Die Intelligenz im staatsmonopolistischen Kapitalismus

von György Konrád und Iván Szeléni

08-2014

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Nach der Weltwirtschaftskrise bauen auch die kapitalistischen Gesellschaften in ihre Wirtschaft immer mehr Redistributionsmechanismen ein, teils aus sozialpolitischer Zielsetzung, teils im Interesse einer Regulierung des Reproduktionszyklus. Die traditionelle preisregulierende Marktwirtschaft löst sich auf, und der staatsmonopolistische Kapitalismus nimmt mehrere Wirtschaftssphären aus dem Funktionsmechanismus des Markts heraus, den er durch Redistributionsmechanismen ersetzt. Wie wurde die strukturelle Position der Intelligenz von der great trans-formation in Gesellschaften beeinflußt, die zwar das Prinzip des Privatbesitzes an Produktionsmitteln beibehalten haben, dafür aber den Intellektuellen bei der Wirtschaftsund Gesellschaftslenkung eine immer größere Bedeutung zugestehen? Können wir - ausgehend von der ständig zunehmenden Macht der Intelligenz - von der Organisation der Intelligenz als Klasse unter den Bedingungen des staatsmonopolistischen Kapitalismus sprechen?

a) Staatsmonopolistischer Kapitalismus und sozialistische rationale Redistribution

Durch die Anwendung von Redistributionsmechanismen erhält die kapitalistische Wirtsdiaft genau so wenig rationalen Redistributionscharakter, wie die sozialistische Wirtschaft sich auch dadurch nicht dem Kapitalismus zuwendet, daß sie bei der Regulierung der Wirtschaftsprozesse den Waren- und Geldverhältnissen des Markts Raum gibt. Zwischen den beiden Systemen, deren Funktionsprinzip sich grundlegend voneinander unterscheidet, besteht ein Qualitätsunterschied. Zwischen der staatsmonopolistischen Marktwirtschaft und der rationalen Redistribution gibt es keinen stufenweisen Übergang. Es wäre ungenau, die Frage so zu formulieren: Wie groß ist der Anteil der Wirtschaftstätigkeit, der vom Markt oder von der Redistribution reguliert wird? Es hätte nicht viel Sinn, zu zeigen, daß sich in diesem Zusammenhang eine Skala nachweisen läßt, angefangen von den Vereinigten Staaten, wo die Redistribution am geringsten ist, über Schweden bis zu Jugoslawien - bei beiden spielt die Redistribution eine ähnliche Rolle - und von hier aus bis zur Sowjetunion oder zu China, wo dem Markt eine ebenso geringe Bedeutung zukommt wie in den Vereinigten Staaten der Redistribution.

Die Grundfrage des Vergleichs der Wirtschaftssysteme besteht eher darin, welche Kriterien im einen oder anderen System das Verfügungsrecht über das Mehrprodukt legitimieren und welche Faktoren die relative Größe des Mehrprodukts bestimmen. Gleich wieviel Steuern der Staat aus dem Mehrprodukt herauszieht - solange der Markt das Mehrprodukt als Differenz von Produktionskosten und Verkaufspreis definiert und solange der Kapitalbesitz ausreichenden Rechtsanspruch auf die Verfügung über das Mehrprodukt gewährt, behält die Gesellschaft immer ihren kapitalistischen Charakter bei. Die kapitalistische Wirtschaft nutzt die Redistribution gerade zur Funktionsverbesserung des Markts, doch ordnet sie die Redistribution der Marktlogik unter, während die sozialistische Wirtschaft zur Verbesserung der Funktionsfähigkeit der Redistribution die Marktverhältnisse nutzt, diese aber der Redistributionslogik unterordnet.

Die Entwicklung der Redistributionsmechanismen machte also den staatsmonopolistischen Kapitalismus effektiver, doch brachte sie nicht den Ausbau der Klassenposition des ideologischen Redistribuenten mit sich. Folglich sind in den westlichen Gesellschaften die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Organisation der Intelligenz als Klasse nicht vorhanden. Es ist allerdings wahr, daß die Redistribution auch an sich die ökonomische Macht der intellektuellen Fachleute wesentlich erhöht. Damit verbunden ist das Bestreben der zahlmäßig immer stärker zunehmenden führenden Technokraten, sich eine Art Klassenmacht zu verschaffen. Doch wenn auch der Redistribuent im staatsmonopolistischen Kapitalismus eine immer größere Rolle spielt, so bildet sich doch um seinen Status keine Homogenisierung der Sphären von Wirtschaft und Politik heraus und keine monopolistische Ideologie, die die Redistri-butionsverhältnisse auf allen Gebieten von Wirtschaft und Gesellschaft totalisiert.

Eine unserer Grundthesen bei der Strukturanalyse der sozialistischen Gesellschaften ist, daß der Status des ideologischen Redistribuenten lediglich eine zentrale Organisationsposition der Intelligenzklasse ist. Folglich sind nicht nur jene Mitglieder der Intelligenzklasse kraft ihrer Amtsgewalt unmittelbar berechtigt, über das gesellschaftliche Mehrprodukt zu verfügen, sondern all jene, die das Ethos der rationalen Redistribution schaffen, erhalten und zur umfassenden Ideologie der gesamtgesellschaftlichen Kultur erheben.

Auch wenn die professionellen Redistribuenten im staatsmonopolistischen Kapitalismus auftreten, bilden sie bestenfalls eine spezielle Intelligenzschicht, gewissermaßen eine organische Intelligenz der herrschenden Klasse, und zwar selbst dann, wenn diese Technokratie auch selbständige wirtschaftliche und politische Macht besitzt. Allein die Tatsache, daß die Technokratie Macht hat, besagt noch nicht, daß sich um sie herum die Intelligenzklasse organisiert. Dies schon deshalb nicht, weil die Geltung der beiden anderen Legitimationsprinzipien die Hegemonie des Legitimationsprinzips des intellektuellen Fachwissens beschränkt oder nicht einmal zur Entfaltung kommen läßt, nämlich bei der Verteilung der Haushaltsmittel die Souveränität des auf dem Vertretungsprinzip basierenden politischen Mechanismus, in der Politik des Privatkapitals dagegen das unmittelbare Verfügungsrecht der Kapitalbesitzer.

 

Diese beiden alternativen Legitimationsprinzipien zwingen die Technokratie ununterbrochen, ihre eigene Sicherheit lediglich in der Rolle der Exekutive zu erblicken, weil dies die Sphäre ist, zu der sie ihr Legitimationsprinzip berechtigt. Hieraus kann sie sich nur befreien, wenn sie die politischen Entscheidungen durch ihre gutachterlichen Vorschläge oder ab ovo den eigenen Intentionen entsprechend manipuliert oder aber auf technische Fachfragen reduziert. Da allerdings jede als Fachfrage formulierte politische Frage von vornherein auf dem plurali-stischen Feld von Wirtschaft und Politik mit andere Interessen vermittelnden Fragestellungen oder Vorschlägen konfrontiert wird, finden diese kompetitiven Interessen notwendigerweise ihren technokratischen Apparat. Auf diese Weise wird der Kampf der technokratischen Gruppen zwangsweise in der Öffentlichkeit ausgetragen. Folglich wäre es ungenau, den Begriff der Technokratie in der Einzahl zu benutzen. Eigentlich können wir nur von antagonistischen Technokratien der sich nach verschiedenen Richtungen organisierenden Interessen sprechen.

 

b) Die Polarisierung der Intelligenz im staatsmonopolistischen Kapitalismus

 

Im staatsmonopolistischen Kapitalismus differenziert sich die speziell intermediäre Schichtposition der Intelligenz zwischen Kapitalisten und Arbeitern beachtlich: Es hebt sich eine intellektuelle Berufsgruppe ab, deren Macht wesentlich zunimmt und die sich in vielerlei Hinsicht mit den Kapitalbesitzern die ökonomische Macht beziehungsweise mit den auf der Grundlage des Vertretungsprinzips gewählten Politikern die politische Administration teilt. Parallel dazu sind allerdings auch Intelligenzgruppen vorhanden, die deutliche Proletarisierungstendenzen aufweisen, also zu einfachen Arbeitskraftbesitzern werden. Zur Anwendung des intellektuellen Fachwissens ist nämlich der Besitz von in den grauen Gehirnzellen gespeicherten Kenntnissen immer weniger ausreichend, und es besteht ein erhöhter Bedarf an objekt-technischen Mitteln der intellektuellen Arbeit, ein erhöhter Bedarf an immer kostenaufwendigeren Versuchseinrichtungen, Computern usw., mit einem Wort, an modernen und komplizierten Produktionsmitteln der technisch-wissenschaftlichen Revolution, über die nur das Großkapital oder die technokratischen Organisationen verfügen und ohne die das intellektuelle Fachwissen bloß potentiellen Charakter hat.

Durch die Herausbildung der umfassenden instrumentellen Ausrüstung, der vielseitigen Kooperation und Teamarbeit wird die wissenschaftliche Arbeit immer mehr eine kapitalintensive Tätigkeit, und die Forscher sind gezwungen, sich in große Produktionseinheiten einzufügen. An den Forschungskosten sinkt der Anteil des Forschergehalts mehr und mehr, der Kostenanteil der Mittel beziehungsweise der maschinellen Leistungen wird immer größer. Dieser Umstand veranlaßt die Finanziers zu größter Vorsicht: sie brauchen Garantien dafür, daß sich ihre wissenschaftlichen Investitionen rentieren. Deshalb müssen sie unter den um die Forschungsbedingungen konkurrierenden Intellektuellen möglichst nach bestimmten Kriterien auswählen: Der Forscher sollte eine solide, entsprechend spezialisierte Fachkenntnis besitzen, eine gleichbleibende Arbeitsdisziplin sowie die Bereitschaft zur Kooperation und Unterordnung. Die Erfüllung dieser Kriterien gewährleistet gediegene Forschungsergebnisse, selbst wenn vielleicht auch keine genialen individuellen Entdeckungen zu erwarten sind. Die Rolle der individuellen Inventionen und der Forscherpersönlichkeit verliert also in den Fabriken der "Wissenschaft immer mehr an Bedeutung, während die Bedeutung der routinierten, abstrakten Arbeit ständig zunimmt.

Jene glücklichen Gruppen der Intelligenz also, die aufgrund immer spezifizierterer Kriterien durch die Personalpolitik der Forschungsfinanziers den teuren Einrichtungen gewissermaßen als Zubehör zugeordnet werden, obwohl ihnen eine hohe materielle Versorgung zuteil wird, spüren ihre immer größere Entfremdung von den Forschungsprozessen, die von oben gelenkt werden und wegen der umfassenden Spezialisierung immer weniger überschaubar sind. Um ihre Arbeit verrichten zu können, haben diese Intellektuellen die im Kapitalbesitz befindlichen Produktionsmittel genauso nötig wie die Arbeiter. Deshalb verwandeln sie sich sowohl im Hinblick auf den Charakter des Arbeitsprozesses als auch im Hinblick auf ihre Position auf dem Arbeitsmarkt schließlich in hochqualifizierte Arbeiter.

Elementares Interesse des in der wissenschaftlichen Forschung gebundenen Kapitals ist es also, daß die Universitäten den oben skizzierten Bedürfnissen entsprechende Arbeitskräfte produzieren. Deshalb versucht das Kapital, die Universitäten durch seine Subventionspolitik dahingehend zu beeinflussen, daß auch sie spezialisierte Fabriken der spezialisierten Arbeitskraft sind und eine ebenso stetige, quantitative Massenproduktion bieten wie die modernen Großbetriebe.

Die Studentenbewegungen der sechziger Jahre sind vor allem auf die Ablehnung dieser Proletarisierung zurückzuführen. Die Studentenschaft will sich damit nicht abfinden, daß das Kapital durch die Vermittlung der Universitäten, dadurch also, daß es die Universität zu einer Ausbildungsstätte für hochqualifizierte Facharbeiter umwandelt, die Proletarisierung der Intelligenz zu einer vollendeten Tatsache macht. Intuitiv wehrte sich die junge Intelligenz dagegen, daß man ihr das Monopol des »transkontextuell« orientierten Wissens streitig machen will. Sie protestierte also dagegen, daß man an den Universitäten sich nur jenes Wissen aneignen kann, das man lediglich in einem ganz bestimmten Kontext unter Anleitung anwenden kann. Mißtrauisch wurde die Studentenschaft insbesondere durch die Tendenz der kapitalistischen Großunternehmen, eigene, an ihrem Betriebsprofil orientierte Hochschulen zu gründen, in denen die Studenten neben einer durchschlagend erfolgversprechenden praktischen Ausbildung auch eine derartige Spezialisierung erhalten, durch die sie quasi an einen einzigen bestimmten Kontext gekettet werden, das heißt an den Personalbestand des ausbildenden Großunternehmens. Die revoltierenden Studenten erhoben Anspruch auf ein eigenes Wertsystem und forderten die Vermittlung von Kenntnissen, die auch in verschiedenen Kontexten anwendbar sind. Wir können auch sagen, daß sie den intellektuellen Charakter ihrer Arbeitskraft bewahren, nicht bloß Arbeitskraftbesitzer werden wollen. Ironisch formuliert, daß sie auch ihren speziellen Kapitaleigentümer-Charakter erhalten wollen.

Es ist ein merkwürdiges Paradoxon des staatsmonopolistischen Kapitalismus, daß er also die Sicherheit der Produzenten steigert und den Absatz der Produkte garantiert, angefangen von der Autoproduktion über die Erdölindustrie bis hin zur Lebensmittelwirtschaft, während er zugleich die Kompetition, d. h. den Wettbewerb, auf dem Markt der Schlüsselindustriezweige senkt. In wesentlich geringerem Maße dagegen setzt er auf dem Markt der intellektuellen Arbeitskräfte und Geistesprodukte die Mittel der redistributiven Subvention ein. Die Monopolstellung der Intellektuellen auf dem Arbeitsmarkt ist im Schwinden, deshalb ist dieser Markt immer weniger ein Markt der Verkäufer. Nach dem großen Aufschwung der sechziger Jahre ist der Staat bemüht, den Anteil der Weiterlernenden an den Universitäten zu beschränken, deshalb beschneidet er auch die staatliche Subvention der Universitäten. Auf dem Markt der kulturellen Erzeugnisse dagegen - im Verlagswesen, in der Filmindustrie und der bildenden Kunst - herrschen auch weiterhin beinahe die klassischen preisregulativen Marktgesetze des 19. Jahrhunderts. Würde ein Wirtschaftshistoriker aufgrund der heutigen kapitalistischen Wirtschaft das idealtypische Modell des preisregulativen Markts rekonstruieren wollen, würde er als Beispiel eher den Buch- und Filmmarkt wählen als den Markt der Stahlindustrie, der Rohölbearbeitung oder der Autoindustrie.

Hieraus ergibt sich in der Epoche des staatsmonopolistischen Kapitalismus eine weitere Dualität der Intelligenz.

Jene Intellektuellen, die lediglich ihre qualifizierte Arbeitskraft auf dem Markt verwerten, müssen sich geistig uniformieren lassen, sie erscheinen in der Öffentlichkeit als Angehörige eines unpersönlichen Apparats. Jene dagegen, die von Verwertung ihrer Produkte leben - allen voran die Künstler -, sind gezwungen, mit Hilfe von wirksamen Reklametricks sich ein individualisiertes Image zu verschaffen. Dieses Beispiel liefert einen sprechenden Beweis für den Positionsunterschied der Intelligenz im staatsmonopolistischen Kapitalismus und in der rationalen Redistribution. Die Technokratie der kapitalistischen Länder ist also nicht in der Lage, auch die anderen Intelligenzschichten an den Vorteilen des Redistributionsme-chanismus zu beteiligen, die Sicherheit der staatlichen Subventionen sowohl auf die Welt der Universität als auch der Kunst auszudehnen. Die Technokratie kann also als Vermittler der homogenisierenden Interessen der Gesamtintelligenz auftreten. Notwendige Konsequenz dieser Situation ist, daß sich die Intelligenzschichten um diese technokratische Position nicht als einheitliche Klasse integrieren können.

Die herrschende Intelligenz in den Gesellschaften der rationalen Redistribution beseitigt gerade in der Sphäre der Kunst und Ideologie die Gesetzmäßigkeiten des Marktmechanismus am radikalsten, was auch in dem deklarierten Grundprinzip zum Ausdruck kommt, daß die Kultur in der sozialistischen Gesellschaft keine Ware ist; das wird in der Praxis deutlich, in der die Auflagenhöhe eines Buches nicht bloß kategorisch vom Absatz getrennt wird, sondern oft auch von dessen immanentem Wert. Die Auflagenhöhe und so auch das für das Werk gezahlte Honorar wird mit dem dispositiven Status des Autors in enge Korrelation gebracht. Es kommt also eine tiefe Interessenübereinstimmung zwischen der mit der unmittelbaren Praxis der Redistribution verbundenen Technokratie und der schöpferischen Intelligenz zustande, die existenziell auf die redistributive Subvention angewiesen und unabhängig vom Urteil des Publikums erfolgreich oder erfolglos ist, weil sie primär von der Billigung der Kulturbürokratie abhängig ist. Diese Ubereinstimmung kommt auch darin zum Ausdruck, daß die Künstler Osteuropas im Gegensatz zu ihren westlichen Kollegen, die bemüht sind, sich sogar in ihrer Kleidung von den Staatsbeamten und Managern deutlich zu unterscheiden, versuchen - angefangen von der Frisur bis hin zum Schlips -, comme il faut, als Kulturbürokraten zu wirken.

Wenn allerdings der staatsmonopolistische Kapitalismus diese bedeutende Gruppe von Intellektuellen nicht mit den Mitteln des staatlichen Interventionismus vor der Kompetition des klassischen preisregulativen Markts schützt, gesteht er ihnen als Ersatz eine beachtliche Autonomie bei der Wahl des Geistes ihrer Werke zu, was auch vom liberalen Kapitalismus toleriert wurde, obwohl er in den Reihen der Technokratie in Staat und Großunternehmen, in den Reihen der an der Redistribuentenmacht teilhabenden und deren Vorteile genießenden Technokratie bei weitem nicht solche Freiheiten zuläßt. Wenn also die Redistribution ihrer eigenen Logik folgt, spricht sie der Kultur in der sozialistischen Gesellschaft den Warencharakter ab; gleichzeitig fordert sie auch vom Künstler, daß er in seinen Werken die intellektuelle Klassenkultur, das Ethos der rationalen Redistribution vermittelt. Jenes Reservat aber, das der staatsmonopolistische Kapitalismus in der den Marktgesetzen untergeordneten Kulturindustrie der Freiheit des Individuums zugesteht, gibt gleichzeitig jener intellektuell-künstlerischen Gegenkultur, die auch das ideologische Zuhause der neuen linken Revolte gegen die Technokratie ist, ihre Existenzgrundlage.

Für die Intelligenz, die sich in die Technokratie-Bürokratie in Staat und Großunternehmen nicht einfügen kann oder will, bieten sich verschiedene Gettos an, vom Künstlergetto und von der Inzucht radikaler politischer Gruppen bis hin zum Getto der ehrwürdigen Mitglieder verschiedener Akademien, die wenigstens, wenn sie sich auch voneinander in Äußerlichkeiten, in der Aufwendigkeit ihrer Lebensform und in ihren Umgangsformen erheblich unterscheiden, darin übereinstimmen, daß sie ihre Mitglieder nicht bloß von anderen Gesellschaftsklassen als geschlossenes Universum isolieren, sondern auch von anderen Gruppen der Intelligenz. Durch diese Isolation wird die marginale Intelligenz um jene Stärkung ihres Selbstbewußtseins gebracht, die ihre osteuropäischen Kollegen erfahren, indem diese nämlich, angefangen bei der politischen Polizei über die Technokratie bis hin zu Akademiemitgliedern oder der künstlerischen Intelligenz, die Aufmerksamkeit eines jeden auf sich ziehen und indem sie höchstwahrscheinlich auch zu anderen Gliedern der Intelligenzklasse persönlichen Kontakt haben können. Der intellektuelle westliche Besucher ist in den osteuropäischen Ländern im allgemeinen überrascht, wenn er zufällig einen Eindruck von der Atmosphäre in dortigen Intellektuellenkreisen gewinnt: daß nämlich im Intellektuellendasein Osteuropas Getto-Tendenzen nahezu vollkommen fehlen, daß die persönlichen Kontakte über die Amtshierarchien und beruflichen Gruppengrenzen weit hinausgehen, daß er in einer Gesellschaft vereint den hochdekorierten Wirtschaftswissenschaftler, den Physiker, den Bankdirektor, den Schriftsteller und den Filmregisseur antrifft, daß dieselben Persönlichkeiten die Idole der ganzen Klasse sind. Auch jenes paradoxe Privileg mag sogar den Neid des westlichen Besuchers erregen: Welche besondere Aufmerksamkeit die höchsten Staats- und Parteiorgane, ja sogar Polizeistellen jedem auch nur in irgendeiner Weise Aufmerksamkeit verdienenden Geistesprodukt widmen und natürlich auch dem Autor selbst, sei nun die Rede von seinen Fehltritten in Sachen Liebe oder Politik.

Ist dieser westliche Besucher gleichzeitig auch Soziologe, kann er - wenn er sich lediglich auf seine persönlichen Erfahrungen stützt - zu der Erkenntnis gelangen, daß seine osteuropäischen Freunde Glieder ein und derselben Klasse sind, daß sie durch eine gemeinsame Klassenkultur verbunden sind und selbst dann, wenn sie auf ihre Politiker schimpfen, nicht auf die Repräsentanten einer anderen Klasse schimpfen. Selbst die marginalen Intelligenzangehörigen sind erfüllt vom Selbstbewußtsein der führenden Klasse, und aus all diesen Gründen muß der westliche Besucher sehen, daß die osteuropäischen Intellektuellen, die er kennengelernt hat, wenn sie auch weniger Wohlstand und Freiheiten besitzen als er, sich dennoch auf direktem Weg und unaufhaltsam ihrer eigenen Klassenmacht nähern, was die gespaltene und durch gegensätzliche Interessen segmentierte westliche Intelligenz von sidi nicht behaupten kann, deren Legitimationsanspruch auf die Macht im staatsmonopolistischen Kapitalismus sich nicht im entferntesten mit dem herrschenden Legitimationsprinzip deckt.

c) Die neuen Machtbestrebungen der Intelligenz

Diese letzte Erkenntnis müssen wir allerdings etwas korrigieren, vor allem wenn wir Richtung und Möglichkeiten der Machtbestrebungen der Intelligenz abwägen. Bereits der New Deal, das heißt die erste großangelegte politische Konstruktion des staatsmonopolistischen Kapitalismus, war ein Ausgleich zwischen nationalem Kapital und nationalem Staat: Im Interesse der Erhaltung des nationalen Kapitals tritt das Kapital einen Teil seiner Macht an den nationalen Staat ab, indirekt an die tech-no-bürokratische Intelligenz. Der New Deal war also für den Erfolg der Machtbestrebungen der Intelligenz eine bedeutende Station, jedoch nicht ausreichend für die Organisation der Intelligenz als Klasse, da sie lediglich einer einzigen intellektuellen Berufsgruppe zu einer privilegierten Machtposition verhalf. Die technokratische Intelligenz teilt sich mit dem Kapital in die Macht, und so entwickelte sich neben dem Gegensatz Kapital-Arbeit als einer der Hauptgegensätze im staatsmonopolistischen Kapitalismus der Widerspruch von Technokratie und Kapital. Zu diesem Widerspruch innerhalb der Nationalwirtschaft gesellt sich allerdings in jüngster Zeit ein neuartiger und immer stärkerer Widerspruch, der sich aus den Integrationstendenzen der Weltwirtschaft ergibt, und zwar einerseits zwischen dem nationalen Kapital beziehungsweise dem nationalen Staat und, als drittem Akteur, der Technokratie, die sich in multinationalen Unternehmen organisiert hat, nach der wirtschaftlichen Weltmacht strebt und sich vom Einfluß des Privatkapitals immer mehr emanzipiert. Bei der Erklärung der Inflationssymptome in den siebziger Jahren berufen sich die Beobachter unter anderem im allgemeinen darauf, daß die internationalen Wirtschaftsverbände, also die multinationalen Unternehmen, der Kontrolle durch die Nationalstaaten immer mehr entgleiten, sich den im New Deal eingegangenen Verpflichtungen entziehen, denen zufolge sie bereit sind, ihre Unternehmensinteressen mit der Staatsbürokratie abzustimmen. Die multinationalen Unternehmen sind schon allein deshalb nicht bereit, ihre Profitmaximierungsbestrebungen den nationalen Interessen unterzuordnen, weil sie ihr Kapital, ja auch ihren Stammsitz leicht über Staatsgrenzen hinweg bewegen können. Es entsteht eine supranationale Bürokratie, die ihre Identität nicht mit dem Mutterland, sondern mit dem Unternehmen sucht. Diese Multinationalen garantieren ihren Mitarbeitern nicht bloß ein hohes Gehalt und große Bewegungsfreiheit, sondern auch überall auf der Welt derart ähnliche Arbeits- und Lebensverhältnisse, daß wir zu Recht von der Geburt eines neuen »Organisation man« sprechen können. Im Menschentyp der supranationalen Verbände dürfen wir vielleicht die Antizipation einer Weltintelligenz sehen; insofern können die multinationalen Unternehmen auch als neue Strategie der Intelligenz zur Steigerung der eigenen Macht angesehen werden. Die multinationalen Technokraten revoltierten gegen den ihrer Meinung nach kleinlichen Kompromiß zwischen nationalem Kapital und nationalstaatlicher Bürokratie, gleichzeitig entziehen sie sich der Kontrolle beider. So drängt sich die Vermutung auf, daß wieder ein Ausgleich zwischen der Weltintelligenz der multinationalen Unternehmen und der nationalstaatlichen Bürokratie beziehungsweise dem nationalen Kapital notwendig wird, weil nur durch einen solchen Kompromiß die wirtschaftliche, ja die politische Stabilität der westlichen Welt garantiert werden kann.

In unseren Tagen kann die westliche Intelligenz ihre Machtposition mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit also durch zwei sich überschneidende Strategien stärken. Die eine ist die Verbreitung der redistributiven Mechanismen im nationalstaatlichen Rahmen. Das ist das Programm der traditionellen Linken, die zunehmend nationale Interessen vertritt, was neuerdings in zwei Entwicklungstendenzen zum Ausdruck kommt. Die eine Tendenz besteht in der Annäherung der kommunistischen Parteien und der die Interessen des nationalen Kapitals vertretenden konservativ-nationalistischen politischen Bürokratie auf einer gemeinsamen Plattform im Kampf gegen die multinationalen Unternehmen; die andere Tendenz besteht in der Annäherung der kommunistischen Parteien und der nationalstaatlichen Technobürokratie, was als Begleiterscheinung auch jene Umorientierung der politisch Radikalen der Neuen Linken mit sich brachte, daß nämlich nach der Stärkung der intellektuell-technokratischen Tendenzen in den kommunistischen und sozialistischen Parteien auch sie sich an einer technokratischen Reformpolitik beteiligen, die, wie sie meinen, einerseits einen effektiveren und zeitgemäßeren Staatsapparat schaffen könnte, andererseits eine bessere und gleichzeitig umfassendere sozialpolitische Redistribution. Dadurch, daß die kommunistischen Parteien die strategische Zielsetzung der proletarischen Revolution von der Tagesordnung nehmen und sich im allgemeinen der Intelligenz, insbesondere — und das ist das wirklich neue Element in diesem Prozeß - der Technokratie annähern, eröffnet sich ihnen die Möglichkeit, in die Apparate der Nationalstaaten und der Großunternehmen einzudringen; auf diese Weise gelingt es ihnen noch vor einem eventuellen parlamentarischen Erfolg immer mehr, Entscheidungszentren (Lokalverwaltungen, Universitätsgremien, Regierungsämter usw.) ihrer Kontrolle zu unterwerfen. Mit Hilfe des Trojanischen Pferds der Technokratie nehmen sie also sozusagen die Bastionen des staatsmonopolistischen Kapitalismus von innen her ein. Diese Perspektive zeigt allerdings den sozialen Inhalt des oben skizzierten Ausgleichs auf, nämlich die Kompromisse der nationalen und internationalen Technokraten: daß nämlich die sich gegenüberstehenden Parteien sowohl hier wie dort überwiegend Intellektuelle sind. Folglich ist dieser Kompromiß nicht bloß — und kann es auch nicht sein - ein Vergleich der sich in verschiedenen Dimensionen organisierenden kapitalistischen Interessen, sondern mindestens ebenso ein Handeln der in den nationalen beziehungsweise internationalen Organisationen nach der Macht strebenden Intellektuellengruppen.

In den nächsten Jahren ist also zu erwarten, daß das Ringen des Legitimationsanspruchs der Intelligenzmacht mit dem alternativen Legitimationsanspruch des Kapitalbesitzes und seiner Vertretung weitergeht, und zwar nicht bloß im nationalen, sondern bereits im internationalen Rahmen. Obwohl die Intelligenz aus diesem Kampf vermutlich gestärkt hervorgehen wird, steht auch außer Zweifel, daß sie ihren Legitimationsanspruch nicht totali-sieren können wird. Die Intelligenz des Westens setzt also ihre Odyssee der Organisation zur Klasse fort. Sie wandelt weiter auf dem Weg der westlichen Zivilisation, der sich bei den Bestrebungen der Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht als Umweg erweist, was die osteuropäische Intelligenz, die am Beginn des kürzesten Weges zur Klassenmacht steht (auch wenn sie dafür einen hohen Preis zu zahlen hat, wie ja auch die anderen Klassen), mitunter zwar neidisch, doch manchmal mit Schadenfreude registriert.

Editorische Hinweise

György Konrád, Iván Szeléni, Die Intelligenz auf dem Weg zur Klassenmacht, Ffm 1978, S. 117-132

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