Bernard Schmid berichtet aus Frankreich

Geflüchtete in Frankreich
Besetzungen und Migrantenkämpfe im Pariser Stadtgebiet

08/2015

trend
onlinezeitung

Vorbemerkung
Der Artikel, der ursprünglich Mitte Juli 2015 in ,Antifaschistische Nachrichten’ erschien ist inzwischen insofern überholt, als die im nördlichen 18. Pariser Stadtbezirk campierenden Migranten am 29. Juli d.J. erneut polizeilich geräumt wurden, zum zehnten Mal seit dem 1. Juni 15 (vgl. http://www.mediapart.fr/ ) Seit dem 23. Juli angekündigt ist auch die Räumung des Camps am Austerlitz-Bahnhof, welche jedoch bislang (Stand: 31.07.15) nicht erfolgt ist. Ansonsten sind die Informationen noch von inhaltlichem Interesse; hofft wir zusammen mit dem Autor.

[Alle Vornamen wurden aus Sicherheitsgründen redaktionell abgeändert.] / red. trend

Die Hitze, die Müdigkeit, die Auswirkungen des Fastenmonats Ramadhan – für diejenigen, die ihn einhalten, was nicht alle (auch nicht alle muslimischen Migranten) tun – und die Frage nach Perspektiven beginnen, Einigen auf die Gemüter zu drücken. Seit einem Monat hält ein von einem Teil der Anwohnerschaft und Linken unterschiedlicher Schattierungen sowie Solidaritätsinitiativen begleitete und unterstützte Besetzung durch Migranten im Norden von Paris an. In der Nähe des Platzes Square Rosa Luxembourg, auf einem früheren Bahngelände, campieren mehrere Dutzend von ihnen unter freiem Himmel in einem Park. Ihre Matratzen sind tagsüber neben der angrenzenden Vaclav Havel-Bibliothek aufgetürmt. Ein zweites Camp von Geflüchteten befindet sich, ebenfalls seit mehreren Wochen, auf der Höhe des Austerlitz-Bahnhofs im Zentrum von Paris, in der Nähe der Quais zur Seine hin. In beiden Fällen kommen die Migranten, und weniger zahlreichen Migrantinnen, mehrheitlich aus dem Sudan und vom Horn Afrikas: Eritrea und Somalia.

Anders als beim Austerlitz-Bahnhof im 13. Bezirk wurden die Besetenden und ihre UnterstützerInnen am Rosa Luxemburg-Square, im 18. Pariser Stadtbezirk, bislang nicht mit offen rassistischen Anfeindungen konfrontiert. Am 26. Juni 15 hatten dort in den Abendstunden rund dreißig Anhänger des Bloc identitaire – einer außerparlamentarischen rechtsextremen Aktivistengruppe, mit Querverbindungen zur Wahlpartei Front National – eine Stärkedemonstration zelebriert. Sie marschierten drohend auf, entrollten ein Transparent mit der Aufschrift « Geht nach Hause ! » und warfen Böller auf die umherstehenden Zelte. Angesichts der Reaktionsbereitschaft der anwesenden UnterstützerInnen zogen sie dann allerdings, ganz « mutige », eilends das Weite. Ihre Vorführung hatten sie ja bereits absolviert, und kurz darauf bekannten sie sich im Internet mit einem Kommuniqué zu ihrer Großtat.

Im Pariser Norden liegt der Ort der Besetzung an einer weniger zentralen Stelle im Stadtbild. Bis vor wenigen Jahren war dieses Wohngebiet sogar weitgehend sozial ghettoisiert. « Fünfzehn Jahre lang haben wir dafür gekämpft, dass nicht ausschließlich Sozialwohnungen und noch mehr Sozialwohnungen hier entstehen, während eine kulturelle und bildungspolitische Wüste drumherum herrscht », erzählt die Stadtteilaktivistin Sabrina, eine gebürtige Tunesierin. Sie zählt zu den aktiven Unterstützerinnen der Migranten, die den anliegenden Park besetzen. Tagelang verbringt sie bei ihrem Camp, hilft in der improvisierten Küche aus und übersetzt Arabisch für die Sudanesen unter ihnen. « Dass die Bibliothek, eine Sporthalle und eine Mittelstufenschule hier auf dem Gelände entstanden, als die Eisenbahngesellschaft SNCF es in den 2000er Jahren aufgab, ist unserer jahrelangen Anwohner/innen/mobilisierung zu verdanken. Aber jetzt kämpfen wir dagegen, dass die von uns gewünschte und geförderte kulturelle Aufwertung des Stadtteils im Nebeneffekt zu einer Gentrifizierung und einer Mietexplosion zu führen droht. Er muss für Menschen unterschiedlicher sozialer Lage erschwinglich bleiben. »

Auch die neu nach Europa geflüchteten Migranten gehören in ihren Augen unbedingt dazu. Sudanesisches Leben gibt es in dem Stadtteil im übrigen schon langer, in der Nähe des Parks befindet sich ein kleines sudanesisches Restaurant. Jetzt im Ramadan ist es nu ram Abend geöffnet. Die Speisekarte ist auf Arabisch. Die Betreiber lassen ihre Landsleute ihr schweres Gepäck, mit dem sie die lange Reise über das Mittelmeer angetreten sind, diskret in ihrem Land unterbringen und leisten ihnen auch sonst Unterstützung. Nicht alle AnwohnerInnen sehen die Dinge jedoch so. Moussa, ein etwa fünfzigjähriger Franzose mit tunesischen Wurzeln und arabischer Sprachlehrer, kritisiert die Anwesenheit der Migranten etwa. « In Frankreich gibt es eine hohe Arbeitslosigkeit, wir können nicht alle Welt aufnehmen. Und wir Anwohner sind langsam genervt von den Hygieneproblemen, die das offene Camp für unser Viertel mit sich bringt », legt er los. « Mitte Juni hätte ich beinahe den Anfang meines Unterrichts verpasst, weil die Straße fast eine halbe Stunde lang blockiert war. »

An diesem Tag hatten die Unterstützer/innen demonstriert, es war der 16. Juni 15, und die Bereitschaftspolizei CRS hatte einen Großteil des Viertels präventiv abgeriegelt. Die Pariser sozialdemokratische Bürgermeisterin Anne Hidalgo hatte insistiert, dass es keine neuen Besetzungsversuche geben dürfe.

Camp unter der Hochbahn geräumt

Zuvor waren in den frühen Morgenstunden des 09. Juni d.J. über 200 Flüchtlinge geräumt worden, die seit Wochen, zum Teil seit Monaten unter der Métrobrücke – unter der Hochbahn der Pariser Métro - an der Station La Chapelle campiert hatten. Ein « Schandfleck », befand die offizielle Politik, der es jedoch zunächst nicht in den Sinn kam, den Menschen eine andere Unterbringungsperspektive anzubieten. Ein Teil von ihnen waren Geflüchtete, die im Asylverfahren steckten, denen jedoch beschieden worden war, es sei im Heimsystem für Asylsuchende schlicht kein Platz. Andere wollen lieber auf die britischen Inseln weiterreisen, als einen Asylantrag in Frankreich zu stellen. Oder der französische Staat fordert von ihnen, dass sie ihren Flüchtlingsstatus nach dem Dublin-Abkommen in jenem EU-Land beantragen, über den sie zuerst einreisten. Etwa über Ungarn, ein Land, über das sich viele Geflüchtete wegen rassistischer Behandlung und ebenfalls fehlender Unterbringung bitter beklagen und wohin sie auf keinen Fall zurückmöchten.

Infolge der Aktivität von Unterstützer/inne/n gab die Regierung scheinbar nach und verschaffte den Migranten von La Chapelle vordergründig Linderung. Man versprach ihnen Unterbringung – doch es handelte sich um Notunterkünfte in Obdachlosenheimen, die jeweils nur für eine Nacht zugeteilt wurden. Offensichtlich ging es nur darum, « das Problem » nicht konzentriert an einer Stelle zu haben, sondern die Betroffenen über viele Punkte zu verteilen. « Zerstreuen wir die Flüchtlinge », merkte ein Karikaturist der Pariser Zeitung Le Monde dazu in einer seiner berühmten Pinguinkarikaturen an. Gegenfrage : « Aber wohin ? » Antwort : « Na, irgendwohin, wo man sie danach wieder einfach zerstreuen kann. »

Daraufhin kam es zu neuen Besetzungsversuchen: in einem Park in der Nähe von La Chapelle (dem ,Bois Dormoy') am 09. und 10. Juni, dann in einer Feuerwehrkaserne (am 11. Juni) und anderswo(1), die z.T. brutal geräumt wurden wie im Falle der Feuerwehrkaserne von Châeau-Landon im zehnten Pariser Bezirk.

In der Folgezeit versprachen die Behörden dann aber unbefristete Unterbringung für 227 Menschen und Hilfe beim Stellen von Asylanträgen. Ein Viertel der Betroffenen wurde jedoch einer Unterkunft zugeteilt, von der aus man einen direkten Blick auf den Stacheldraht des Abschiebegefängnisses von Vincennes hat. Sie flohen schleunigst und kamen in den 18. Bezirk zurück, wo sich weitere Flüchtlinge aufhielten, die nicht auf den Listen standen, etwa weil sie bei der offiziellen Zählung der 227 gerade nicht anwesend waren, sondern im Krankenhaus, bei Einkäufen oder anderswo. Sie halten heute die Besetzung aufrecht.

Kriegszustände als Fluchtgrund

Sabrina erzählt, dass sie die Lebensgeschichten der Geflüchteten fast alle einzeln kennt. Viele von ihnen hat sie selbst übersetzt, etwa für künftige Asylverfahren ? « Fast alle, die hier sind, flohen vor Kriegen, etwa in der sudanesischen Westprovinz Darfur. » Einer der Migranten hat im Übrigen gerade ein farbenprächtiges Bild gemalt. Auf ihm sieht man stilisierte Behausungen im traditionellen sudanesischen Stil. Einen Drachen, der Konflikte symbolisiert, und einen Kanal, der an einem ausgetrockneten und toten Baum vorbeiführt. Das Wasser aus dem Kanal ist auf dem Bild umgeleitet, die Linie mündet in einem Wasserhahn, der – erklärt der Maler – zu einem regierungsnahen Großgrundbesitzer gehört. Wer nicht zum Kreis der Begünstigten gehörte, ging leer aus. Wer sich zur Wehr setzte, wurde mit Gewalt ruhig gestellt. Bewaffnete Konflikte zwischen Ackernbauern, Viehzüchtern und Regierungsmilizen eskalierten.

Für viele der Migranten führte der Weg allerdings nicht direkt nach Europa, sondern zunächst nach Libyen. Bis vor wenigen Jahren war dort für Menschen aus vielen Ländern Afrikas noch Arbeit zu finden. Auch, weil unter dem alten Regime von Muammar al-Gaddafi oft die Auffassung galt, dass körperliche Arbeit tunlichst nichts für Libyer sei, so lange die Öleinnahmen vom Staat abgeschöpft wurden und die Migration anhielt. Doch der seit 2011 immer wieder aufflammende Kriegszustand vertrieb die Menschen erneut, dieses Mal aus Libyen.

Youssouf dagegen ist selbst ein libyscher Staatsbürger. Mit seiner dunkelschwarzen Hautfarbe und seiner Strickmütze in den panafrikanischen Farben rot, gelb und grün würde man ihn eher für einen Westafrikaner halten. Doch er kommt aus Sebha, einer Oasenstadt im Süden Libyens, wo Schwarze seit Jahrhunderten ansässig sind. « Libyen war für mich in Paradies », meint er, « Nicolas Sarkozy hat unser Paradies zerstört. Damals hatten wir Arbeit und Einkommen, heute ist überall Krieg. » Über die Rolle des alten libyschen Regimes (welches man dabei wohl nicht unkritisiert lassen sollte) zu diskutieren, ist ein anderes Mal Zeit, das muss heute nicht sein. Wir bewundern Youssoufs Sprachfertigkeit. Er ist erst seit drei Monaten in Europa und sprach in Libyen nur Arabisch, doch heute verständigt er sich überall auf Französisch. Ende Juni nahmen Unterstützer ihn mit zu einer linken Veranstaltung in der Bidassoa-Turnhalle, die von der Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) organisiert worden war und den Migranten Rederecht einräumte. Die anderen beiden wurden übersetzt, aber Youssouf trug gleich auf Französisch vor.

Manche der UnterstützerInnen gehören politischen Organisationen an, wie der NPA, der « Linksfront » (einem Zusammenschluss aus französischer KP und Jean-Luc Mélenchons Linkspartei) oder anarchokommunistischen Gruppen. Viele sind zum autonomen Spektrum zu rechnen. Allgemein herrscht jedoch eher ein Misstrauen gegenüber organisierten Strukturen vor.

Angesichts der nunmehr bereits mehrwöchigen Dauer des Camps nehmen die Spannungen unter der Hand zu, da sich die Frage nach den weiteren Perspektiven stellt. Eher linksradikale Kräfte werfen etwa der französischen KP vor, zu sehr auf Verhandlungen zu setzen; manche (nicht alle) von deren Vertreter/inne/n stecken sicherlich in einer sehr institutionellen Logik, da die KP im sozialdemokratisch geführten Pariser Rathaus mitregiert und mehrere Beisitzer stellt. Einige ihrer Repräsentanten neigen deswegen dazu, über Zahlen von Einzelschicksalen iN Verhandlungen zu feilschen (so und so viele Unterbringungsplätze statt so und so viel,...), anstatt sich auf das Stellen globalerer Forderungen einzulassen. Umgekehrt wird manchen den Linksradikalen, vor allem aus dem autonomen Bereich, von manchen Unterstützer/inne/n unverantwortliches Handeln vorgeworfen. So wird behauptet, einige Unterstützer hätten Migranten zugeraten, falsche Angaben zu ihrer Person zu machen – was in einem gewissen Spektrum einen üblichen Umgang mit Personalienfeststellungen darstellt, aber in einem Asylverfahren tödlich sein kann...

Eine andere Grundfrage durchzieht das Unterstützerspektrum quer durch. Einige drängen unterdessen darauf, das Leben im Camp besser zu organisieren, was zum Teil sogar erstaunlich gut funktioniert. Es gibt Französischunterricht in der Bibliothek, die täglich eine Raum dafür zur Verfügung stellt, Übersetzergruppen, einen Ausschuss für psychologische Betreuung – geleitet von einer Berufspsychologin – und eine quasi rund um die Uhr funktionierende Küche. Und inzwischen auch Theaterunterricht. Ein französischer Unterstützer ist « Metroticket-Beauftragter », andere wechseln sich bei der Begleitung zu Arzt- oder Krankenhausbesuchen ab. Wenn sich Gewitter über Paris ankündigen wie an diesem Sonntag (05. Juli), wird das vorübergehende Wegräumen sämtlichen unter freiem Himmel befindlichen Materials aus dem Camp organisiert.

Dennoch tauchen immer wieder Probleme auf. Es kommt zu Streitigkeiten im Camp, vor dem Hintergrund wachsender Nervosität der Migranten. Aber auch, weil manche Landsleute sie ausgespäht haben und in die Netzwerke von Prostitution oder andere Machenschafte hinein ziehen möchte – Flüchtlinge, die durch die so genannten Schlepperorganisationen signalisiert wurden, gelten dabei als gefundene Opfer. Ein Eritreer wurde bei einer nächtlichen Messerstecherei erheblich verletzt (vorübergehend behauptete ein Gerücht sogar fälschlich, er sei tot).

Ein Flüchtling signalisiert daraufhin bei der Vollversammlung von Migranten und Unterstützer/inne/n, es fehle ihnen bislang noch an ausreichender Erfahrung mit Selbstorganisation, da in einem Land wie dem Sudan (infolge von Jahrzehnten unter Militärdiktaturen mit und ohne islamistische Beteiligung) an eine solche nicht zu denken sei.

Manche Unterstützer/inn/en drängen deshalb auf bessere Organisation im Camp. Andere wenden ein, dies bedeute, sich darin einzurichten, wo doch klar sei, dass das Übernachten im Park nicht von längerer Dauer sein könne. Stattdessen müsse man durch stärkere politische Aktionen und Besetzungsversuche den Druck auf die Regierung erhöhen. Letztere scheint sich aber darauf einzustellen, die Situation « auszusitzen » und während des Sommerlochs – das in Paris einen weitgehenden Stillstand des politischen Lebens bedeutet – sich selbst zu überlassen. Lediglich Besetzungsversuche außerhalb des als sozialer Brennpunkt ein- und abgestuften Stadtteils sollen unterbunden werden. Alle Demonstrationen der Geflüchteten oder ihrer Unterstützer/innen werden deswegen seit Mitte Juni von einem riesigen Polizeiaufgebot und Spalier auf beiden Seiten begleitet (was in Paris vollkommen unüblich ist) - wie etwa anlässlich der Demo vom Samstag, dem 20. Juni 15, an dem die Griechenland-Solidarität und die Demonstration von Migranten und Unterstützer/inne/n zu einem einheitlichen Protestzug zusammenflossen (knapp 10,000 Menschen), mit ständiger Polizeipräsenz auf beiden Seiten.

Ein Versuch einer Demonstration am Donnerstag, den 02, Juli von der rue Pajol aus wurde von polizeilicher Seite damit begleitet, dass die nähere Umgebung hermetisch abgeriegelt und die Flüchtlinge an seinem Verlassen gehindert wurden. (Allerdings soll das besonders starke Polizeiaufgebot an dem Tag auch damit zusammenhängen, dass es zuvor zu einem Zusammenstoß zwischen einigen Jugendlichen und der Polizei im Viertel gekommen war.) « Erst sollten sie nicht hierher und den Raum besetzen », kommentiert ein Unterstützer sarkastisch, « aber jetzt sollen sie bitte bitte hier bleiben und nur nicht woanders hin ».