Editorial
Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

von Karl Mueller

08/2015

trend
onlinezeitung

Wenn am 14. August die Fußball-Bundesligasaison 2015/16 beginnt, dann wird es bei Hundertausenden von Fans angesichts einer ersten Niederlage ihres Lieblingsvereins ganz im Sinne von Sepp Herberger wieder heißen:  "Nach dem Spiel ist vor dem Spiel". Ganz offensichtlich haben die Initiatoren des Mietenvolksentscheids (MVE) diese Fußballballweisheit sich auch zu eigen gemacht. Im Neuen Deutschland vom 30.7.2015 war nämlich zu lesen, dass die MVEler*nnen, deren Projekt aus formalen Gründen (Änderungsverbot des eingereichten Gesetzentwurfs) vor dem Scheitern steht, bereits die nächste Kampagne - sozusagen das Rückspiel - im Visier haben: "Für den Fall eines Scheiterns dieser Bemühungen gibt es auch einen Plan B: Ein neues, diesmal rechtlich absolut wasserdichtes Volksbegehren zur sozialen Wohnraumversorgung auf den Weg zu bringen."

Das formale Scheitern ist bitter, denn mensch schien auf dem eingeschlagenen Weg der Geheimhandlungen mit den einschlägigen Senatsverwaltungen voranzukommen, den MVE-Gesetzesentwurf so umzuschreiben, dass er 2016 als Grundlage einer zukünftigen Koalistionsvereinbarung zwischen "Rot-Rot-Grün" herhalten könnte.

Ein Beispiel für die wohnnungspolitischen Verhandlungserfolge mit dem Senat

Ursprüngliche Version "Geschlechtersensible Sprache durch Dopellnennung" wird ersetzt durch "Vorläufig angenommene Änderungsversion"

"...Um eine inklusive Sprache zu gewährleisten, wird an den männlichen Wortstamm ein Asterisk gesetzt, gefolgt von der weiblichen Endung. Sollte der Wortstamm neutral sein folgt zuerst der kürzere geschlechtsangebende Suffix, danach folgt der Asterisk, gefolgt von den Buchstaben die zur Angabe des männlichen oder weiblichen Geschlechts noch fehlen. Ist dies nicht möglich,wird erst die weibliche Form benannt, an die verbunden durch ein Asterisk die männliche Form direkt anschließt. Dies gilt auch für Begriffe mit einem Bezug zum Geschlecht von Personen oder Personengruppen innerhalb eines zusammengesetzten Wortes.

Die Worte werden wie folgt gesprochen:

Die*der Mieter*in, gesprochen: die – kurze Pause – der Mieter – kurze Pause – in; Der Mieter*innenrat; gesprochen: der Mieter – kurze Pause – innenrat."

Quelle: Dokumentation bewilligter sowie abgelehnter Präzisierungen und Änderungen am Wohnraumversorgungsgesetz (WoVG), S. 7f

Nun wird erstmal weiter verhandelt. Allerdings wurde beim Treffen von Mieter*innern-Inis am 28.7.15 beschlossen, jetzt direkt mit der SPD Verhandlungen aufzunehmen, um für das Projekt -2016 Wohnungspolitik einer "Rot-Rot-Grünen"-Regierung - weiter im Gespräch bleiben zu können. Doch die Luft ist raus. Wer möchte schon in klirrender Kälte im Januar/Februar 2016 auf Berliner Plätzen und Straßen Unterschriften für einen Gesetzesentwurf ohne Zukunft sammeln? Wie aus gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen zu vernehmen ist, wollen etliche Mietenbündnisse, dass der MVE in den nächsten Monaten sanft einschläft.

Für diese Tendenz sprechen auch erste inhaltlichen Absetzbewegungen von Linkspartei und Bündnisgrünen. Unter dem Schlagwort "Heuschreckensteuer" sollen deren Meinung nach laut Tagesspiegel  nun die Grunderwerbssteuern bei Erwerb von mehr als 50 Wohnungen hochgesetzt werden, um der Spekulation mit Wohnraum den Weg zu verstellen.

Obgleich sich der MVE gerade selber zu erledigen beginnt, bleibt die Auseinandersetzung mit diesem Gesetzentwurf weiterhin von politischer Bedeutung, da die politische Strategie, kapitalaffirmative Kampagnen zu inszenieren die vorgeben, auf parlamentarischen Weg Umverteilungen von oben nach unten zu erreichen, nicht aufgegeben wird.  Deswegen bleiben unsere beiden für August geplanten Veranstaltungen zum  Mietenvolksentscheid "Für die Armen gedacht, für die Reichen wie gemacht." nach wie vor aktuell und werden durchgeführt.

+++++++++++++++++++

Herbergers Fußballweisheit hat im politischen Raum nicht nur bei rot-rot-grünen Mietenbündnissen Gewicht, sondern auch in linksradikalen Nischen. So in etwa nachzulesen in den Kommentaren unseres Sonderthema: Zwei Jahre "NaO", wo z.B. Martin Suchanek von der Gruppe Arbeitermacht feststellt, dass die NaO nur "ein Mittel zum Zweck beim Aufbau einer größeren revolutionären Organisation" gewesen sei, also dass nach dem NaO-Spiel bereits das nächste in Planung gewesen sei. Daher: um im Bild zu bleiben:  Das Nao-Spiel ist aus -nun beginnt die "dritte Halbzeit": die Auswertung zur Vorbereitung auf das nächste Projekt / Spiel.

Für dieses Projekte-Hopping mit revolutionärer Attitude gibt es reichlich ideologisch verquere Wurzeln bei den beteiligten Akteur*innen. Eine davon ist ihr Reformismus-Begriff. In dem Artikel der "Arbeitermacht"-Genoss*innen Solid Revolutionäre Linke in [‘solid] heißt es dazu: "Reformismus ist pro-kapitalistische Politik in der ArbeiterInnenklasse". Zu dieser aberwitzigen Feststellung muss Rosa Luxemburgs Polit-Schrift "Sozialreform oder  Revolution" von 1899 herhalten, in der sie behauptet, dass der Kapitalismus in seinem Niedergang(?!) keine Spielräume für Reformen mehr hätte, die die Lebensbedingungen des Proletariats durch Einschränkungen der kapitalistischen Profite verbessern würden. Mal abgesehen davon, dass weniger Jahre später Lenin aufzeigen wird, dass es grundsätzlich im Imperialismus möglich sei, in den Metropolen Teile des Proletariats durch imperialistisch erzwungene Extraprofite besser zu stellen, so ging auch er von einem Kapitalismus im Niedergang aus.

"Kapitalismus im Niedergang" spielt in weiten Teilen der Linken - wie eben auch bei der Gruppe "Arbeitermacht" - die Rolle eines unverzichtbaren Theoriekompass, weil sie mit den Klassikertexten nur jesuitisch umgehen und daher ohne theoretisch eigenständige Untersuchungen der Klassenverhältnisse und heutigen Strukturen der kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsweise beim Politikmachen auskommen. Andererseit müssem sie als Revolutionär*innen beim Politikmachen immer auch bei den Kämpfenden sein. So haben sie neben ihrem revolutionären Wortgeklingel erstmal keine Probleme, im Gestalt der NaO an kapitalaffirmativen Bürger-Kampagnen - wie z.B. dem Mietenvolksentscheid - aktiv teilzunehmen. Wahrscheinlich werden sie schlussendlich erst in der "dritten Halbzeit" - also nach dem MVE-Spiel - die reformistischen Haare aus dieser Suppe ziehen.

+++++++++++++++++++

"Das Verhältnis von sozialer Reform zu sozialer Revolution spielt in meiner Theorie einer kommunistischen (politischen) Praxis eine besonders wichtige Rolle, und ich grenze mich damit sowohl gegen bloßen Reformismus ab, wie auch gegen weit verbreitetes revolutionäres Sektierertum." schreibt Robert Schlosser in seiner "Nachlese" zu seiner Veranstaltung bei translib.

Als maßgeblicher Mitautor des "Bochumer Programm", geht er nicht vom Kapitalismus im Niedergang oder in seinem letzten Stadium aus, sondern vertritt die Ansicht, dass der Kapitalismus in den hochentwickelten Ländern nach dem 2. Weltkrieg "manchen sozialen Fortschritt" gebracht hat, "der die Arbeits- und Lebensbedingungen der LohnarbeiterInnen spürbar verbesserte". Diese Einschätzung verändert folgerichtig sein Verständnis von proletarischer Reformpolitik:  Für Schlosser ist sie Feld und Ausdruck der sozialen Emanzipation, denn sie wird eben nicht ex cathedra als abstrakte programmatische Frage behandelt, sondern in ihr ist die "subjektiv-praktische Frage" zentral enthalten.

Meines Erachtens geht dies nur, wenn die Proletarier*innen  im eigenen sozialemanzipatorischen Interresse die wirklichen Akteur*innen ihrer "Reform"politik sind, wodurch die  "Aufhebung des Kapitalismus" zum kohärenten Bestandteil jener Politik wird. Weder in traditionellen Parteikonzepten noch in den Bürger-Kampagnen à la MVE ist dergleichen vorgesehen. Sie verkommen in einer sich endlos wiederholenden Kampagnenpolitik.

Zu dem reformpolitischen Ansatz, den Schlosser vertritt, gehört m.E. auch eine profunde Kenntnis der eigenen (sozialemanzipatorischen) Geschichte. Hier liegt bekanntlich auf Seiten der Kampagnenpolitiker*innen kein gesteigertes Erkenntnisinteresse vor. Dies zeigt sich z.Z. bei der  Behandlung und Bewertung der "Griechischen Frage". In dieser Ausgabe wollen wir diesbezügliche Geschichtslücken ein wenig schließen helfen, in dem wir auf die historischen Erfahrungen mit "Linksregierungen" verweisen. Und Frankreich der 1980er Jahre kam uns dabei nicht zufällig in den Sinn.

Wir wünschen trotz heißer Tage viel Spaß beim Lesen dieser Ausgabe am PC.

TREND(s) im Netz - hier die jüngsten Zahlen:

Die BesucherInnenzahlen vom Juli 2015, in Klammern 2014, 2013

  • Infopartisan gesamt: 152.266 (162.387, 121.601)
  • davon TREND: 101.491 ( 117.206, 80.852)

Diese Auswertung fasste alle Seitenaufrufe eines Besuchers,  gekennzeichnet durch seine IP-Adresse und seine Browserkennung, zu einem Besuch (unique visit) zusammen. Ein Besucher wurde nur gezählt, wenn er mindestens eine Page-Impression, d.h. eine vollständig geladene Seite mit dem Rückgabewert 200 oder 304, ohne Bestandteile wie Bilder und Dateien mit den Endungen .png, .jpg, jpeg, .gif, .swf, .css, .class oder .js auslöste. Liegen mehr als 30 Minuten zwischen den einzelnen Page-Impressions, so wird der Besucher mehrfach gezählt. Ein Besuch kann maximal 30 Minuten dauern.

Seitenaufrufe bei INFOPARTISAN gesamt im Juli  2015: 366.731
Seitenaufrufe bei TREND im Juli  2015: 224.985

2.019 BesucherInnen verbuchte die Agit 883 Seite.
Es wurden
 1.975 Ausgaben der Agit 883 aufgerufen
5.432 BesucherInnen besuchten das Rockarchiv
10.800
Seiten wurden im Rockarchiv abgerufen

Die am meisten gelesene Seite im Juli 2015 bei Infopartisan war:

Der am meisten gelesene TREND-Artikel im Juli 2015

Die am meisten gelesenen TREND-Artikel der 07/2015 im Juli 2015:

Weitere stark nachgefragte TREND-Artikel aus vorherigen Ausgaben im Juli 2015: