt,
dass für viele wegen „Asozialität“ in der DDR
Kriminalisierten „die sich in der DDR unfreiwillig, als
Opfer von Stigmatisierung und Kriminalisierung, als „die
Anderen“ sahen, 1989/90 kein Bruch, sondern eher einen
kontinuierlichen Übergang. Für nicht wenige wurde der
Kampf um strafrechtliche Rehabilitierung zum
unangenehmen Spießrutenlauf, viele sehen sich bis heute,
Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung, behördlicher
Repression und gesellschaftlicher Ausgrenzung gegenüber,
was kaum verwundert, angesichts des Fortlebens
tradierter diskriminierender Semantiken etwa in der
sozialrechtlichen Praxis oder in gesellschaftlichen
Diskursen.“ (S. 216)
Jetzt komme ich zum
Westen.
1. Periode: . 1955-1975
existierte eine Vollbeschäftigungsgesellschaft.
Massenarbeitslosigkeit war ein Problem vergangener
Zeiten, nur in der Krise 1966/67 ist sie ein
kurzzeitiger Fremdkörper.
Es gibt über die Zeit wenig
Informationen bezüglich Erwerbslosen. Der Spiegel
schreibt, dass es 1967 in der BRD 13 Arbeitshäuser gab,
mit 900 Arbeitshäuslern.
Zwei Beispiele nach
Terminologie des Arbeitshauses im Westen:
Victor Eimers, 68, seit 36
Jahren Bettler und Landstreicher, zum fünften Mal im
Arbeitshaus, es hält ihn im Altersheim nicht, geht immer
wieder auf die Walze, verbraucht, zu einer Arbeit kaum
tauglich
Frieda Walter, 62, insgesamt
30mal wegen Bettelei vorbestraft- „primitiv, läppisch,
äußerst schmutzig, treibt sich bettelnd und verkommen in
Köln herum“
2.
Phase: 1975-1990: zunehmende Massenarbeitslosigkeit
Dirk Hauer schreibt, dass
der Sozialstaat in den 70er und 80er Jahren von einer
nicht geringen Anzahl von ArbeiterInnen dazu benutzt
wurde, sich zumindestens phasenweise der Hetze, dem
Druck und der Reglementierung des Arbeitsalltages zu
entziehen.
Hans Uske hat im Buch „Das
Fest der Faulenzer“ von 1995 die Tendenzen des
Massenarbeitslosigkeitsdiskurses in der BRD beschrieben.
Mitte der 1970er Jahre endet mit der Krise die
Vollbeschäftigung. Von 1975 bis ca. 1985 wird die
Arbeitslosigkeit zu einem innenpolitischen Thema. Sie
wird als gesellschaftliches Kernproblem wahrgenommen.
Die meisten Arbeitslosen seien echte Arbeitslose mit
schwerem Schicksal. Aber es werden auch Drückeberger
vermutet, sie wollen nicht arbeiten. So Norbert Blüm
1983: „Aber ist es nicht eine moderne Form von
Ausbeutung, sich unter den Palmen Balis in der
Hängematte zu sonnen, alternativ vor sich hin zu leben
im Wissen, daß eine Sozialhilfe, von Arbeitergroschen
finanziert, im Notfall für Lebensunterhalt zur Verfügung
steht?“ Ab Mitte der 1980er Jahre gewöhnt man sich an
die Arbeitslosigkeit, sie wird zum Randproblem. Man
entdeckt immer mehr „unechte“ Arbeitslose. Unechte
Arbeitslose sind jetzt auch Arbeitslose, die nicht
können, wie unbrauchbare, alte, falsch oder nicht
qualifizierte, behinderte Arbeitskräfte. Und es sind
Arbeitslose, die nicht arbeiten dürfen, wie Frauen und
Ausländer.
3. Phase
1990-1998: Kohl-Ära nach der Wiedervereinigung
In den neuen Bundesländern
nimmt die Arbeitslosigkeit mit der Deindustrialisierung
dramatische Züge an. Dort werden massenhaft
Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen etabliert. Die
disziplinarischen Mittel werden ausgebaut,
Leistungskürzungen vorbereitet. Kohl redet 1993 über den
„kollektiven Freizeitpark“, zu dem er Deutschland bei
3,4 Millionen Arbeitslosen verkommen sah.
Das FALZ schreibt: Zwischen
1980 und 1984 wurden in Frankfurt am Main tausende
Sozialhilfe beziehende Menschen zum Schneeschippen und
zu Reinigungsarbeiten eingesetzt. Eine größere
Protestwelle stoppte diesen ersten Versuch. Anfang der
Neunziger Jahre wurde immer mehr die „gemeinnützige
Arbeit“ etabliert. Auch damals gab es bereits
„Mißbrauchsdebatten“ in den Medien. Der Focus beklagte
„das süße Leben der Sozialschmarotzer“ (43/1995) und der
Stern titelte „Ärgernis Sozialhilfe- wann sie notwendig
ist, wie sie mißbraucht wird.“ (36/1997) Die Zeit machte
einen Themenschwerpunkt: „Arbeitsdienst? Warum nicht!“
Christa Sonnenfeld schreibt
damals: Der autoritäre Staat gewinnt an Konturen. Die
Erwerbslosen sollen aus dem Leistungsbezug gedrängt
werden. Sie sollen auf Niedriglöhne zugerichtet werden.
4. Phase 1998-2004:
Vorbereitung von Hartz IV: Die Schröder-Ära
Als ich 1997 mit der
Erwerbsloseninitiative „Hängematten“ in die
Erwerbslosenszene eintauchte, gab es bereits einen
Drückebergerdiskurs. Aber es gab auch Gegenbewegungen,
die Glücklichen Arbeitslosen, das Manifest gegen die
Arbeit der Gruppe Krisis, den Kongreß „Anders arbeiten
oder gar nicht“ etc. Die Herrschenden planten die
Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe und es
gab seit 2002-2004 in Berlin dagegen die Hartz IV-
Proteste. Mit einer Großdemo (100 000 TeilnehmerInnen)
und den Montagsdemos gab es auch hier starke
Gegenbewegungen. Mit Einführung von Hartz IV und dem
massiven Ausbau des Niedriglohnsektors (der höchsten
Beschäftigungsquote seit 20 Jahren) sind diese
Gegenbewegungen weitestgehend verschwunden. Viele
Erwerbslose werden in Bewegung gehalten.
5. Phase: 2005- 2008 Nach
Einführung von Hartz IV
Faulenzerdebatten gibt es
schon lange. Ob Norbert Blüm die Sozialschmarotzer in
der Hängematte von Bali wähnte oder Gerhard Schröder vor
Einführung von Hartz IV sagte: "Es gibt kein Recht auf
Faulheit". Während aber noch 2004 während der
Montagsdemos Solidarität mit den Erwerbslosen bekundet
wurde, kippte die Stimmung Mitte 2005 nach Einführung
von Hartz IV und vor allem dem Clement-Report "Vorrang
für die Anständigen", in dem die vermeintlichen
Sozialbetrüger und ihre Anstifter diffamiert wurden. In
den Jahren 2006 und 2007 wurde dann die
Unterschichtendebatte geführt.
Eine neue Qualität gewinnt
die Stigmatisierung Erwerbsloser mit der
Unterschichtendebatte, die 2004 mit dem Buch Generation
Reform von Paul Nolte beginnt. Nach Einführung von Hartz
IV wird die „neue Unterschicht“ ausgerufen.
Höhepunkt dieser Debatte
war der Vergleich von Hartz IV-Beziehern mit „Parasiten“
im Clement-Report „Vorrang für die Anständigen“.
Eine Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung prägte den Begriff „abgehängtes
Prekariat“ und schließlich gab es die Debatte zwischen
Kurt Beck und Henrico Frank.
6.
Phase: 2009-2012:Es wird mit Sloterdjik, Sarrazin ein
elitärer Diskurs geführt. So stellt es jedenfalls die
Studie von Heitmeyer fest. Die Abwertung von
Langzeitarbeitslosen und Armen durch Eliten wird
allerdings schon lange vorhanden sein.
Wie funktioniert
die Stigmatisierung?
Hier einige Aussprüche
von Politikern und anderen
„Nur wer arbeitet, soll
auch essen“, sagte der Arbeitsminister Franz Müntefering
2006.
„Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht,
lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.“, so Westerwelle.
Der Professor Gunnar
Heinsohn kritisierte die hohen Sozialkosten. Der Staat
solle verhindern, dass die Unterschicht wächst. Die
Armen sollen sich nicht vermehren. Aus dem Ausland
sollten auch keine „Niedrigleister“ kommen, denn der
Nachwuchs würde die „Bildungsschwäche“ weiterschleppen.
Die Sozialleistungen sollten wie in den USA auf fünf
Jahre begrenzt werden, dann würden „Frauen der
Unterschicht Geburtenkontrolle“ betreiben.
Der Philosoph Peter
Sloterdijk will die Sozialsysteme durch eine Kultur des
Schenkens ersetzen. So wird die Entscheidung über Leben
und Tod den Launen der Mäzene überlassen.
"In Deutschland gibt es
Leistungen für jeden, notfalls lebenslang. Deshalb
müssen wir Instrumente einsetzen, damit niemand das
Leben von Hartz IV als angenehme Variante ansieht",
sagte der hessische Ministerpräsident der
"Wirtschaftswoche". ""Wir müssen jedem
Hartz-IV-Empfänger abverlangen, dass er als
Gegenleistung für die staatliche Unterstützung einer
Beschäftigung nachgeht, auch niederwertiger Arbeit, im
Zweifel in einer öffentlichen Beschäftigung", so Koch.
Für ihn kann es kein "funktionierendes
Arbeitslosenhilfe-System geben, das nicht auch ein
Element von Abschreckung enthält. Sonst ist das für die
regulär Erwerbstätigen, die ihr verfügbares Einkommen
mit den Unterstützungssätzen vergleichen, unerträglich."
So meinte Sarrazin (SPD),
dass sich „Arbeitslose schon für 3,76 Euro völlig
gesund, wertstoffreich und vollständig ernähren“ können.
Damit ließ sich sogar noch sparen, denn im Regelsatz
seien 4,25 Euro pro Tag vorgesehen. Außerdem hätten es
Hartz IV-Bezieher gerne warm, die Temperatur würden sie
mit dem Fenster regulieren. Bei Hartz IV sei Luxus eben
nicht angesagt. „Kalt duschen ist doch eh viel gesünder.
Ein Warmduscher ist noch nie weit gekommen im Leben.“
Mißfelder (CDU) meinte,
dass die Erhöhung von Hartz IV ein „Anschub für die
Tabak- und Spirituosenindustrie“ sei. Für den ehemaligen
Grünen Oswald Metzger waren Sozialhilfebezieher
Menschen, deren Lebenssinn daran bestehe, Kohlenhydrate
und Alkohol in sich hineinstopfen.
Für Buschkowsky wandert
das Geld für Hartz IV-Bezieher in Zigaretten, ins
Pay-TV, an die Tanke oder in Suchtmittel wie Alkohol,
bei den Kindern würde nichts ankommen. Daher müssten
Sachleistungen im Vordergrund stehen.
Unterschichtsfernsehen
Jörn Hagenloch stellte in
einer Veranstaltung 2010 Ergebnisse seiner Dissertation
vor. Die mediale Unterfütterung von
„Schmarotzerdebatten“ – Unterschicht als
Unterhaltungsprogramm. Wie das Fernsehen eine neue
soziale Klasse konstruiert und inszeniert.
Er hatte vor allem
Nachmittagstalkshows im Fernsehen analysiert, die in den
1990er Jahren aufkamen. Inzwischen gibt es den Begriff
„Unterschichtenfernsehen“ dafür. In diesen Shows gab es
einen neuen Typ von Gästen: „Prolls„, „Assis„ etc.,
Reality Shows waren extrem billig zu produzieren und sie
brachten Zuschauer, es war unglaublich erfolgreich. Die
Realität wurde stark emotionalisiert und dramatisiert,
der Rohstoff für die Fernsehunterhaltung wurde das
Private, Intime, Reale. Damit brachen Dämme in der
Gesellschaft. Die „Unterschicht“ wurde in den Sendungen
vorgeführt, inszeniert, in einer bestimmten Art und
Weise gezeigt.
In den Sendungen wird ein
bestimmtes Bild von den Unterschichtlern erzeugt. Es
werden größte, persönliche Katastrophen, die soziale
Abweichung gezeigt. Die Unterschichtler seien laut,
obzön, hemmungslos, aggressiv, asozial, Hängematte,
dick, dünn, kriminell, verwahrlost, erziehungsunfähig.
Die Darstellung, was Unterschicht sein soll, wird
inszeniert. Die Leute werden in die Erwartung gepresst.
Dabei wird nur die Stereotypisierung gezeigt, nicht die
Abweichung. Der
Stereotyp sind: frühe
Schwangerschaften, ungeklärte Bindungen, unproduktiv,
Leben vor dem Fernseher, können nicht kochen, haben
keine Bildung, arbeitsscheu, kleinkriminell. Früher
wurde die Unterschicht im Studio gezeigt, heute zu
Hause. Der Referent zeigte uns als Beispiele „Vera am
Mittag“ im Studio, und „Super Nanny“ zu Hause.
Das Bild von Leuten, die
ganz unten sind, wandelt sich. Aus den Opfern werden
Täter. Sie werden zu einem kollektiven Negativbild, sind
unproduktiv, destruktiv, negativ. Diese Klischees werden
inszeniert, in den Inszenierungen wird nicht nach dem
Warum gefragt.
Die Bildzeitung
Die BILD
hetzt seit vielen Jahren mit folgenden Titeln:
Wenn sich Putzen nicht
mehr lohnt
Arbeitslos und stolz darauf?
Rekord-Quote bei Hartz IV-Missbrauch
So einfach ist es den Staat zu bescheißen
Hartz IV-Abzocke
Hartz IV-Betrüger
Sozialabzocker „Florida Rolf“, „Karibik-Klaus“
Wer arbeitet, ist der Dumme!
Wer arbeitet, ist ein Idiot
Die üblen Tricks der Hartz IV-Schmarotzer !...und wir
müssen zahlen
Villa mit Hartz IV
„Faul, frech, dreist“
Die AutorInnen des
gleichnamigen Buches haben die Diskriminierung von
Erwerbslosigkeit durch Bild-LeserInnen ausgewertet, am
Fall des „frechsten“ Arbeitslosen Arno Dübel.
Ihr Fazit: Biologistische
Annahmen über Arme werden naturalisiert (Intelligenz sei
erblich). Soziale Vorurteile werden kulturalisiert
(Erwerbslose seien faul) und institutionalisiert (z.B.
Gesetze). Es gibt sprachliche Zuschreibungen (alle Armen
seien „sozial schwach“). Es wird ein oben und unten
konstruiert (Die Unten schauen Unterschichtsfernsehen).
„Klassismus“
Im gleichnamigen Buch
werden diese Methoden für die Hetze gegen Arme etwas
ausführlicher beschrieben.
Naturalisierung/Biologisierung: Es ist ein zunehmender
Sozialdarwinismus, Bestandteil faschistischer Ideologie,
zu spüren. Die Klassengesellschaft wird wieder
unverhohlen als natürliche Ordnung propagiert.
Gesellschaftliche Probleme werden ins Reich der Natur
verbannt. Es heißt, Fähigkeiten von Menschen seien
naturgegeben, womit die Klassenordnung legitimiert wird.
Ein typisches Beispiel für eine Biologisierung
präsentiert Sarrazin. Er behauptet, dass Intelligenz bis
zu achtzig Prozent vererbt wird und Muslime aus der
Türkei und dem Nahen/Mittleren Osten sowie Menschen aus
der „Unterschicht“ aus genetischen und kulturellen
Gründen eine niedrigere Intelligenz aufweisen.
Kulturalisierung:
Gesellschaftliche Probleme werden in die „Kulturen“
verlagert, die quasi naturgegeben oder nur sehr langsam
wandelbar seien. Ein typischer Vertreter für diese
Behauptung ist der Historiker und Publizist Paul Nolte.
Die bürgerliche Leitkultur sei der Maßstab, die „neue
Unterschicht“ in eine ungesunde Kultur abgerutscht.
Unterschichten wird Unkultiviertheit unterstellt.
Oben und Unten: Wer in dem
Zusammenhang von „oben“ und „unten“ spricht, skizziert
ein Schichtenmodell – die Reichen sind oben, die Armen
unten. Heute wird auch mit dem Begriff des Milieus
gearbeitet. Die „Unterschicht“ wird als Unterwelt
dargestellt, die „Unterschichtler“ als „Untermenschen“,
die „unterprivilegiert“ vor dem Unterschichtenfernsehen
sitzen.
Sprachliche Zuschreibungen:
Die Klassenverhältnisse spiegeln sich in der Sprache
wider. Wer „oben“ ist, wird aufgewertet. Wer „unten“ ist
abgewertet. Die Stereotypen werden immer wieder
bekräftigt und neu hergestellt. Die Bilder prägen sich
ein. Begriffe wie „Sozial Schwache“ oder „Bedürftige“
werden durch die Herrschenden geschaffen und sollen den
Opferstatus armer Menschen verfestigen, sie in
Unmündigkeit halten.
Institutionalisierung: Es
gibt ein komplexes Geflecht von Handlungen in
Institutionen, die Menschen systematisch bedrohen und
herabsetzen. „Klassismus wird in den Institutionen und
durch Institutionalisierungen über Gesetze, Ordnungen,
Verträge etc. hervorgebracht. (...) Klassismus spiegelt
sich in Gesetzen, in Architekturen, Hausordnungen,
Vorschriften, Zulassungen, Gehaltsgruppen, No-Go-Areas,
in der Stadt- und Verkehrspolitik, im Umweltschutz, in
der Familien- und Bildungspolitik, in der
Gesundheitspolitik, im Militär, der Nachrichten- und
Unterhaltungsindustrie wider.“, so heißt es in dem Buch
„Klassismus“.
Heitmeyer- Studie 2007-2008
In dieser Stimmungslage,
seit 2007 bezog die Forschungsgruppe um Heitmeyer auch
Langzeitarbeitslose in die Studie ein. “Sie werden unter
dem Gesichtspunkt mangelnder Nützlichkeit sozial
abgewertet...So stießen wir unter anderem auf folgende
Ergebnisse: Fast 50 Prozent der Befragten stimmten der
Aussage zu, daß die meisten Langzeitarbeitslosen nicht
wirklich daran interessiert sind, einen Job zu finden.
Empörend finden es insgesamt fast 61 Prozent, wenn sich
Langzeitarbeitslose auf Kosten der Allgemeinheit ein
bequemes Leben machen.” (Heitmeyer 2008, S.20ff. )
Langzeitarbeitslose sind
von massiven Abwertungen betroffen. Das ökonomistische
Denken nimmt immer mehr zu, alles wird dem Nutzenkalkül
untergeordnet. Personen werden nach ihrer Nützlichkeit
und Funktionsfähigkeit bewertet.
“Die Befragungsdaten zeigen,
daß über ein Drittel der Deutschen den Aussagen
tendenziell zustimmen, die Gesellschaft könne sich wenig
nützliche Menschen (33,3 Prozent) und menschliche Fehler
nicht (mehr) leisten (34,8 Prozent). Etwa 40 Prozent der
Befragten sind der Ansicht, in unserer Gesellschaft
würde zuviel
Rücksicht auf Versager
genommen, zuviel Nachsicht mit solchen Personen gilt
43,9 Prozent als unangebracht...“(Heitmeyer 2008, S.
39f.)
Hartz IV-Bezieher sind in
diesem Klima immer häufiger Verhöhnungen ausgesetzt.
“...neben die soziale Erniedrigung tritt das Urteil der
moralischen Ùnterlegenheit`”. (Heitmeyer 2008; S. 40f.)
Auch sozial abgehängte Gruppen können sich des
Mechanismus der Ungleichwertigkeit bedienen. Die
Umwandlung der eigenen Ungleichheit in die Abwertung
anderer ist ein Instrument der Ohnmächtigen. Die eigene
Unterlegenheit wird in Überlegenheit verwandelt. “Die
Transformation von Ungleichwertigkeit in extreme Formen
ùnwerten`Lebens, und damit der Schritt zur Gewalt, ist
dann nicht mehr groß.” (Heitmeyer 2008, S.41)
Heitmeyer stellt 2008
fest, dass bei sinkender Soziallage, die Ressentiments
gegen Langzeitarbeitslose kontinuierlich zunehmen. Das
Bedürfnis wachse, sich vom unteren Rand der
Sozialhierarchie abzugrenzen.
Während in Folge 6 und 7
der "Deutschen Zustände" noch die unteren Soziallagen
und deren Abwertungen thematisiert wurden, stellen
Heitmeyer u.a. in Folge 8 und 9 fest, dass die Abwertung
von Langzeitarbeitslosen ein elitärer Diskurs wird.
Dieser Diskurs wird durch
eine öffentliche Debatte eingeleitet.
2009-2011: Sarrazin,
Sloterdijk, Heinsohn, Westerwelle
Im September 2009
erscheint von Sloterdijk “Die Revolution der gebenden
Hand”. Sloterdijk spricht von “Semi-Sozialismus” und
“Staats-Kleptokratie”.
Im September 2009 trat
dann wieder Sarrazin auf den Plan. 2008 war er durch
seinen Speiseplan für Hartz IV- Bezieher bereits
aufgefallen. Sarrazin schreibt in Lettre International
Heft 86, S197-201: “Klasse statt Masse”
“Die Stadt (Anm. Berlin)
hat einen produktiven Kreislauf von Menschen, die Arbeit
haben und gebraucht werden, ob es Verwaltungsbeamte sind
oder Ministerialbeamte. Daneben hat sie einen Teil von
Menschen, etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung, die
nicht ökonomisch gebraucht werden, zwanzig Prozent leben
von Hartz IV und Transfereinkommen; bundesweit sind es
nur acht bis zehn Prozent. Dieser Teil muß sich
auswachsen...“
Dann kommt der Höhepunkt:
Thilo Sarrazins Buch “Deutschland schafft sich ab”
In der öffentlichen
Debatte wird vor allem sein Rassismus und Biologismus
kritisiert, nichts aber davon, was er eigentlich
fordert. Es geht vor allem um die migrantische und
deutsche Armutsbevölkerung.
Über die "Unterschicht"
schreibt er:
“Während die Tüchtigen
aufsteigen und die Unterschicht oder untere
Mittelschicht verlassen, wurden und werden in einer
arbeitsorientierten Leistungsgesellschaft vor allem jene
abgegeben, die weniger tüchtig, weniger robust oder ganz
schlicht ein bisschen dümmer und fauler sind.”
(Sarrazin, S. 79f.)
“Nicht die materielle,
sondern die geistige und moralische Armut ist das
Problem. (Sarrazin, S.123)
“Bekämpft werden muss
dagegen die ‘Armut im Geiste’, das heißt jene
Kombination aus Bildungsferne, Sozialisationsdefiziten
sowie Mangel an Gestaltungsehrgeiz und Lebensenergie,
der große Teile der Unterschicht in Deutschland prägt.”
(Sarrazin, S.132)
Ziele sind:
1.
Klasse der Lohnabhängigen wird gespalten. Diese
Klassenspaltung wird zur Diskriminierungsquelle.
jetzt gibt es eine Ablehnung nahezu aller
TransferbezieherInnen (selbständige Aufstocker, Kranke)
2.
Es wird eine sozialdarwinistische Stimmung geschaffen.
Damit soll eine gesellschaftliche Stimmung erreicht
werden, die den weiteren Sozialabbau ermöglicht.
Ökonomisierung der Gesellschaft. Der Mensch wird als
Kostenfaktor reduziert. Es geht um Nützlichkeit, Kosten,
Eigenverantwortung, Individualismus,
Leistungsgerechtigkeit. Hier wird oftmals in Produktive
und Unproduktive gespalten.
3. Senkung der Sozialleistungen
und Arbeitspflicht
Sarrazins Forderungen:
1 “Absenkung des
Regelsatzes für Erwerbsfähige. Der fraglos größte Anreiz
zur Arbeitsaufnahme läge in einer Absenkung der
Grundsicherung.” (Sarrazin, S.178)
2 “Das
Workfare-Konzept. Nach Empfinden der meisten Menschen
sollte jemand, der Leistungen der Allgemeinheit in
Anspruch nimmt, das ihm Mögliche tun, eine Gegenleistung
zu erbringen....“(Sarrazin, S. 182f.)
Es werden
also politische Konsequenzen gefordert. Es ist eine
Frage der Zeit, bis die “Propaganda der Ungleichheit”
(Lucke) zur politischen Umsetzung führt. In Zeiten des
sogenannten Aufschwungs und dem Absinken der
Arbeitslosenquote (auch durch Rausrechnen vieler aus der
Statistik) ist es wieder ruhiger geworden.
Das
Ziel ist immer das Gleiche: Die Stimmungsmache
gegen faule Arbeitslose bereitet Leistungskürzungen bei
Erwerbslosen vor. Wenn Arbeitslose Ansprüche an Lohn,
Qualifikation und Arbeitsbedingungen haben, dann
verteidigen die Lohnabhängigen ihre Interessen. Mit der
Verleumdung als Faulenzer soll der berechtigte
Widerstand gebrochen werden. Die Hartz IV-Bezieher
hätten keinen Arbeitsanreiz, denn Niedriglöhner hätten
oft weniger als Hartz IV-Bezieher. Ihnen fällt dann
nicht ein, dass die Löhne erhöht werden müssen. Nein der
Regelsatz muß runter. Und um das rechtfertigen zu
können, werden Hartz IV- Bezieher als Faulenzer und
Betrüger dargestellt.
Resümee Heitmeyer:
Gerade die subjektiv am
stärksten von der Krise Betroffenen und die politisch
besonders unzufriedenen Gruppen zeigen sich politisch am
wenigsten beteiligungsbereit. Wenn sich die
Machtlosigkeit der unteren sozialen Lagen mit einem
Autoritarismus der politischen Rechten verknüpft, kann
die Unzufriedenheit gegen schwache Gruppen gerichtet
werden. Gerade jene, die am meisten an den Folgen des
autoritären Kapitalismus leiden, haben politisch
resigniert.
Übrigens haben wir es
auch in anderen Ländern mit einer Abwertung der
underclass zu tun, so in Großbritannien.
Als am 6. August 2011 im
Londoner Stadtteil Tottenham soziale Unruhen ausbrachen,
nachdem die Polizei einen jungen Afro-Briten erschossen
hatte, erfuhr die Abscheu gegenüber den „Prolls“ ihren
Höhepunkt. Ein Drittel der Briten waren für den Einsatz
scharfer Waffen und zwei Drittel meinten, die Armee
solle gegen die Aufrührer vorgehen. Owen Jones schreibt,
dass Klassenhass zum festen Bestandteil der britischen
Kultur gehöre. Eine seiner Kernthesen lautet: Der neue
Klassenhass zielt nach wie vor vor allem auf die
organisierten ArbeiterInnen und die Gewerkschaften. In
seinem Buch „Prolls“ beschreibt er, wie die
Organisationsstrukturen der Arbeiterklasse in
Großbritannien zerschlagen und die Lohnabhängigen mit
dem Begriff „Chav“ („Prolls“) verächtlich gemacht
wurden. „Manche nennen sie Abschaum. Soziologen nennen
sie Unterschicht. Wie man sie auch nennt, sie nisten
sich überall ein.“, so war in einem vor Verachtung nur
so strotzenden Artikel in der Daily Mail zu lesen.
„Entmachtet und entehrt wurde die Arbeiterklasse
lächerlich gemacht und musste als Sündenbock herhalten“,
schreibt Jones. Eine Studie beförderte zutage, dass sich
nur noch 24 Prozent der Bevölkerung zur Arbeiterklasse
zählen wollen. Eine Besserung der Lage sei nur in Sicht,
wenn die Klassenfrage wieder auf die Tagesordnung
gesetzt werde, so Owen Jones.
In Großbritannien herrscht
eine derart große Ungerechtigkeit, dass dem einen
Prozent ganz oben 23 Prozent und der gesamten unteren
Hälfte nur sechs Prozent des Wohlstands gehören.
In Deutschland besitzt die
untere Hälfte der Bevölkerung ganze ein Prozent des
Vermögens, so der 4. Armuts- und Reichtumsbericht der
Bundesregierung. Diese Eigentumsverhältnisse und die
wachsende soziale Ungleicheit sollen legitimiert werden,
der Klassenhass wird nach unten gerichtet.
Lassen wir uns überraschen,
wie es mit der Abwertung der verbliebenen
Sockelarbeitslosen nach den Bundestagswahlen weitergeht.
Welche Überraschungspakete haben die Herrschenden wohl
wieder geschnürt?
Literatur:
Anne Seeck (Hg.), Das
Begehren, anders zu sein, Unrast 2012
Hans Uske, Das Fest der Faulenzer, DISS 1995
Christian Baron, Britta Steinwachs, Faul frech dreist,
edition assemblage 2012
Andreas Kemper, Heike Weinbach, Klassismus, Unrast 2009
Owen Jones, Prolls, VAT 2012
Wilhelm Heitmeyer, Deutsche Zustände, 10 Folgen,
Suhrkamp
Editorische Hinweise
Den Aufsatz erhielten wir
von der Autorin für diese Ausgabe.
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