Kritik der Bewußtseins-Stadien-Theorie – Probleme des Entrismus
Neun kurze Thesen aus einem 19 Seiten-Papier

von DGS_TaP und systemcrash

08/2015

trend
onlinezeitung

Am 6.8.2015 fand in Frankfurt/Main eine Veranstaltung mit Daniel Behruzi von der SAV sowie Mitgliedern der Interventionistischen Linken (IL), der Antifa Kritik und Klassenkampf und der Gruppe Arbeitermacht (GAM) zum Thema „Was ist eine linke, politische Organisation?“ statt; einen Audio-Mitschnitt gibt es dort: http://platypus1917.org/?powerpress_pinw=22543-podcast.

Daniel Behruzi vertrat dort u.a. die These: „das Bewußtsein der Massen durchläuft eher Stadien – reformistisches Bewußtsein, linksreformistisches, zentristisches Bewußtsein – und findet jeweils auch einen bestimmten organisatorischen Ausdruck in Form von Parteien, Strömungen, politisch Organisationen. Und in diesem Sinne würden wir jeden Schritt, der in Richtung Aufbau von unabhängigen Klassenorganisationen geht, begrüßen und auch unterstützen.“

Mit dieser These begründete er den Linkspartei-Entrismus der SAV und den Entrismus von Schwesterorganisationen der SAV in ähnlichen Formationen in anderen Ländern.

Wir möchten dem folgende Anti-Thesen entgegensetzen:


These 1

Klassenunabhängigkeit setzt das Bewußtsein voraus, daß die Lohnabhängigen vom Kapital völlig verschiedene Interessen haben und sich daher sowohl organisatorisch als auch pro­grammatisch/politisch unabhängig von allen bürgerlichen Parteien, Institutionen und Ideologien ‚bündeln’ müssen. Diese Einsicht ist also selbst schon Bestandteil revolutionärer Programmatik und Organisierung und bei reformistischen und linksreformistischen Organisation per defintionem gerade nicht vorhanden.

These 2

Eine politische Organisation im leninistischen Sinne ist per definitionem (im Gegensatz zu Ge­werkschaften, die für bessere Verkaufsbedingungen für die Waren Arbeitskraft – also im Rahmen des Lohnarbeits-Kapital-Verhältnisses kämpfen) eine Organisation, die die „unversöhnliche Ge­gensätzlichkeit ihrer Interessen zu dem gesamten gegenwärtigen politischen und sozialen Sys­tem“ (LW 5, 385) artikuliert. Ginge es nicht gerade um diesen Unterschied, so wäre es nur konse­quent, das syndikalistische Konzept einer politisch-gewerkschaftlichen Einheitsorganisation zu vertreten.

These 3

Bei unserer Kritik an Entrismus geht es nicht um Fragen der moralischen oder hygienischen Reinheit, sondern um Fragen der politischen Effektivität.

These 4

Unser Alternativvorschlag zu Entrismus ist Aktionseinheitspolitik. Auch in diesem Rahmen kann (und zwar besser, nämlich ohne die Zwänge, die mit Entrismus verbunden sind [s. These 5.) mit Mitgliedern und AnhängerInnen reformistischer Großorganisationen ins Gespräch gekommen und versucht werden, diese von revolutionären Positionen zu überzeugen.

These 5

Entrismus hat nahezu sichere Mißerfolgsaussichten: Er endet in der Regel mit Austritt oder Aus­schluß (Daniel in FfM: „Wir haben nicht die Hoffnung, daß die Linke insgesamt als Partei zu einer revolutionären Partei werden könnte.“). Warum dann also überhaupt erst mitmachen – und warum zumal sie (mehr oder minder) von Anfang an mit aufbauen?! Hinzukommt noch: Nicht nur die Erfolgsaussichten des Entrismus sind gering, es ist darüber hinaus unter Umständen auch noch ein hoher Preis für ihn zu zahlen:

a) Es bestehen größere Schwierigkeit (als bei eigenständiger Organisierung + Bündnispolitik), die programmatische Unabhängigkeit zu wahren. Es gibt Grenzen dessen, was in einer reformistis­chen Großorganisation gesagt werden kann/darf – und zwar zumal, wenn es nicht nur gesagt, sondern dem Gesagten auch zugehört werden soll.

b) Entrismus geht auch oft mit reduzierter eigener Sichtbarkeit einher. So machen SAV-Genos­sInnen oftmals Aktionen mit Linkspartei/[’solid]-Fahnen/-Logo statt SAV-Fahnen/Logo.

c) Außerdem steht eine – zumal kleine – revolutionäre Minderheit in einer von ReformistInnen und GradualistInnen dominierten Partei ständig vor der verheerenden Alternative

  • entweder eine aufreibende Feuerpolitik zu betreiben (Abwehr der jeweils neuesten Vorstöße des anderen Parteiflügels, die Programmatik noch weiter nach rechts zu verschieben und Ab­wehr von Alleingängen von dessen VertreterInnen, die sich an die wenigen relativ linken Be­schlüsse der Partei nicht halten; ein Krieg von Anträgen, Presseerklärungen und Sondersit­zungen)

  • oder aber den anderen Flügel der Partei kampflos machen lassen, was er will und so die Au­ßendarstellung der Partei zu dominieren.


These 6

Es war niemals Trotzkis Vorstellung, über einen langen Zeitraum Entrismus in einer reformisti­schen (Massen)partei zu machen.

These 7

Es ist (empirisch) nicht zutreffend, daß sich Politisierungs- und Radikalisierungsprozesse im Mas­senbewußtsein immer zunächst zugunsten reformistischer Großorganisationen auswirken. Viel­mehr zeigen die Beispiele PS in Frankreich 1968 ff., PS und PASOK 1974 ff. in Portugal und Griechenland, daß auch ziemlich kleine Parteien, die sich mit einer zeitweise ausgesprochen ra­dikalen Rhetorik profilieren, von solchen Prozessen profitieren.

These 8

Anders als Alan Woods – einer der Gründungsväter der internationalen Strömung, zu der die SAV noch heute gehört – meint, ist es nicht so, daß der „Klassenkampf selbst […] unausweichlich […] ein sozialistisches Bewusstsein“ schafft. Es genauso unzutreffend, wenn die SAV in ihrem Grund­satzprogramm sagt, „Es sind in allererster Linie die Verhältnisse im niedergehenden Kapitalismus selbst [...] die das Bewusstsein verändern. […]. Durch Serien von verallgemeinerten Klassen­kämpfen wird sich wieder sozialistisches Bewusstsein entwickeln. “ (S. 18 – unsere Hv.)

Vielmehr führt „die spontane Entwicklung der Arbeiterbewegung [...] zu ihrer Unterordnung unter die bürgerliche Ideologie“ – und zwar aus „dem einfachen Grunde, weil die bürgerliche Ideologie ihrer Herkunft nach viel älter ist als die sozialistische, weil sie vielseitiger entwickelt ist, weil sie über unvergleichlich mehr Mittel der Verbreitung verfügt.“ (LW 5, 396, 397 Hv. i.O.)

These 9

Es ist auch nicht zutreffend, daß jeder dieser Bewußtseins-Stufen genauso „unausweichlich“ ein bestimmter organisatorischer „Ausdruck“ entspricht. Wie sich Massenbewusstsein organisator­isch niederschlägt, hängt vielmehr u.a. davon ab,

  • reformistischen Parteien die Regierung stellen, wie lange sie das schon tun und ob damit noch Hoffnungen oder schon Enttäuschungen verbunden sind“

  • und „ob für die Arbeiter/innen außerhalb der reformistischen Parteien relevante radikalere Kräfte sichtbar sind“ (S. 4 bzw. 29).

Editorische Hinweise

Wir erhielten die Thesen von den Verfasser*innen für diese Ausgabe. Die Langfassung wird z.Z. von ihnen redaktionell überarbeitet und erscheint danach in der Septemberausgabe von TREND.