"Finanzkapital"? - Welches "Finanzkapital"
Vorwort zum Arbeitsmanuskript 7: Wertgesetz und "Finanzkapital"

von Robert Schlosser

08/2016

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Vorbemerkung: Robert Schlosser referierte Anfang Juli 2016 im Berliner Mehringhof auf dem Tagesseminar des "Kosmoprolet" in Berlin "Über das »Finanzkapital« und seine Kritiker". Basis seiner Einlassungen war sein Arbeitsmanuskript 7: Wertgesetz und "Finanzkapital", woraus er einen Extrakt für dieses Seminar formuliert hatte. Das Arbeitsmanuskript 7 stammt aus seinem Buchprojekt, wodurch er dazu beitragen will, dass "es zu grundlegenden Veränderungen in der „radikalen Linken“ kommt – theoretisch und praktisch". Das Buchprojekt  richtet sich an "Interessierte, die bereit sind, ein paar grundlegende Dinge noch einmal neu zu überdenken."

Wir veröffentlichen das Vorwort als erneuten Hinweis auf und Anregung für sein Buchprojekt,  weil wir damit zeigen wollen, wohin sich Robert Schlosser ideologisch entwickelt hat, nachdem er uns als langjähriger TREND-Autor wegen Theoriefragen im Zusammenhang mit der Organisations- und Programmdebatte um das NaO-Projekt verlassen hatte.

Wir enthalten uns zum vorliegenden Text bewußt jeder Stellungnahme und übertragen diese Aufgabe, so es dafür Interesse gibt, unseren Leser*innen.
 

Alle Wissenschaft wäre überflüssig, wenn die Erscheinungsform und das Wesen der Dinge unmittelbar zusammenfielen ... K. Marx, Kapital III, MEW 25, 825.

Vorwort oder: „Finanzkapital"? - Welches „Finanzkapital"

In allen 3 Bänden des Marxschen Kapital taucht der Begriff „Finanzkapital" nicht ein einziges Mal auf. Wer die MEW 23-25 als pdf-Dateien hat, wird bei einer Suche nach dem Begriff nicht fündig. Zentrale Kategorien der marxschen Kapitaltheorie sind: Geldkapital, zinsstragendes Kapital und fiktives Kapital. Im Zusammenhang damit steht seine Beschäftigung mit dem Bankkapital. Wenn heute von der gewachsenen Größe und Bedeutung des „Finanzkapitals" die Rede ist, dann bezieht sich das - soweit Empirie dabei Berücksichtigung findet - auf den sogenannten „Finanzsektor". Zu dem gehören aber nicht nur die Banken, sondern auch die Versicherungen und diverse Fonds.

Auf der Homepage der Frankfurter IHK kann man Folgendes nachlesen:

Die Versicherungswirtschaft ist - neben den Banken und Sparkassen - die zweite bedeutende Säule der Finanzwirtschaft. Die volkswirtschaftliche Bedeutung von Risikoabsicherung und das Zur-Verfügung-Stellen von Kapital sind zwischen beiden Branchen gleichwertig." http://www.frankfurt-main.ihk.de/finanzplatz/versicherung/index.html

(Wer Näheres über die volkswirtschaftliche Bedeutung der Versicherungen erfahren will, kann sich in dieser Studie kundig machen: Die Bedeutung der Versicherungswirtschaft für den Wirtschaftsstandort
Deutschland

Zu den Funktionen der Geldakkumulation gehört also auch die Risikoabsicherung. Es müssen Reservefonds gebildet werden, um Stockungen und Störungen des Akkumulationsprozesses überstehen zu können. Das findet bei Marx auch schon Erwähnung, aber ein ausgedehntes Versicherungswesen gab es zu seinen Lebzeiten noch nicht.

Diese Risikoabsicherung wird in der „Realwirtschaft" immer wichtiger, je tiefer die menschlichen Eingriffe in die Natur werden und je länger die Produktionsketten und je komplexer die Technologien, mit denen produziert wird. Die Risiken wachsen ferner „systembedingt", sofern die möglichst große Verwertung von Wert die Rücksichtslosigkeit der Eingriffe in Natur und Arbeitsprozess verlangt. Man versucht sich abzusichern gegen Wertverlust, der aus Störungen und Unterbrechungen des technischen Arbeitsprozesses, entsteht.

Treibsatz des Versicherungswesens ist das der „RealWirtschaft" entspringende Bedürfnis nach Risikoabsicherung und die Kaufkraft, die für Versicherungen aufgebracht wird. Für die Risikoabsicherung gilt also grundsätzlich das Gleiche, wie für „das Zur-Verfügung-Stellen von Kapital" (Geld, das als Kapital fungieren soll). Grundlegender Treibsatz für die Ausdehnung des Kredits ist der Bedarf aus der „Realwirtschaft". Die Kreditgeber können auf den Umfang der Nachfrage überhaupt nur insofern Einfluss nehmen, als sie den Kredit teuer oder billig anbieten. Auf die Entstehung des grundlegenden Bedarfs haben sie keinen Einfluss. Das schon mal vorab zur Frage der „finanzmarktgetriebenen Kapitalakkumulation". Die erste und grundlegende Abhängigkeit besteht darin, dass die Akkumulation des „wirklichen Kapitals" der Treibsatz für die Akkumulation des „Finanzkapitals" ist. (Ich komme darauf später wieder zurück.)

Das bei den Versicherungen konzentrierte Geld, stammt ebenfalls, wie bei den Banken, aus Anteilen des Profits und Anteilen der Lohneinkommen. Ihr ganzes Geschäft beruht auf diesen Einnahmen, dem Verkauf ihrer Dienstleistung an Kapital und Lohnarbeit. Sie sind in erster Instanz vollständig abhängig von diesen Profit- und Lohneinkommen, also der Entwicklung der „Realwirtschaft", ohne die sie ihr Geschäft gar nicht erst beginnen können.

Versicherungen versichern gegen Risiken; sind aber auch etwa in der Form der Lebensversicherung „Sparbücher". Auch sie können nur dann einen Profit machen, wenn sicher gestellt ist, dass ihre Auszahlungen im Versicherungsfall nicht die Einnahmen übersteigen. Dafür müssen sie selbst nicht nur mit allen möglichen Wahrscheinlichkeitsmöglichkeiten kalkulieren, sondern ebenfalls Reserven bilden, indem sie das Geld anlegen. Sie sind einer der großen Nachfrager nach zinstragenden „Wertpapieren".(1)

In der Größe und Bedeutung der Versicherungen drücken sich die Veränderungen aus, die beide Seiten betreffen Lohnarbeit und Kapital

Gesetzliche Versicherungen wie Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Rentversicherungen ... all das gab es zu Marx Lebzeiten nicht.

Private Versicherungen: KFZ-Versicherungen, Rechtsschutzversicherungen, Haftpflichtversicherungen, Hausratsversicherungen etc., die von Lohnarbeiterinnen in Anspruch genommen werden, wofür sie Teile ihres Lohnes ausgeben. Auch das gab es nicht zu Marx Lebzeiten. Aus diesen Gründen spielt die Behandlung der Versicherungen keine Rolle in der marxschen Kapitalanalyse.

Ja, auch Lohnarbeiterinnen betreiben private „Risikoabsicherung". Allein in diesen privaten Versicherungen und dem Umfang, indem sie in hoch entwickelten kapitalistischen Ländern wahrgenommen werden, drückt sich aus, dass diese Lohnarbeiterinnen heute mehr zu verlieren haben, als ihre Ketten. Hätten sie nichts zu verlieren, könnten sie nichts versichern und brauchten sie auch nichts zu versichern. Es gäbe kein Verlustrisiko, wie eben zu Marx Lebzeiten.

Doch darüber liest man schon mal gar nix, wenn es um die gewachsene Bedeutung „des Finanzkapitals", die Veränderungen des Kapitalismus geht. Man versucht allenthalben Marx da zu verbessern, wo es nichts zu verbessern gibt: nämlich in Bezug auf die grundlegende, allgemeine Arbeitswert- und Kapitaltheorie. Wollte man heute wirklich eine „Theorie des Finanzkapitals" entwickeln, dann müsste der ganze „Finanzsektor" - also Banken, Versicherungen, Fonds -analysiert werden, um herausarbeiten zu können, welche Funktionen des Geldkapitals in der besonderen Geschäften dieser Kapitalsorten im Kontext der Reproduktion des gesellschaftlichen Gesamtkapitals, wahrgenommen werden. Das ließe sich aus meiner Sicht sehr wohl auf der Basis der marxschen Theorie Arbeitswert- und Kapitaltheorie bewerkstelligen und wäre so ein wichtiger Beitrag dazu, sich Veränderungen der kapitalistischen Produktionsweise zu stellen. Mir selbst fehlt dazu die Kraft und möglicherweise auch die Fähigkeit. Weil ich eine solche Analyse nirgends sehe, weil alle Auseinandersetzung mit und Kritik am „Finanzkapital" immer auf Kritik der Banken hinausläuft und weil ich die überlieferte Theorie vom „Finanzkapital" (Hilferding/Lenin) theoretisch grundsätzlich für falsch und empirisch für widerlegt halte, darum werde ich in diesem Arbeitsmanuskript den Begriff „Finanzkapital" in Anführungszeichen setzen.

Ich sehe die wesentlichen Veränderungen, die die kapitalistische Produktionsweise erfahren hat, in ganz anderen Punkten als die Mehrheit der Autoren, die ich zu diesem Thema gelesen habe. Das, was zumeist als neue Qualität des „Finanzmarktkapitalismus" etc. behauptet wird, bestreite ich. Bei meinen Recherchen der letzten Jahre, ist mir kein einziger Beitrag aufgefallen, der auch nur die Frage stellt, ob sich vor dem „Gründerkrach" von 1873 oder dem Börsencrash von 1929 ähnliches abgespielt hat, wie vor der „Finanzkrise", die 2008 die Gemüter erschreckte. Nur wenige - wie Günther Sandleben - haben sich auch nur die Frage gestellt, inwieweit sich in den „Besonderheiten" nach den 1970er Jahren und der „Finanzkrise" die allgemeinen Gesetzmäßig­keiten der Kapitalakkumulation ausdrücken. Stets wird - in noch dazu meist ungenügender Weise - die Zeit zwischen 1945 und 1975 als Vergleichsmaßstab herangezogen, wenn man das Neue und Besondere zu unterstreichen gedenkt. Der einzige mir bekannte Autor, der diese Zeit zwischen 1945 und 1975 - die sogenannte „trente glorieux" als „Ausnahme" bezeichnet und die Zeit danach als „Rückkehr des Kapitals", ist Thomas Piketty.

Ich will zeigen, dass

  • die sogenannte „Finanzialisierung" die Kapitalakkumulation schon seit Langem begleitetet - in immer wieder neuen Formen sich erweiternd - und mit der Akkumulation des „wirklichen Kapitals" zunehmen muss

  • es dabei zu „Übertreibungen" kommen muss, deren Grundlage letztlich die Verselbst-ständigung des Tauschwertes der Waren im Geld zugrunde liegen und die „Finanzkrise" diese „Übertreibungen" korrigiert

  • die tatsächlich produzierte und produzierbare Wert- und Mehrwertmasse, sich als Schranke erweisen, für die vermeintlich davon unabhängige „Verwertung" des „Finanz­kapitals"

  • das „Finanzkapital" also nicht über dem Wertgesetz steht, sondern selbst davon beherrscht wird, auch dann, wenn es mit Waren handelt, denen die Arbeitszeit als „immanentes Wertmaß" (Marx) fehlt.

Bei meinen Ausführungen werde ich mich nicht ausführlicher mit theoretischen Positionen auseinandersetzen, die ich für falsch halte. Ausgewählte theoretisch begründete Positionen (Zitate), dienen mir lediglich als Aufhänger für die Darstellung meiner vorläufigen Ergebnisse. Wenn ich diese ausgewählten Zitate polemisch - ja manchmal genervt - kommentiere, dann liegt das einzig an dem Belehrungsanspruch, mit dem bestimmte Positionen vorgetragen werden. Denn reichlich Grund zur Diskussion gibt es allemal. Solange aber innerhalb der radikalen Linken lauter Diskutanten auftreten, die sich gegenseitig belehren wollen, weil angeblich alles klar, alles Nötige gesagt sei, man sich bestimmten empirisch offensichtlichen, großen Veränderungen nicht wirklich stellt, kann man die Diskussion vergessen. Sie führt zu nix. Und solange das so ist, blamieren wir uns alle, so gut wir können. Was mich betrifft, so schreibe ich meine Arbeitsmanuskripte nicht mit dem Anspruch, frei von Irrtümern zu sein und alles Nötige zu den angesprochenen Fragen zu sagen. Ich werde aber auch weiterhin darum bemüht sein, auf diese empirisch konstatierbaren Veränderungen hinzuweisen und gleichzeitig deren Analyse auf Basis der marxschen Arbeitswert-und Kapitaltheorie einfordern.

Anmerkungen

1) In diesem Text werde ich nicht nur den Begriff des „Finanzkapitals" in Anführungszeichen setzen, sondern auch den Begriff „Wertpapier". Im Unterschied zu den als Waren produzierten Produktions- und Konsumtionsmitteln, sind weder das Notenbankgeld noch diese „Wertpapiere" selbst „wertvoll". Die zu ihrer Produktion notwendige Arbeitszeit ist nicht „immanentes Wertmaß" (Marx) dieser Waren. Soweit diese „Wertpapiere" auf dem Finanzmarkt gehandelt werden, kann also ihr Preis auch nicht um ihren Wert schwanken. Nimmt man die marxsche Unterscheidung von Wert und Tauschwert ernst, nutzt sie für die Kapitalanalyse, dann sind diese „Wertpapiere" tatsächlich nur Tauschwertpapiere, Waren mit einem besonderen Gebrauchswert. Dieser Gebrauchswert besteht im Anspruch auf Anteil am Mehrwert. Die Preise zu denen dieses Waren gehandelt werden bestehen zu einem großen Teil aus Spekulation auf künftige Mehrwertproduktion. Ob und in welchem Maße diese Ansprüche eingelöst werden können, hängt davon ab, wie sich die Akkumulation des „wirklichen Kapitals" entwickelt. Entwicklung der Arbeitsproduktivität berührt also den Tauschwert dieser „Wertpapiere" unmittelbar gar nicht. Wert und Mehrwert können sich ihnen gegenüber nur Geltung verschaffen als eine sozusagen äußere Schranke, die ihre verselbständigte Bewegung bricht.

Editorische Hinweise:

Wir übernahmen den Text von der Website des Autors.
http://www.robert-schlosser.de/Web_Buchprojekt/Start.htm