100 Jahre Erster Weltkrieg
Vertrauliche Kriegsziele
Krupp von Bohlen und Halbadi
an  den Chef des Geheimen Zivilkabinetts(*)

08-2014

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Hügel, 31. Juli 1915

An den Chef des Geheimen Zivilkabinetts, von Valentini(**). Vertraulich.

Da es nicht ausgeschlossen erscheint, daß im Gefolge etwaiger entscheidender Erfolge zu Lande oder zu Wasser oder auch infolge besonderer politischer Konstellationen die Möglichkeit oder Notwendigkeit von Friedensverhandlungen mit der einen oder anderen mit uns Krieg führenden Macht sozusagen über Nacht sich ergeben könnte, erscheint es - selbst bei der heute noch nach mehr als nach einer Richtung hin ungeklärten Gesamtlage - nicht verfrüht, einige Punkte festzulegen, auf die es bei dem Aufbau der Grundlagen für die künftige Entwicklung Deutschlands in erster Reihe ankommt. Dabei darf in Übereinstimmung mit der Auffassung der weitesten Kreise des deutschen Volkes wohl vorausgesetzt werden, daß die Möglichkeit eines - von amerikanischer und anderer Seite erstrebten - »Friedenskongresses« ausgeschlossen bleibt, daß vielmehr nach den Worten S. M. des K. und K. den Feinden der Frieden diktiert werden kann und muß.

Wenn aber Friede geschlossen wird, so dürfen wir schon nach unseren heutigen Erfolgen auf den Schlachtfeldern hoffen, daß für Deutschland ein Preis erzielt werde, der das Blut unserer Söhne und Brüder lohnt. Dementsprechend muß für

Deutschland - oder besser gesagt für das deutsche Volk im weitesten Umfange - eine Grundlage zur Betätigung gewonnen werden, die ihm auf Jahrzehnte hinaus friedliche Arbeit sichert. Die Deutschen dürfen kein Volk der Rentner werden, müssen vielmehr nach wie vor ein arbeitsames Volk bleiben; auf deutscher Arbeit, auf deutschem Pflichtgefühl und Pflichteifer beruhen doch im Grunde genommen zu einem großen Teil die großartigen Leistungen der jetzigen Erhebung und Kraftentfaltung. Diesen Teil deutschen Wesens gilt es unter allen Umständen zu erhalten und zu stärken; deshalb gilt es auch dem deutschen Arbeits- und Tätigkeitsdrang ein weites, ein möglichst unerschöpfliches Gebiet zu eröffnen.

Hieraus ergeben sich drei große Ziele, die zunächst ins Auge zu fassen sind:

Das gesamte Deutschtum muß als Kern von Europa betrachtet und möglichst zusammengefaßt werden. Hierunter ist nicht etwa zu verstehen, daß alle Deutschen in das Deutsche Reich mit eingeschlossen werden müssen, in erster Linie kommt es vielmehr darauf an, daß die deutsche Kultur - im weitesten Sinne des Wortes - in Europa die herrschende wird und demgemäß nach allen Seiten hin eine Anziehungsund Ausdehnungskraft sich sichert. Die deutsche Kultur hat ein Anrecht darauf, denn sie ist nicht ein äußerer Firnis oder Lack, sondern sie ist ein Bestandteil des deutschen Gemütes, des deutschen Herzens, sie hat ihre tiefste Grundlage in der deutschen Weltanschauung und Gottesfurcht.

Es muß politisch, auf militärischem und auf dem Gebiete der Marine dafür Sorge getragen werden, daß in absehbarer Zeit gegen das Deutsche Reich eine Einkreisungs- und Erdrosselungspolitik nicht wieder betrieben werden kann.

Gleichwie in Europa muß auf den überseeischen Gebieten eine erhebliche Erweiterung der deutschen wirtschaftlichen Betätigung ermöglicht werden.

Nur wenn große neue Aufgaben für alle Schichten des deutschen Volkes nach dem Kriege über das Elend kleiner Tagesfragen hinweghelfen, von Tagesfragen, die bis zum Kriegsausbruch Deutschland so unrühmlich beschäftigt und mit ihrer unentwirrbaren Verknotung allen großen politischen Entschlüssen fast unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet haben; nur wenn dem deutschen gesunden Betätigungsdrange, der durch den Krieg neu erwacht ist, nur wenn deutscher Unternehmungslust weite Aussichten erschlossen werden, nur dann wird aus dem Kriege ein starker, Erfolge verheißender Wiederaufbau unseres politischen und wirtschaftlichen Lebens möglich sein.

Aus obigen drei Gesichtspunkten ergeben sich nachstehende Forderungen:

Zu 1. Wir müssen suchen, in ein festes wirtschaftspolitisches Verhältnis zu den mitteleuropäischen Staaten, insbesondere zu Österreich-Ungarn und zu Holland, sodann zur Schweiz und zu den nordischen Staaten zu kommen, und den im bisherigen Rußland lebenden Deutschen den Anschluß an uns ermöglichen. In Österreich-Ungarn muß dem Deutschtum maßgebenden Einfluß für absehbare Zeiten gesichert werden; noch nie ist die Gelegenheit eine so günstige gewesen wie im gegenwärtigen Augenblicke, wo eingestandenermaßen alle anderen Nationalitäten ihre Rettung und ihr Heil nur beim Deutschen sehen.

Diese Ziele lassen sich nicht durchweg im Wege der Friedensverhandlungen erreichen, müßten aber bei den betreffenden Abmachungen für die Zukunft im Auge behalten bleiben.

Zu 2. Die Beurteilung der Sicherstellung der deutschen Grenzen kann zunächst nur vom militärischen und marinepolitischen Standpunkte aus erfolgen. Es läßt sich aber denken, daß die Verlegung der bisherigen deutsch-französischen Grenzen in eine Linie westlich der Vogesen und im allgemeinen dem Lauf der Mosel, späterhin dem der Maas folgend, den militärischen Gesichtspunkten Rechnung tragen würde. Ein Frankreich ohne nennenswerte Erz- und Kohlengrundlagen kann wirtschaftlich auf dem Weltmarkte und politisch im Rate der Großmächte nicht mehr gefährlich werden.

Die militärische Beherrschung Belgiens und gegebenenfalls die maritime der Nordküste Frankreichs würde die Deckung gegen englische Angriffe gewährleisten. Wir würden hier am Rückenmark der englischen Weltherrschaft liegen, eine Stellung - vielleicht die einzigste -, die uns die dauernde Freundschaft Englands eintragen könnte. Denn nur wenn wir England jederzeit stark schädigen können, wird es uns wirklich unbehelligt lassen, gegebenenfalls zu unserem »Freund« werden, soweit dieses eben für England überhaupt möglich ist. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum, wenn wir glauben, uns durch milde Behandlung Englands mit diesem Lande und Volke versöhnen zu können. Nur wenn wir die Trümpfe realer Machtmittel in der Hand haben, wird sich England, der Not gehorchend, zu einer angemessenen Behandlung Deutschlands bequemen. [...]

Zu 3. Ein Zollverein mit Holland und möglicherweise mit Österreich-Ungarn, zollpolitische Vereinbarungen mit der Schweiz, den nordischen und den Balkanstaaten sollten der deutschen wirtschaftlichen Betätigung neue Tore öffnen. Aber neue große Aufgaben müßten nicht allein dem Handel, dem Gewerbe und der Industrie, dem Beamtentum und den freien Berufen gestellt werden, sondern - wie dieser Krieg mehr denn je gezeigt hat - auch unserer Landwirtschaft! Wir dürfen kein Land wie Belgien oder England werden - einseitig industriell und städtisch; wir müssen uns unsere gesunde Landbevölkerung erhalten, wir müssen trotz zu erhoffender weiterer Bevölkerungszunahme doch auch weiter in der Möglichkeit ihrer Ernährung, wenigstens annähernd, auf eigenen Füßen stehen. Wir müssen daher Hand in Hand mit der Entwicklung unserer industriellen Möglichkeiten auch eine Erweiterung der landwirtschaftlichen Grundlagen unseres Volkes suchen: Wir müßten uns weite Provinzen angliedern, in denen wir in großem Umfange deutsche Bauern ansiedeln könnten. Das kann nur im Osten sein. Ob dieses zur Zeit im Rahmen des Erreichbaren liegt, steht heute wohl noch dahin!

Auf der anderen Seite ist sich aber auch jeder Verständige darüber klar, welche inneren Schwierigkeiten der Angliede-rung fremder Gebiete - zu diesen und auch anderen, z. B. strategischen Zwecken - entgegenstehen. Das Deutsche Reich muß ein rein deutscher Volksstaat bleiben und darf nicht zum Völkergemisch werden. Die Gebiete rings um uns sind von anderen Völkern mehr oder weniger dicht bewohnt. Es fragt sich, inwieweit wir sie angliedern können, ohne uns selbst damit zu gefährden.

Über diesen Zwiespalt zweier Gesichtspunkte helfen nur zwei Dinge hinweg, zu denen wir uns entschließen müssen, so schwer es auch unserem übergerechten Herzen wird. Es muß so eingerichtet werden, daß die fremdsprachigen Bewohner der angeeigneten Gebiete keinerlei Einfluß auf unsere politischen Geschäfte, namentlich also keine Möglichkeit zur Teilnahme am Reichtagswahlrecht, erlangen. Und es muß zweitens die Zahl dieser fremdsprachigen Bewohner dadurch ausschlaggebend herabgesetzt werden, daß sie durch den Friedensvertrag in möglichst großem Umfange von dem abtretenden Lande übernommen werden und daß andererseits der abtretende Staat als Kriegsentschädigung - die man diesmal in Geld doch nicht gezahlt bekommen kann oder will - Land bzw. Kohlen- und Erzgruben, aber auch Eisen-und andere bedeutsame Großbetriebe an uns liefert, so daß deutscher Einfluß demnächst diese Gebiete beherrschen und verdeutschen kann.

Nur mit der Annahme dieser beiden leitenden Gesichtspunkte bekommt man die Hände zu wirklicher Ausnutzung einesSieges in Europa frei. [ ]

Einzelne Forderungen für Erweiterungen über See heute schon aufzustellen, dürfte verfrüht sein, so lange es sich nicht übersehen läßt, wo und wie wir England zu Leibe rücken können. Wohl aber kann man das eine klare Ziel schon jetzt aufstellen, daß wir - abgesehen von der Wiedererlangung unserer Kolonien und der Sicherung der Holländer gegen den Raub der ihrigen - eines ganz großen zusammenhängenden Kolonialreiches in Afrika bedürfen, so daß wir wirklich große Pläne darin verfolgen können.

Die Bedeutung eines solchen Kolonialreiches für die Zukunft Deutschlands sowohl in bezug auf den Industrieabsatz wie die Rohstoffversorgung, wie auch auf die Erweiterung der ganzen deutschen Kulturgeltung in der Welt bedarf heute in Deutschland keiner Darlegung mehr. Die Möglichkeit, es zu besitzen und festzuhalten, beruht zunächst auf der Flotte. Aber da jede Seeherrschaft, zumal wenn man sie mit anderen teilen muß, die jederzeit zu Feinden werden können, eine zerbrechliche Sache bleibt, so ist nicht zu vergessen, daß es noch ein anderes Sicherungsmittel gibt, das nach Möglichkeit dem ersten hinzutreten sollte: Die Ansässigmachung von wehrpflichtigen Deutschen in Südwestafrika und den Höhen Ostafrikas, genügend ausgerüstet mit Artillerie und anderem Kriegsmaterial. Dadurch und durch die Gewinnung eines Ausgangs- und Stützpunktes im Mittelmeer als Brücke nach Afrika würde ein afrikanisches Kolonialreich so gut wie völlig zu sichern sein. [. ..]

Werden diese Ziele erreicht, so bestimmt sich der Fortschritt der Menschheit nach deutscher Kultur und Zivilisation; für ein solches Ziel zu kämpfen und zu siegen ist des Blutes der Edlen wert. 

[S. M. des K. und K.: seiner Majestät des Kaisers und Königs / Auf der Generalversammlung der Friedr. Krupp Aktiengesellschaft in Essen vom 9. November 1915 wurde neben der Errichtung einer 20-Milliarden-Mark-Kruppstiftung zugunsten der Hinterbliebenen gefallener Kriegsteilnehmer eine »Kruppsche Ostmarkenstiftung« von 3 700 000 Mark beschlossen, aus der den Kriegsteilnehmern, die sich als bäuerliche Siedler in der »deutschen Ostmark oder solchen Gebieten niederlassen, die östlich davon durch Friedensschluß etwa dem Deutschen Reich angegliedert werden«, ein günstiges Darlehen gewährt werden soll.]

Editorische Hinweise

*) Das Geheime Zivilkabinett war das persönliche Regierungsbüro des deutschen Kaisers.

**) Rudolf von Valentini war Sohn eines preußischen Heeresoffiziers. Er studierte in Strassburg Rechtswissenschaften und war seit 1879 Referendar bei der Regierung in Köslin. 1882 wechselte er in die Verwaltung und ab 1886 war er Regierungsassessor in Königsberg. Von 1888 bis 1899 war er Landrat des Kreises Hameln. Als Geheimer Regierungsrat trat er 1899 in das Geheime Zivilkabinett Kaiser Wilhelms II. in Berlin ein, wo er 1902 zum Geheimen Oberregierungsrat befördert wurde. 1906 wurde er als Nachfolger von Kurt von Dewitz Regierungspräsident in Frankfurt (Oder) und 1908 Chef des Geheimen Zivilkabinetts.[1] In dieser Funktion unterstützte er Bethmann Hollwegs Ernennung zum Reichskanzler und wurde dessen engster Mitarbeiter. (Quelle: Wikipedia)

Quelle: Klassenlesebuch 2, Ein Lesebuch zu den Klassenkämpfen in Deutschland 1850-1919, hrg. v.Hans Magnus von Enzensberger u.a., Darmstadt und Neuwied, 1972, S.200-205

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