Enttäuschung, Ärger
und Wut – das sind die gängigen Reaktionen in
südhessischen Streikbetrieben auf den
Tarifabschluss für den Einzelhandel in
Baden-Württemberg vom 27. Juli 2017. Nein, so
reagieren nicht jene, die in Tarifrunden
üblicherweise eine „anständige“ Lohnerhöhung für
sich einstreichen möchten, ohne selbst etwas
Erkennbares dafür getan zu haben. Solche Äußerungen
kommen von Beschäftigten, die mit viel Phantasie
und Überzeugungswillen eine Tarifrunde vorbereiten,
mit ihren Kolleginnen und Kollegen daran arbeiten,
dass es zu deren Verständnis führt, ja sogar zu
ihrer eigenen Meinung wird, nicht bloß abzuwarten,
ob und was am Verhandlungstisch zu erreichen ist.
Sie engagieren sich mit einem hohen Einsatz an
Kraft, Schwung und Ausdauer für begleitende
Bewegung und unterstützende Aktionen sowie Streiks,
damit die Tarifrunde in den Unternehmen und in der
Öffentlichkeit sichtbar, spürbar und „ausbaufähig“
ist und bleibt.
Der
baden-württembergische Tarifabschluss mit einer
24-monatigen Laufzeit, Erhöhungen der Gehälter und
Löhne im ersten Jahr um 2,3 Prozent mit zwei
Nullmonaten, im zweiten Jahr um weitere 2,0
Prozent, eine gleiche Anhebung der
Ausbildungsvergütungen (aufgerundet auf die
nächsten 5 Euro) sowie einer Einmalzahlung am Ende
des ersten Jahres von 50 Euro (Teilzeitbeschäftigte
anteilig, Azubis die Hälfte) wird von kämpfenden
Beschäftigten sicher nicht „verachtet“. Denn sie
wissen, wie schwer es ist, die eigenen Kolleginnen
und Kollegen zu mehr als einem Dutzend einzelner
Streiktage zu motivieren. Sie erleben im „eigenen“
Betrieb, wie sich in aller Regel nur eine kämpfende
Minderheit an Streiks beteiligt und wieviel
Engagement manchmal notwendig ist, selbst diese
Überzeugten immer und immer wieder vor den Laden
oder zu einer Aktion zu bringen.
Ihnen muss niemand
erzählen, dass solche Kampfbedingungen kein
Ausdruck von Stärke, sondern von Schwäche der
ver.di im Einzelhandel ist. Da diese aber nicht
plötzlich vom „Himmel“ fiel, werden sich manche
sicher fragen, warum darin gerade in dieser
Tarifrunde die angeblich entscheidende Ursache
dafür gesehen und öffentlich dargestellt wird,
„dass das ursprüngliche Ziel in absehbarer Zeit mit
den zur Verfügung stehenden Arbeitskampfmitteln
nicht zu erreichen ist “ (Bernhard Franke,
baden-württembergischer ver.di
Landesfachbereichsleiter Handel und
Verhandlungsführer für den Einzelhandel, Interview
in „junge Welt“ vom 29. Juli 2017). Denn die
Tarifforderungen in Baden-Württemberg zeigten trotz
der bekannten Schwäche sehr üppig gesteckte Ziele:
6 Prozent mehr Gehalt, monatlich 100 Euro höhere
Ausbildungsvergütungen in jedem Lehrjahr, ein
tariflicher Mindestlohn von 1.900 Euro,
Allgemeinverbindlicherklärung der
Einzelhandelstarifverträge. Wer solche Größen
ernsthaft erreichen will, muss seine Kraft vorher
richtig einzuschätzen versuchen – oder gerät in
Gefahr, als „Schwätzer“ eingestuft zu werden, weil
die Chancen zur Durchsetzung der Forderungen von
vornherein als äußerst gering einzustufen sind.
Wenn Letzteres zuträfe, dann wären die angestrebten
und verkündeten Tarifziele reine Augenwischerei und
ihr Wert für die Mobilisierung der Beschäftigten
gleich null.
Wer mit Ernst und
Aufrichtigkeit an die Aufstellung und ans
„Verankern“ der Tarifforderungen in den
Belegschaften ging, der konnte in diesem Jahr in
Hessen sehr Erfreuliches feststellen. Dabei wissen
alle aktiv Beteiligten und bestimmt auch die
wohlwollend Beobachtenden, dass die „Entscheidung“
für eine Gehalts- und Lohnrunde wohl kaum in diesem
Tarifgebiet fallen wird, da die Kampfkraft –
ehrlich betrachtet – in den letzten Jahren zwar
wuchs, aber sich bei der Anzahl weder der
Streikenden noch der in den Arbeitskampf
einbezogenen Unternehmen mit Baden-Württemberg,
Bayern oder Nordrhein-Westfalen „messen“ kann.
Gleichwohl hat die hessische Tarifkommission für
den Einzelhandel mit Bedacht enorm ehrgeizige
Forderungen beschlossen: einen Euro mehr
Stundenlohn, das wäre in der untersten Gehaltsstufe
eine Steigerung von knapp 10 Prozent, in der
obersten von knapp 4 Prozent;
Ausbildungsvergütungen von 1.000 Euro im ersten bis
1.200 Euro im dritten Lehrjahr;
allgemeinverbindliche Branchentarifverträge.
Wie in
Baden-Württemberg waren dies auch in Hessen hohe
Ziele, die aber Beschäftigte im hessischen
Einzelhandel tatsächlich motivierten und auch
mobilisierten. Insbesondere die mit dem geforderten
Festbetrag verbundene soziale Komponente, die
verhältnismäßig größere Anhebung der unteren
Gehaltsgruppen gegenüber den höheren, machten sich
viele Streikende zu eigen und gab ihrem
persönlichen Einsatz sowohl Richtung als auch
Entschlossenheit. Das zeigte sich ganz deutlich bei
den Tarifverhandlungen: Die ver.di-Kommission wurde
immer wieder angehalten, sich von der
Ein-Euro-Forderung nicht abbringen zu lassen.
Selbst der Tarifabschluss für den Groß- und
Außenhandel in Hessen am 12. Juni mit einer
linearen Steigerung von 2,5 Prozent im ersten Jahr
nach drei Nullmonaten ließ die Beschäftigten des
Einzelhandels in ihrer Entscheidung für einen
Festbetrag nicht schwanken. Gleiches galt für das
Ziel allgemein geltender Branchentarifverträge.
Hierdurch fühlten sich insbesondere die
Belegschaften von Karstadt und Real angesprochen,
in einer für sie aktuell nicht wirksamen Gehalts-
und Lohnrunde zu streiken. In Hessen waren die
Ziele also ein ganz wesentlicher Bestandteil der
Werbung in den Betrieben für eine aktive und
ausdauernde Unterstützung der gewerkschaftlichen
Aktivitäten.
Wohl kaum ein/e
Streikende/r hätte sich hier „träumen“ lassen, dass
bereits am 27. Juli wie in Baden- Württemberg die
Ansicht vertreten werden könnte, „die Tarifrunde
jetzt zu beenden, statt einen monatelangen
unkalkulierbaren Konflikt auszutragen“ (Bernhard
Franke, s.o.). Mehr noch: Es wäre als überheblich
und belehrend empfunden worden, sich einerseits zu
rühmen, immer „hart und entschlossen“ für die
eigenen Forderungen zu kämpfen, andererseits aber
zu behaupten, ohne bundesweite Verständigung für
ein Tarifgebiet allein, aber damit faktisch für
alle anderen festlegen zu dürfen, wann die
Tarifrunde „zum richtigen Zeitpunkt [zu] beenden“
sei (Bernhard Franke, s.o.). Denn niemand wird
ernsthaft glauben, dass derart erfahrene
Tarifpolitiker und Streikende wie in
Baden-Württemberg nicht ahnen oder gar wissen
konnten, welche Folgen ihr Tarifabschluss für die
bundesweite Tarifbewegung zwangsläufig haben würde.
Vielmehr waren sie sich der dadurch ausgelösten
Konsequenzen, aber ebenso der hervorgerufenen
Kritik sehr bewusst. Und dennoch entschieden sich
die ver.di-Verhandlungs- und später auch die
Tarifkommission für diesen ebenso politisch
weitreichenden Schritt.
Auch wenn
anschließend übertrieben stark betont wurde, es
handele sich um keinen „Pilotabschluss“, so war
doch ohne hellseherische Fähigkeiten
vorausschaubar, was zwangsläufig eintreten müsste:
Die Unternehmer des Einzelhandels täten
selbstverständlich alles ihnen Mögliche, damit es
in anderen Bundesländern zu keiner Verbesserung
gegenüber dem baden-württembergischen Tarifergebnis
käme. Denn bekanntlich sind sie nicht nur sehr
straff organisiert, sondern wichen bereits bei den
Verhandlungen in keinem Tarifgebiet von ihrer
vorgegebenen Linie ab, bevor sie sich nicht
bundesweit neu abgestimmt hatten. Deshalb war jetzt
zu erwarten, dass die Unternehmen
- schon mal
"vorab" den Tarifabschluss aus Baden-Württemberg
in allen Bundesländern zur sofortigen Erhöhung
der Gehälter um 2,3 % nutzen würden, so dass alle
Streikenden unter enormen Druck gerieten, den
Arbeitskampf fortzuführen;
- die
ausstehenden Tarifverhandlungen "in die Länge
ziehen" und bei Ablehnung des
baden-württembergischen Abschlusses sogar mit
einem geringeren Angebot (weniger Prozentpunkte
oder mehr Nullmonate) drohen könnten, um die
übrigen ver.di- Landesbezirke zum Beenden der
Verhandlungen zu zwingen;
- das Ergebnis in
Baden- Württemberg faktisch als "Pilotabschluss"
öffentlich und betrieblich verkündeten, so dass
ver.di auf jeden Fall in Erklärungsnot geraten
würde, warum die Arbeitskämpfe weitergeführt
werden, obwohl doch die angeblich "Vernünftigen"
erkannt hätten, wo die "Schmerzgrenze" für die
Unternehmen läge und deshalb "schweren Herzens",
aber eben mit "Weitsicht" das Angebot angenommen
hätten.
Ein Weitermachen
in Hessen wie bisher würde also die Gefahr
vergrößern, dass am Ende des Arbeitskampfes kein
besseres, vielleicht sogar ein schlechteres
Ergebnis als in Baden- Württemberg stehen könnte.
Denn mit diesem Tarifabschluss war ein
entscheidendes Glied der Kette der
Handlungsfähigkeit durchgeschlagen, das trotz der
tatsächlichen oder vermeintlichen Schwäche der
ver.di im Einzelhandel häufig beachtliche
Erfolgsaussichten verspricht und selbst hohe Ziele
verwirklichen lässt: ein bundesweit einheitliches
und unter allen Verantwortlichen der Tarifgebiete
abgestimmtes Vorgehen mit entwicklungsfähiger
gegenseitiger Unterstützung durch gleichzeitige
Streiks auch an den unterschiedlichen
Verhandlungstagen der Tarifgebiete. Diese nicht zu
unterschätzende Kraft gezielt mit Phantasie,
Schwung und Ausdauer bei den betrieblichen und
öffentlichen Aktionen verbunden, machte die
fehlende „Masse“ bei der Beteiligung an Streiks oft
mehr als wett. Beispielsweise 2013, als der von den
Unternehmern gekündigte Manteltarifvertrag für den
hessischen Einzelhandel zurückerkämpft werden
musste. Und gerade in diesem Jahr blickten die
Beschäftigten besonders interessiert über den
hessischen „Tellerrand“ aufs Ganze, das heißt auf
alle übrigen Tarifverhandlungen, die begleitenden
Aktionen und die dortigen Ergebnisse. Diese
Solidarität hätte nicht nur weiter ausgebaut,
sondern bei einem bundesweit abgestimmten Vorgehen
auch in einer vielleicht neuen Qualität produktiv
genutzt werden können.
Deshalb ist
verständlich, weshalb der baden-württembergische
Tarifabschluss in hessischen Streikbetrieben mit
einem verärgerten „Geht’s noch?!“ quittiert wurde.
Darin zeigte sich die berechtigte Empörung sowohl
über das Ergebnis, aber mehr noch über den dortigen
Alleingang. Die Gewerkschaftssekretärinnen in
Hessen sahen sich durch die veränderte Situation
jedenfalls gezwungen, den Mitgliedern der
hessischen Tarifkommission Einzelhandel und den
ver.di-Vertrauensleuten in den Streikbetrieben zu
empfehlen, „wie in Nordrhein-Westfalen, die
Tarifverhandlungen für Hessen am 12. September auf
der Grundlage des baden-württembergischen
Abschlusses zu führen“. Soll diese kämpferische
Tarifrunde aber dann so „still und heimlich“ zu
Ende gehen? Oder muss etwas geschehen, damit sich
das gerade Erlebte in Zukunft nicht wiederholt?
Klar dürfte sein:
Ein einheitliches Auftreten und koordiniertes
Handeln lässt sich nicht durch ein „Machtwort“
verordnen, das in die regionale Autonomie der
Tarifpolitik eingreift oder diese aushebelt.
Gleiches gilt für hier und dort geforderte
„Konsequenzen“, durch die Personen oder Gremien
„abgestraft“ werden, weil sie politische Absprachen
für sich nicht für verbindlich hielten. Unter
demokratischen Verhältnissen einer Gewerkschaft
sollten notwendige Schlussfolgerungen in einer
offenen und beherzten, aber solidarischen
Diskussion so erarbeitet werden, dass alle davon
überzeugt sind und sich dafür verantwortlich
fühlen, nicht mehr allein, sondern gemeinsam
festzulegen, wann ein Ergebnis für möglichst alle
tragfähig und der Zeitpunkt zur Beendigung einer
Tarifrunde (oder welche andere Auseinandersetzung
auch immer) tatsächlich richtig ist. Was für die
Unternehmer im Handelsverband wohl aufgrund der
bestehenden Macht- und Leitungsstrukturen
selbstverständlich ist, müsste doch auch in ver.di
unter demokratischen Bedingungen möglich,
vielleicht sogar erreichbar sein: eine bundesweite
Koordination, auf deren Einhaltung sich
Verhandelnde und Kämpfende bewusst verständigen und
sich dazu auch selbst verpflichtet fühlen.
Quelle:
https://handel-hessen.verdi.de (21.8.2017) |