Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Solidarität und Polemiken rund um den Gazakrieg - II

08-2014

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Frankreich hält, was die Zusammensetzung seiner Bevölkerung betrifft, einen doppelten „Rekord“. Dort lebt, mit geschätzten 600.000 bis 700.000 Menschen, die zahlenmäßig stärkste jüdische Bevölkerung in Europa – vor zwanzig Jahren war die jüdische Bevölkerung Russlands noch zahlreicher, aber die post-sowjetischen Auswanderungswellen haben Letztere kleiner werden lassen. Aber in Frankreich lebt auch die, neben Großbritannien, stärkste moslemische Bevölkerung in Europa. So genannte „ethnische Statistiken“, also die Erhebung nach Konfession und Herkunft aufgeschlüsselter, statistischer Daten ist zwar in Frankreich verboten, und aufgrund der Heterogenität der Herkunftsländer – und oft auch der konfessionellen Zugehörigkeit innerhalb der Auswanderungsländer – gibt es deswegen keine genauen Zahlen. Je nach Quelle variieren die Zahlen zwischen drei und sechs Millionen. Die wahrscheinlichste Schätzung liegt bei rund 3,5 Millionen Personen, die sich selbst als Muslime bezeichnen, wobei nicht alle von ihnen ihren Glauben auch aktiv praktizieren. Hinzu kommen wohl einige Hunderttausend konfessionslose Menschen, deren Eltern oder Großeltern muslimischen Glaubens waren.

Konflikte im Nahen Osten, zwischen Israel und den Palästinensern, sorgen vor diesem Hintergrund in Frankreich regelmäßig für besondere Anspannung. Denn ein Teil der konfessionellen und/oder „ethnischen“ Minderheiten ergreift dabei mit mehr oder weniger viel Leidenschaft Partei für die – aus ihrer Sicht - jeweils „eigene“ Seite.

Anders, als beispielsweise radikal-islamistische Kräfte oder solche, die der israelischen Rechten nahe stehen, es darstellen, sind beide Bevölkerungsgruppen dabei natürlich auf gar keinen Fall als homogene Blöcke zu betrachten. Unter den französischen Juden und Jüdinnen variiert die Spannbreite der Positionen etwa von denen der UJFP („Französische jüdische Union für den Frieden“), die linkspazifistische bis linksradikale Positionen einnimmt und an den derzeitigen Demonstrationen gegen den Gazakrieg in Frankreich teilnimmt, bis zu offen rassistischen Kräften auf der Rechten. Zu den extremsten zählt die rechtsextreme „Jüdische Verteidigungsliga“ (LDJ), deren Verbot die französische Regierung nunmehr in Erwägung zieht, wie am Mittwoch Abend – 30. Juli 14 - in Paris bekannt wurde.

Es ist erstaunlich, dass dies nicht bereits früher geschehen ist, da es sich bei der LDJ um einen Ableger der rassistischen „Kach“-Bewegung des 1990 in New York getöteten Meir Kahana handelt. Ihre Organisationen in den USA und in Israel sind verboten – die nordamerikanische Jewish Defence League wurde 2001 vom FBI als terroristisch eingestuft und hatte unter anderem Bombenanschläge auf Moscheen versucht. In Israel war der Staat infolge rechtsterroristischer Aktivitäten gezwungen, einzuschreiten. In Frankreich unterhält die LDJ Verbindungen zur extremen Rechten der Mehrheitsgesellschaft. Ihr damaliger Chef Antony Attal nahm im November 2006 an einer Großkundgebung des damaligen Front National-Chefs Jean-Marie Le Pen in der Pariser Vorstadt Le Bourget teil. Attal und drei seiner Gefolgsleute griffen im Februar 2007 im Pariser Stadttteil Marais einen mauretanischen und einen senegalesischen Mitarbeiter der Müllabfuhr tätlich an und wurden dazu, über vier Jahre später, zu Haftstrafen verurteilt.

Viele in Frankreich lebende muslimische Einwanderer oder Kinder von Zugewanderten sind ihrerseits über das Bild, das sie von ihren Herkunftsländern und der umliegenden Weltregion haben, verunsichert. Prägte in der Vergangenheit ein weitgehend entpolitisiertes, von vermeintlicher politischer Harmonie geprägtes Abziehbild oft ihre Vorstellungen – mit Ausnahme der Algerier seit 1989 – über die arabischen Länder, so wurde dieses seit drei Jahren zunehmend erschüttert. Vor allem die blutigen Kämpfe in Syrien haben das Weltbild vieler arabischstämmiger Einwanderer erschüttert.

Darauf gibt es nun zwei antagonistische Antworten. Die eine besteht darin, sich für politische Mobilisierungen mit Blick auf die gesamte Region zu öffnen. So stellen die linken arabischsprachigen Kräfte ihre Proteste gegen den Gazakrieg in einen Zusammenhang auch mit denen gegen arabische Diktaturen, die in der Vergangenheit oft die „palästinensische Frage“ für ihre Zwecke instrumentalisierten und zugleich selbst die Palästinenser unterdrückten, wie das syrische Regime 1976 im Libanon. Zu den Hauptorganisatoren der Kundgebungen in Frankreich zählen – neben quasi allen Strömungen der französischen Linken mit Ausnahme der Sozialdemokratie, während die Grünen zu der Frage des Nahostkonflikts tief gespalten sind – Vereinigungen wie die FTCR (Föderation der Tunesier für Bürgerrechte auf beiden Seiten des Mittelmeers). Sie setzt sich seit Jahren gegen die Diktaturen im arabischen Raum ein, und derzeit etwa auch gegen die Verfolgung und Bedrohung der christlichen Minderheit durch den „Kalifatsstaat“ im Irak. Aus Sicht der linken und säkular-nationalistischen arabischen Kräfte handelt es sich beim Konflikt um Palästina um einen rational zu erfassenden politischen Konflikt. Und um die letzte Etappe der Entkolonialisierung in der Region, wobei linke Nordafrikaner/innen oft noch die durch Marokko annektierte Westsahara hinzufügen. (Vgl. http://www.labournet.de/ )

Umgekehrt versuchen reaktionäre Kräfte und Islamisten unterschiedlicher Couleur, hinter einer Mobilisierung zu dem, was sie als Konfessionskonflikt präsentieren, alle aufgetretenen Widersprüche zu überdecken Hinter einem gemeinsamen Feind sollen alle offenen Fragen wieder zugekleistert werden.

Entsprechend lautstark und rabiat machen etwa Salafisten und ihnen nahe stehende Gruppierungen auf sich aufmerksam. Sie versuchen den politischen Streit zum Konfessionskonflikt auch in Frankreich, und auch mit den dort lebenden Juden und Jüdinnen, zuzuspitzen. Bei den Demonstrationen firmieren sie nicht als Aufrufer oder Mitveranstalter, kommen jedoch regelmäßig als Trittbrettfahrer hinzu. Unter den von ihnen skandierten Slogans befindet sich ein arabischsprachiger Reim, der sich auf die Schlacht von Khaybar im heutigen Saudi-Arabien bezieht – „Khaybar Khaybar, oh Ihr Juden, die Armee Mohammeds wird wiederkommen“. Damals, im siebten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung, hatten sich arabische Stämme gegenseitig bekriegt, von denen die eine an ihrem alten (jüdischen) Glauben festhielten und die zweiten zur neuen Konfession des Religionsstifters Mohammed konvertiert waren. Bei der Parole handelt es sich um die Ankündigung eines vermeintlichen, mehr oder minder endzeitlichen, Religionskriegs.

Zwischen den extremen Fraktionen, die auch gegen die jeweils andere Religions- oder Bevölkerungsgruppe vorgehen möchte, kam es wiederholt zu Zusammenstößen. Beispielsweise unweit einer Synagoge in der Pariser rue de la Roquette am 13. Juli, und in Sarcelles eine Woche später. Vor diesen hatten sich mehrere Tage vor den geplanten Gazademonstrationen die Mitglieder der „Jüdischen Verteidigungsliga“ (LDJ), verabredet und dies im Internet und bei Facebook ostentativ kundgetan. Dies wirkte wie ein Magnet auf einige Dutzend aufgebrachte Jungmänner der Gegenseite, die ihrerseits keine Sondereinladung benötigten, um in die Konfrontation zu ziehen. Nicht nur diese zeichneten sich aber durch einen Hang zur Gewalt und zur Provokation aus. An Ort und Stelle marschierte die LDJ mit Baseballschlägern, Eisenstangen sowie mit Stühlen und Tischbeinen bewaffnet auf und skandierte etwa: Palestine, on t’encule, was so viel bedeutet wie: „Palästina, wir ficken dich in den A…“ Die Polizei trennte die Streitparteien mühsam.

In der darauffolgenden Periode wurde dies von konservativen oder sich auf die israelische Rechte beziehenden jüdischen Organisationen, wie dem seit 2001 scharf nach rechts gedrifteten Verband CRIF („Repräsentativrat der jüdischen Institutionen Frankreichs“), als angeblicher Angriff auf die gesamte jüdische Bevölkerung in Frankreich als solche dargestellt. In diesen Kreisen geht es auch darum, den stetigen Bezug auf den Staat Israel als vermeintliche alleinige Schutzmacht politisch immer wieder aufs Neue zu rechtfertigen. Vereinzelt ist sogar von „Pogromen“ die Rede, ein Sprachgebrauch, der den Begriff jeglichen Inhalts entleert – die Pogrome in Russland vor 1917 bedeuteten rund 60.000 Tote in eintausend Mordkampagnen, die Realität im heutigen Frankreich hat nicht im Entferntesten damit zu tun. Bislang handelt es sich bei den bisherigen Gewalttaten weitestgehend um die Zusammenstöße zwischen organisierten politisch-ideologischen Fraktionen.

Die Staatsmacht ihrerseits nutzte die Aufregung, die über die hässlichen Gewaltszenen am 13. Juli 14 entstand, um mehrere Demonstrationen zum Thema Gaza im Raum Paris gleich von vornherein mit einem Generalverbot zu belegen. So wurden Demonstrationen und Kundgebungen am 19. und am 26. Juli in Paris sowie am 20. Juli 14 in der Vorstadt Sarcelles präventiv verboten, obwohl die linken Veranstalter – unter anderem die französische KP und die NPA (Neue Antikapitalistische Partei) im letzteren Fall, die NPA und migrantische Verbände sowie die Gewerkschaft Solidaires in den ersten beiden Fällen – klargestellt hatten, dass sie nicht im Traum daran dächten, etwa in die Nähe einer Synagoge zu ziehen. Das Verbot wirkte aber erst recht als Magnet auf kleine Gruppen von Jungmännern, die zum Teil bewusst den Krawall suchten. In Sarcelles kam es dabei im Nachhinein sowohl zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit der LDJ, die vor der Synagoge aufmarschiert war, als auch zu Attacken auf teilweise jüdische Geschäfte und Plünderungen. Das Fehlen eines Ordnerdiensts, der bei verbotenen Demonstrationen nicht bereit gestellt werden kann, erleichterte diese Eskalation noch erheblich.

Die Antwort der Staatsmacht war eine brachiale gerichtliche Abrechnung, die allerdings nicht die Teilnehmer an Ausschreitungen oder Plünderungen traf, sondern Personen, die relativ zufällig herausgegriffen und allein wegen Teilnahme an einer verbotenen Demonstration angeklagt wurden. Deswegen, und wegen „Widerstands gegen die Staatsgewalt“ – wegen der Weigerung, sich festnehmen zu lassen – wurden am 21. und am 22. Juli 14 in Paris drei Demonstranten zu mehrmonatigen Haftstrafen verurteilt – auf Bewährung, dies jedoch gegen den Willen der Staatsanwaltschaft, der Haft ohne Bewährung und die sofortige Überführung ins Gefängnis ab Urteilsspruch forderte. Die Persönlichkeit der Angeklagten, darunter ein junger Ingenieur und Familienvater ohne Vorstrafen, ließ die Presse ihr Erstaunen über die Urteile aussprechen. Unterdessen forderte die konservative Opposition jedoch lautstark eine noch härtere Repression, und die Staatsanwalt legte Berufung gegen die „zu schlappen“ Urteile ein, sie will definitiv Haftstrafen ohne Bewährung verhängt sehen. Lediglich ein Kurde wurde freigesprochen, gegen die Strafforderung der Staatsanwaltschaft – er war wegen Tragens eines vermeintlichen Palästinensertuchs festgenommen worden. Es handelte sich jedoch um ein kurdisches Tuch, und der Angeklagte erklärte, aufgrund der Position des syrischen Regimes nicht mit Palästina solidarisch sein zu wollen.

Aufgrund des starken öffentlichen Drucks, und weil besonders die CGT Garantien für den Ordnerdienst gab, können nunmehr neue Demonstrationen auch in Paris wie an diesem Samstag, den 02. August stattfinden. (Nachträgliche Anmerkung. Es kamen zwischen 12.000 und 20.000 Menschen, laut polizeilichen respektive Veranstalter-Zahlen.) Die Unterstützer/innen Israels waren ihrerseits am Donnerstag Abend, den 31. Juli vom Verband CRIF zur Kundgebung vor der israelischen Botschaft aufgerufen; dazu kamen laut Polizeiangaben rund 4.500 Personen.

Editorische Hinweise

Den Text erhielten wir vom Autor für diese Ausgabe. Es handelt sich um eine Langfassung eines Artikels, der leicht gekürzt und redaktionell überarbeitet am Samstag, den 02. August 14 in der Tageszeitung ,Neues Deutschland' erschien.